20,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

1 Kundenbewertung

Zwei Bier, und dann noch zwei - mehr braucht es nicht für etwas Nähe. Doch dass die Wärme des Alkohols nicht wirklich gegen die Kälte hilft, die draußen herrscht, wissen auch die beiden Brüder, die von Kneipe zu Kneipe ziehen. Der ältere trinkt längst ohne jeden Anlass, aus Trauer oder Wut angesichts einer Welt, die von Schmerzen und Leid, von Kriegen und Gewalt bestimmt ist. Und doch erzählt er dem jüngeren an diesem Abend nicht nur von Stalingrad und Marc Dutroux, sondern auch von seinem baldigen Vaterglück. Was beide nicht wissen: Es wird danach kein Wiedersehen geben. Nur einmal…mehr

Produktbeschreibung
Zwei Bier, und dann noch zwei - mehr braucht es nicht für etwas Nähe. Doch dass die Wärme des Alkohols nicht wirklich gegen die Kälte hilft, die draußen herrscht, wissen auch die beiden Brüder, die von Kneipe zu Kneipe ziehen. Der ältere trinkt längst ohne jeden Anlass, aus Trauer oder Wut angesichts einer Welt, die von Schmerzen und Leid, von Kriegen und Gewalt bestimmt ist. Und doch erzählt er dem jüngeren an diesem Abend nicht nur von Stalingrad und Marc Dutroux, sondern auch von seinem baldigen Vaterglück. Was beide nicht wissen: Es wird danach kein Wiedersehen geben. Nur einmal telefonieren sie noch miteinander. Der nächste Anruf, neun Monate später, ist die Nachricht vom Tod des älteren Bruders. Was bleibt, sind die Erinnerungen an ihn und Fragen: Warum das Ganze? Was wollen wir auf der Welt? Und was genau soll das überhaupt sein, leben und sterben?
Virtuos verknüpft Heinz Helle in seinem neuen Roman die Suche nach den Spuren des verstorbenen Bruders mit der Suche nach den Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Wie genau er die Geschwister dabei seziert, ist schmerzhaft-schön: ein gezielter Schlag in die Magengrube, durchfunkelt von Trost und Hoffnung.
Autorenporträt
Heinz Helle, geboren 1978, studierte Philosophie in München und New York und arbeitete als Texter in Werbeagenturen, bevor er Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen letzten Roman, Die Überwindung der Schwerkraft, wurde er mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019 ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Er lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Julia Weber, und den beiden gemeinsamen Töchtern in Zürich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018

Warum der eine stürzt und der andere nicht
Heinz Helle erzählt in "Die Überwindung der Schwerkraft" von einem Bruder, den der Jüngere nicht retten kann

Während er in einem Fotoalbum blättert und sich an seinen verstorbenen Bruder erinnert, kommt dem Erzähler in Heinz Helles Roman "Die Überwindung der Schwerkraft" eine Szene aus der gemeinsamen Kindheit in den Sinn, die nebensächlich erscheinen könnte. Tatsächlich aber offenbart sich in ihr das Dilemma dieser Bruderbeziehung, wenngleich auf eine sanfte, erträgliche Weise.

Der Bruder, zwölf Jahre älter, sitzt am Klavier, der Erzähler hat es sich unter dem Esstisch gemütlich gemacht, der Vater lauscht dem Spiel des Sohnes, bis dieser abrupt abbricht, als er einen falschen Ton trifft. Er möge weiterspielen, bittet ihn der Vater, aber der Sohn kann nur paralysiert auf die Tasten starren. Der Vater schaut schweigend aus dem Fenster. Unerträglich wird die Stille, bis der Erzähler, drei oder vier Jahre alt mag er sein, aus seinem Versteck kriecht, vorsichtig zum Klavier hinübergeht, um plötzlich mit beiden Fäusten auf die Tasten zu hämmern. Und alle lachen.

Das Verzagen des Älteren angesichts des Stockens im Klavierspiel kann der Ich-Erzähler hier noch mit Komik übertönen und auf diese Weise die Beklemmung in Belustigung verwandeln, den Bruder gleichsam erlösen. Später, als die Brüder erwachsen sind, wird das Zaudern und Zweifeln des Älteren sich in eine Krankheit zum Tode ausgewachsen haben. Kaum noch zu entzerren ist, ob die Familienkonstellation oder gar das historische Unheil selbst Auslöser des Leidens ist oder, umgekehrt, ob das Wissen um die Gnadenlosigkeit der Verhältnisse nur eine Erklärung bereitstellt für den eigenen Schmerz. Geradezu besessen liest der Bruder des Erzählers in den Zeugnissen der Dutroux-Verbrechen, der Zweite Weltkrieg treibt ihn genauso um wie Zeitungsmeldungen über Unglücksfälle.

Nicht allein, weil der 1978 in München geborene, mittlerweile in Zürich lebende Heinz Helle seinen Ich-Erzähler gleich im ersten Satz von "Die Überwindung der Schwerkraft" berichten lässt, dass er nun beinahe so alt sei wie der ältere Bruder, als dieser starb, weiß man, dass jeder Rettungsversuch vergeblich bleibt, dass die selbstzerstörerische Kraft des Älteren, die sich in Alkoholexzessen entlädt, zu mächtig ist, als dass der Jüngere sie aufhalten oder durchbrechen könnte. Ebenso, wie er ihn auf der letzten gemeinsamen Sauftour nicht stoppen kann, von der freilich keiner der beiden ahnt, dass es sich um die letzte handelt: eine Odyssee durch das winterliche München, gut achtzig der insgesamt 200 Seiten des Romans umfassend, ein sich steigerndes Delirium, in dem das ganze Lebenselend des Älteren zusammenschnurrt. Die groteske Lächerlichkeit, wenn man gemeinsam mit anderen strauchelnden Gestalten inbrünstig Roxette-Songs grölt, steht neben der ephemeren Einsicht in die universelle Haltlosigkeit des Menschen.

Helles schmaler Roman ist ein von Zweifeln grundierter Versuch über das Erinnern und über die so schwer fassliche Nähe und gleichzeitige Ferne zwischen Geschwistern. Er ist die Rekonstruktion eines hoffnungslosen Kampfes und ein Hadern mit der Frage, warum zwei Lebensbahnen, die einen - beinahe - gemeinsamen Ausgangspunkt haben, so unterschiedlich verlaufen, warum der eine abstürzt, während der andere nicht aus dem Tritt gerät. Und so reibt sich der Erzähler nicht zuletzt an der verfluchten Rolle, die ihm in der Familienkonstellation zukommt. Die Brüder haben einen gemeinsamen Vater, die Mutter des älteren Sohnes wurde vom Vater für die Mutter des Erzählers verlassen, so dass der Jüngere mit der Schuld aufwächst, ein möglicher Grund für das Unglück des Älteren zu sein: "es fiel mir nicht leicht, die Gedanken weil er sie verlassen hat, gibt es mich und jetzt ist sie tot voneinander zu trennen."

"Die Erfindung der Schwerkraft" ist weder in Kapitel noch Absätze unterteilt, der Roman besteht aus einem durchgehenden Textblock, und anders als in seinen bisherigen Romanen, die sich durch Lakonie auszeichneten, lässt Helle seinen Erzähler sich den Weg durch den unübersichtlichen Fundus der Erinnerung in langen, verschachtelten Sätzen bahnen, so mäandernd, könnte man vermuten, wie die beiden Brüder durch die schneeverwehte Münchner Nacht taumeln. Aber es ist das Gegenteil eines Verirrens: Helles Sprache ist äußerst präzise und konzentriert, vom unbedingten Willen bestimmt, sich der Komplexität der Empfindungen wie der Ereignisse zu stellen und dabei zum immerhin vorläufigen Ende jedes Gedankens, zu dessen Kern vorzustoßen. Der Trost einer letztgültigen erzählerischen Ordnung, die eine konsistente Erklärung für das Schicksal des Bruders wäre, aber bleibt verwehrt.

Helles Erzähler macht sich zum Sprachrohr des Toten. Er stellt, indem er ihn permanent referiert, poetologische Überlegungen an, unternimmt Stippvisiten in Philosophie und bildende Kunst. Es gibt Reflexionen zu Bombenkrieg und postgenerativer Traumatisierung und der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, Sebald und Kempowski werden aufgerufen. Das könnte nach heilloser Überladung klingen, stattdessen aber gelingt Heinz Helle etwas ähnlich Faszinierendes wie etwa Mathias Énard in "Kompass": Wissen wird nicht von oben herab gepredigt, sondern seine Aufrufung wird zum emphatischen, wenngleich vergeblichen Brückenschlag zu einem anderen Menschen, zu einer Liebeserklärung.

Neben der berserkerhaften Verzweiflung, mit der der Ältere den Erzähler wohl nicht nur auf der Kneipentour überfällt, steht ein letzter, die eigene Not nur notdürftig kaschierender Versuch, sich selbst aus der Depression zu retten. Was er aber als Glücksversprechen herbeireden will, ist von Anbeginn an unheilvoll schief, nicht nur weil es in seiner Kleinbürgerlichkeit so gar nicht zu ihm passen will. Die neue Freundin, von der er in den höchsten Tönen spricht, ist eine Prostituierte, das Kind, das sie erwartet, von einem anderen gezeugt. Und wenn der Bruder nun plötzlich nicht mehr über historische Versehrtheiten, sondern über die Praktikabilität von Einrichtungsaccessoires spricht und als Beispiel für die Liebenswürdigkeit und Liebe der Freundin anführt, sie habe ihm unlängst sogar ein halbes Hähnchen mitgebracht, dann ist das von absurdem Witz und markerschütternder Traurigkeit und offenbart die ganze Verlorenheit dieser Existenz. Und womöglich unser aller.

Vielleicht hätte die Lektüre eines zutiefst menschenfreundlichen, das Scheitern mit zärtlicher Hilflosigkeit betrachtenden Romans wie "Die Überwindung der Schwerkraft" den Unrettbaren, der die Sprache so liebte, nicht geheilt. Beglückt jedoch, jedenfalls für eine Weile, hätte ihn Helles Erzählen ganz sicher - ein Erzählen, das eben das vermag, was der Titel verspricht: bei aller Gewichtigkeit zu schweben.

WIEBKE POROMBKA

Heinz Helle:

"Die Überwindung der Schwerkraft". Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 208 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
»Es geht ... in Helles Erinnerungsbuch zeitlich, thematisch, und erzählperspektivisch drunter und drüber. ... Dass der Leser dabei den Überblick nicht verliert, zeugt von Helles großer, erzählerischer Kunst und Verdichtung.« Philipp Haibach DIE WELT 20181201