Über Hoffnung. Über Versöhnung. Über Leben
Nach zwei Jahrzehnten kehren die Brüder Benjamin, Pierre und Nils zum Ort ihrer Kindheit - ein Holzhaus am See - zurück, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Eine Reise durch die raue, unberührte Natur wie auch durch die Zeit. Im Kampf um die Liebe der Mutter, die abweisend und grob, dann wieder beinahe zärtlich war, haben die Jungen sich damals aufgerieben bis zur Erschöpfung. Heute fühlen sie sich so weit voneinander entfernt, dass es kein Aufeinanderzu mehr zu geben scheint. Und doch ist da dieser Rest Hoffnung, den Riss in der Welt zu kitten, wenn sie sich noch einmal gemeinsam in die Vergangenheit vorwagen.
Nach zwei Jahrzehnten kehren die Brüder Benjamin, Pierre und Nils zum Ort ihrer Kindheit - ein Holzhaus am See - zurück, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Eine Reise durch die raue, unberührte Natur wie auch durch die Zeit. Im Kampf um die Liebe der Mutter, die abweisend und grob, dann wieder beinahe zärtlich war, haben die Jungen sich damals aufgerieben bis zur Erschöpfung. Heute fühlen sie sich so weit voneinander entfernt, dass es kein Aufeinanderzu mehr zu geben scheint. Und doch ist da dieser Rest Hoffnung, den Riss in der Welt zu kitten, wenn sie sich noch einmal gemeinsam in die Vergangenheit vorwagen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Werner Bartens wundert sich, dass es kein großes dunkles Geheimnis gibt in Alex Schulmans Roman über drei Brüder und ihre emotional unbeholfenen Eltern. Was die Brüder zornig macht, Argwohn und Zwietracht sät, scheint laut Bartens verborgen, weil es kein punktuelles Ereignis ist, sondern das Grauen des Alltäglichen. So düster der Text Bartens erscheint, so großartig funktioniert er für ihn als Familienroman, so intensiv findet er ihn in seinen Nuancen, seiner Lakonie und seinen Bildern, die die Unfähigkeit der Eltern und den Schmerz und die Angst der Kinder vermitteln.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2021Ab in dein Zimmer
Die andere Seite der schwedischen Idylle: In seinem Romandebüt „Die Überlebenden“ erzählt Alex Schulman von einer
durchschnittlich dysfunktionalen Familie. Die Wucht und die Nuancen der Gefühle, die er erzeugt, sind atemberaubend
VON WERNER BARTENS
Die Silberbirken, deren Blätter sich im Vollmond entzünden, bis der Funkenregen über dem Zauberwald niedergeht. Das Landhaus mit dem sonnengebleichten roten Holz und den weißen Giebeln, zu dem nur eine vom Gras überwucherte Traktorspur führt. Der See, blank und still, scharfkantige Steine am Ufer, über die der Vater mit den schwitzenden Jungen ins Wasser stolpert, nachdem sie im Saunahäuschen gewesen sind. Es ist angerichtet für das schwedische Idyll, sinnlich und farbensatt und mit einer fast aufdringlichen Naturkulisse.
Doch wärmend, wohltuend oder gar unbeschwert ist wenig in Alex Schulmans erstem Roman „Die Überlebenden“. Da sind die Brüder Pierre, Benjamin und Nils, zu Beginn sieben, neun und 13 Jahre alt, die in einem zweiten Handlungsstrang viele Jahre später als Erwachsene gezeigt werden. Zu dieser Zeit ist der Vater schon seit ein paar Jahren tot, jetzt sind die Brüder zusammengekommen, um die Asche der Mutter im See zu verstreuen. In Rückblenden scheint das auf, was gemeinhin als Kindheit verklärt wird; im Wechsel dazu läuft rückläufig der Tag der Bestattung ab, inklusive der Ungeheuerlichkeit, dass die Mutter nicht neben dem Vater begraben sein will.
Die Brüder sind sich in ihrer Kindheit nah und vertraut, können einander aber nicht trauen. Plötzlich bricht Pierres Jähzorn aus und er prügelt in blinder Wut um sich. Benjamin fühlt sich in höchster Not im Stich gelassen, und Nils wartet nur darauf, dass er ein weiteres Mal von den anderen bloßgestellt wird. Sie mögen einander, doch sie beargwöhnen einander, denn wirklich verlassen können sie sich aufeinander nicht. Nur manchmal gibt es eine Verbrüderung, aber dafür ist die Enttäuschung beim nächsten Mal umso größer. Kleiner Verrat und großer Hohn lauern überall.
Die Eltern machen es leider nicht besser. Die Kinder sind sich ihrer selbst nicht sicher und suchen Halt, den sie aber weder bei Vater noch Mutter finden. Die Eltern sind nicht wirklich böse, obwohl: gelegentlich schon, eher wirken sie durchschnittlich unzulänglich. Die Kinder tragen zu dünne Jacken und merken kaum noch, dass sie ständig frieren. Im Jugendlager haben sie als Einzige keinen Schlafsack dabei. Dreckige Fingernägel mögen ja noch zu Jungen eines bestimmten Alters passen, aber es ist ein wohlmeinender Lehrer, der einen der Jungs auf seinen Körpergeruch aufmerksam machen muss. Verwahrlosung im gut gepolsterten Sozialstaat hat viele Seiten. Nicht nur das Haus, auch die Menschen darin sind schmutzig, stellen die Brüder irgendwann erschrocken fest.
Vater und Mutter sind wahlweise zu sehr mit sich beschäftigt, um fürsorglich zu sein, oder sie können ihre Zuneigung selten zeigen, und wenn doch, nicht richtig dosieren. Sie verwechseln unsinnige Strafaktionen mit pädagogischer Konsequenz, zu viel Alkohol spielt oft eine Rolle, dann wird der Vater wahllos grob, die Mutter muss sich hinlegen. Die Brüder wünschen sich Liebe und Anerkennung, bekommen stattdessen jedoch die Aufforderung, zum Wettschwimmen im viel zu kalten See gegeneinander anzutreten, oder einen Rüffel, weil sie nicht den richtigen Ton getroffen haben, obwohl sie etwas Freundliches gemeint hatten. Ständig droht der Tod durch Unterkühlung.
Vater und Mutter sind emotional schwer unbeholfen. Beide lähmt eine große Trägheit des Gefühls, eine Unachtsamkeit für die anderen, sodass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nur selten erfüllen. Herzenswärme gehört nicht zu den Fähigkeiten der Eltern, Versöhnung ist selten vorgesehen, aber immerhin vergessen sie schnell – bis schon die nächste kleine Gemeinheit droht. Die Mutter ist manchmal unberechenbar hart, „aber nicht klar“ und weist die Blumen ab, die ihnen die Kinder gerade überreichen wollten. „Uns hast du schon lange vergessen“, wird einer der Brüder ihr erst als Erwachsener vorhalten. Der Vater ist gelegentlich bemüht, aber oft stumpf und hilflos.
Irgendetwas scheint auch zwischen den Eltern nicht zu stimmen. Benjamin entgeht keineswegs, wie seine Mutter fast unmerklich aus Ekel den Mund verzieht, als der Vater die schon fast kalte Schwarte des Bratens von ihrem zum Abräumen bereiten Teller stibitzt oder in Unterhose durch das Haus läuft, um die Bügelfalten der Anzughose nicht zu gefährden. Grob? Vielleicht. Versteckte Hinweise gibt es überall. Aber was soll der Vater auch anderes machen, als den Wagenheber zu nehmen, nachdem er versehentlich das Elchkalb auf der Straße angefahren hat? Auf der Rückfahrt weint er hemmungslos.
Das klingt alles düster und dunkel und ist es teilweise auch. Doch Alex Schulman „Die Überlebenden“ ist ein großartiger Familienroman, intensiv und mit einem enormen Sog. Er legt die Unfähigkeit der Erwachsenen wie die Ängste der Kinder in allen Nuancen offen, ihre ungestillten Sehnsüchte wie ihre mal spielerische, mal unerbittliche Konkurrenz.
Und trotzdem verrät er seine Figuren nicht, zeigt zwar nicht große Sympathien, aber immerhin erhebliches Verständnis für die Eltern, die irgendwie vor sich hin wursteln, vielleicht mal anders wollten, denen jetzt aber Kraft und Anstrengung fehlen, sodass sie immer wieder vor den alltäglichen Abgründen zu scheitern drohen. Den drei Brüdern ist der Autor sowieso zugeneigt, wie sie ihre Eltern bedingungslos lieben, schroff abgewiesen werden, in ihren Gefühlskäfigen vor sich hin leben und manchmal wehklagend gegen die Gitter schlagen oder wütend dagegenrennen.
Das rohe Leben ist mit großer Feinheit beschrieben, lakonisch in der Sprache, doch gleichzeitig findet Schulman traumwandlerische Bilder für diese überbordende Wucht, mit der sich der Schmerz der Ablehnung plötzlich im Hirn breitzumachen beginnt, mit der die Furcht den ganzen Körper erfasst, bis alles erstarrt.
Es ist eine Art magisch-skandinavischer Realismus, mit dem der Autor die eingeschüchterten Jungen unter übermächtigen Baumkronen beschreibt, ihre Furcht, im Wald zu versinken, und diese in jede Gliedmaße kriechende Angst im nassen Erdkeller oder dem sonst so beschaulichen See, der fast zum kühlen Grab für die Wettschwimmer wird. Selten ist so eindrucksvoll gezeigt worden, wie unendlich verloren sich ein Kind fühlen kann, wenn es die falsche Richtung genommen hat.
Ängste können in der Vorstellung übermächtig werden, und Fantasie und Realität verschwimmen manchmal zu geradezu psychedelischen Sprachbildern, die jeder sofort wiedererkennen wird, der sich jemals fasertief gefürchtet hat. Die Beschreibungen entfalten einen Sog, die Geschichten dieser so dysfunktionalen und gleichzeitig so normalen Familie sind psychologisch feinsinnig verknüpft, und allzeit droht eine neue Gefahr. Oder auch nur der Ruf zum Abendessen.
Irgendwo muss es doch ein düsteres Geheimnis geben, das diese Familie fürs Leben gezeichnet hat. Was ist mit uns geschehen, fragt einer der Brüder. Woher kommt diese Zerrissenheit? Aber das macht gerade Schulmans Kunst aus, dass er dem Alltäglichen beiläufig so viel Grauen abgewinnen kann und damit die abschüssigen Geröllhalden der menschlichen Seele freilegt.
Denn da ist kein Geheimnis und das ist eine der verstörenden Überraschungen dieses großartigen Buches. Obwohl: Am Ende gibt es doch das Angebot, ein Familiengeheimnis aufzulösen. Ist das nun die traurige Wahrheit oder rutscht die Mutter gar in den Wahn ab? Ach was, ab in dein Zimmer. Das Kind übertreibt mal wieder in seinen Fantasiewelten.
Die Eltern können ihre
Zuneigung selten zeigen und
dann nicht richtig dosieren
Schulmans Kunst: dass er
dem Alltäglichen so viel
Grauen abgewinnen kann
Eingeschüchtert
in der Weite schwedischer
Birkenwälder:
Alex Schulman findet in
seinem Roman feine Bilder
für die Ängste seiner
Figuren.
Foto: Rachel Annie Bell/Cavan
Images/mauritius
Alex Schulman:
Die Überlebenden.
Roman. Aus dem
Schwedischen von
Hanna Granz.
dtv, München 2021.
302 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die andere Seite der schwedischen Idylle: In seinem Romandebüt „Die Überlebenden“ erzählt Alex Schulman von einer
durchschnittlich dysfunktionalen Familie. Die Wucht und die Nuancen der Gefühle, die er erzeugt, sind atemberaubend
VON WERNER BARTENS
Die Silberbirken, deren Blätter sich im Vollmond entzünden, bis der Funkenregen über dem Zauberwald niedergeht. Das Landhaus mit dem sonnengebleichten roten Holz und den weißen Giebeln, zu dem nur eine vom Gras überwucherte Traktorspur führt. Der See, blank und still, scharfkantige Steine am Ufer, über die der Vater mit den schwitzenden Jungen ins Wasser stolpert, nachdem sie im Saunahäuschen gewesen sind. Es ist angerichtet für das schwedische Idyll, sinnlich und farbensatt und mit einer fast aufdringlichen Naturkulisse.
Doch wärmend, wohltuend oder gar unbeschwert ist wenig in Alex Schulmans erstem Roman „Die Überlebenden“. Da sind die Brüder Pierre, Benjamin und Nils, zu Beginn sieben, neun und 13 Jahre alt, die in einem zweiten Handlungsstrang viele Jahre später als Erwachsene gezeigt werden. Zu dieser Zeit ist der Vater schon seit ein paar Jahren tot, jetzt sind die Brüder zusammengekommen, um die Asche der Mutter im See zu verstreuen. In Rückblenden scheint das auf, was gemeinhin als Kindheit verklärt wird; im Wechsel dazu läuft rückläufig der Tag der Bestattung ab, inklusive der Ungeheuerlichkeit, dass die Mutter nicht neben dem Vater begraben sein will.
Die Brüder sind sich in ihrer Kindheit nah und vertraut, können einander aber nicht trauen. Plötzlich bricht Pierres Jähzorn aus und er prügelt in blinder Wut um sich. Benjamin fühlt sich in höchster Not im Stich gelassen, und Nils wartet nur darauf, dass er ein weiteres Mal von den anderen bloßgestellt wird. Sie mögen einander, doch sie beargwöhnen einander, denn wirklich verlassen können sie sich aufeinander nicht. Nur manchmal gibt es eine Verbrüderung, aber dafür ist die Enttäuschung beim nächsten Mal umso größer. Kleiner Verrat und großer Hohn lauern überall.
Die Eltern machen es leider nicht besser. Die Kinder sind sich ihrer selbst nicht sicher und suchen Halt, den sie aber weder bei Vater noch Mutter finden. Die Eltern sind nicht wirklich böse, obwohl: gelegentlich schon, eher wirken sie durchschnittlich unzulänglich. Die Kinder tragen zu dünne Jacken und merken kaum noch, dass sie ständig frieren. Im Jugendlager haben sie als Einzige keinen Schlafsack dabei. Dreckige Fingernägel mögen ja noch zu Jungen eines bestimmten Alters passen, aber es ist ein wohlmeinender Lehrer, der einen der Jungs auf seinen Körpergeruch aufmerksam machen muss. Verwahrlosung im gut gepolsterten Sozialstaat hat viele Seiten. Nicht nur das Haus, auch die Menschen darin sind schmutzig, stellen die Brüder irgendwann erschrocken fest.
Vater und Mutter sind wahlweise zu sehr mit sich beschäftigt, um fürsorglich zu sein, oder sie können ihre Zuneigung selten zeigen, und wenn doch, nicht richtig dosieren. Sie verwechseln unsinnige Strafaktionen mit pädagogischer Konsequenz, zu viel Alkohol spielt oft eine Rolle, dann wird der Vater wahllos grob, die Mutter muss sich hinlegen. Die Brüder wünschen sich Liebe und Anerkennung, bekommen stattdessen jedoch die Aufforderung, zum Wettschwimmen im viel zu kalten See gegeneinander anzutreten, oder einen Rüffel, weil sie nicht den richtigen Ton getroffen haben, obwohl sie etwas Freundliches gemeint hatten. Ständig droht der Tod durch Unterkühlung.
Vater und Mutter sind emotional schwer unbeholfen. Beide lähmt eine große Trägheit des Gefühls, eine Unachtsamkeit für die anderen, sodass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nur selten erfüllen. Herzenswärme gehört nicht zu den Fähigkeiten der Eltern, Versöhnung ist selten vorgesehen, aber immerhin vergessen sie schnell – bis schon die nächste kleine Gemeinheit droht. Die Mutter ist manchmal unberechenbar hart, „aber nicht klar“ und weist die Blumen ab, die ihnen die Kinder gerade überreichen wollten. „Uns hast du schon lange vergessen“, wird einer der Brüder ihr erst als Erwachsener vorhalten. Der Vater ist gelegentlich bemüht, aber oft stumpf und hilflos.
Irgendetwas scheint auch zwischen den Eltern nicht zu stimmen. Benjamin entgeht keineswegs, wie seine Mutter fast unmerklich aus Ekel den Mund verzieht, als der Vater die schon fast kalte Schwarte des Bratens von ihrem zum Abräumen bereiten Teller stibitzt oder in Unterhose durch das Haus läuft, um die Bügelfalten der Anzughose nicht zu gefährden. Grob? Vielleicht. Versteckte Hinweise gibt es überall. Aber was soll der Vater auch anderes machen, als den Wagenheber zu nehmen, nachdem er versehentlich das Elchkalb auf der Straße angefahren hat? Auf der Rückfahrt weint er hemmungslos.
Das klingt alles düster und dunkel und ist es teilweise auch. Doch Alex Schulman „Die Überlebenden“ ist ein großartiger Familienroman, intensiv und mit einem enormen Sog. Er legt die Unfähigkeit der Erwachsenen wie die Ängste der Kinder in allen Nuancen offen, ihre ungestillten Sehnsüchte wie ihre mal spielerische, mal unerbittliche Konkurrenz.
Und trotzdem verrät er seine Figuren nicht, zeigt zwar nicht große Sympathien, aber immerhin erhebliches Verständnis für die Eltern, die irgendwie vor sich hin wursteln, vielleicht mal anders wollten, denen jetzt aber Kraft und Anstrengung fehlen, sodass sie immer wieder vor den alltäglichen Abgründen zu scheitern drohen. Den drei Brüdern ist der Autor sowieso zugeneigt, wie sie ihre Eltern bedingungslos lieben, schroff abgewiesen werden, in ihren Gefühlskäfigen vor sich hin leben und manchmal wehklagend gegen die Gitter schlagen oder wütend dagegenrennen.
Das rohe Leben ist mit großer Feinheit beschrieben, lakonisch in der Sprache, doch gleichzeitig findet Schulman traumwandlerische Bilder für diese überbordende Wucht, mit der sich der Schmerz der Ablehnung plötzlich im Hirn breitzumachen beginnt, mit der die Furcht den ganzen Körper erfasst, bis alles erstarrt.
Es ist eine Art magisch-skandinavischer Realismus, mit dem der Autor die eingeschüchterten Jungen unter übermächtigen Baumkronen beschreibt, ihre Furcht, im Wald zu versinken, und diese in jede Gliedmaße kriechende Angst im nassen Erdkeller oder dem sonst so beschaulichen See, der fast zum kühlen Grab für die Wettschwimmer wird. Selten ist so eindrucksvoll gezeigt worden, wie unendlich verloren sich ein Kind fühlen kann, wenn es die falsche Richtung genommen hat.
Ängste können in der Vorstellung übermächtig werden, und Fantasie und Realität verschwimmen manchmal zu geradezu psychedelischen Sprachbildern, die jeder sofort wiedererkennen wird, der sich jemals fasertief gefürchtet hat. Die Beschreibungen entfalten einen Sog, die Geschichten dieser so dysfunktionalen und gleichzeitig so normalen Familie sind psychologisch feinsinnig verknüpft, und allzeit droht eine neue Gefahr. Oder auch nur der Ruf zum Abendessen.
Irgendwo muss es doch ein düsteres Geheimnis geben, das diese Familie fürs Leben gezeichnet hat. Was ist mit uns geschehen, fragt einer der Brüder. Woher kommt diese Zerrissenheit? Aber das macht gerade Schulmans Kunst aus, dass er dem Alltäglichen beiläufig so viel Grauen abgewinnen kann und damit die abschüssigen Geröllhalden der menschlichen Seele freilegt.
Denn da ist kein Geheimnis und das ist eine der verstörenden Überraschungen dieses großartigen Buches. Obwohl: Am Ende gibt es doch das Angebot, ein Familiengeheimnis aufzulösen. Ist das nun die traurige Wahrheit oder rutscht die Mutter gar in den Wahn ab? Ach was, ab in dein Zimmer. Das Kind übertreibt mal wieder in seinen Fantasiewelten.
Die Eltern können ihre
Zuneigung selten zeigen und
dann nicht richtig dosieren
Schulmans Kunst: dass er
dem Alltäglichen so viel
Grauen abgewinnen kann
Eingeschüchtert
in der Weite schwedischer
Birkenwälder:
Alex Schulman findet in
seinem Roman feine Bilder
für die Ängste seiner
Figuren.
Foto: Rachel Annie Bell/Cavan
Images/mauritius
Alex Schulman:
Die Überlebenden.
Roman. Aus dem
Schwedischen von
Hanna Granz.
dtv, München 2021.
302 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schulman, der schon meherere Sachbücher veröffentlicht hat, bleibt bei seinem ersten Roman sehr nah an den Figuren. Cornelia Geissler Berliner Zeitung 20211104