Zwei Bier, und dann noch zwei - mehr braucht es nicht für etwas Nähe. Doch dass die Wärme des Alkohols nicht wirklich gegen die Kälte hilft, die draußen herrscht, wissen auch die beiden Brüder, die von Kneipe zu Kneipe ziehen. Der ältere trinkt längst ohne jeden Anlass, aus Trauer oder Wut angesichts einer Welt, die von Schmerzen und Leid, von Kriegen und Gewalt bestimmt ist. Und doch erzählt er dem jüngeren an diesem Abend nicht nur von Stalingrad und Marc Dutroux, sondern auch von seinem baldigen Vaterglück. Was beide nicht wissen: Es wird danach kein Wiedersehen geben. Nur einmal telefonieren sie noch miteinander. Der nächste Anruf, neun Monate später, ist die Nachricht vom Tod des älteren Bruders. Was bleibt, sind die Erinnerungen an ihn und Fragen: Warum das Ganze? Was wollen wir auf der Welt? Und was genau soll das überhaupt sein, leben und sterben?
Virtuos verknüpft Heinz Helle in seinem neuen Roman die Suche nach den Spuren des verstorbenen Bruders mit der Suche nach den Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Wie genau er die Geschwister dabei seziert, ist schmerzhaft-schön: ein gezielter Schlag in die Magengrube, durchfunkelt von Trost und Hoffnung.
Virtuos verknüpft Heinz Helle in seinem neuen Roman die Suche nach den Spuren des verstorbenen Bruders mit der Suche nach den Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Wie genau er die Geschwister dabei seziert, ist schmerzhaft-schön: ein gezielter Schlag in die Magengrube, durchfunkelt von Trost und Hoffnung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Warum der eine stürzt und der andere nicht
Heinz Helle erzählt in "Die Überwindung der Schwerkraft" von einem Bruder, den der Jüngere nicht retten kann
Während er in einem Fotoalbum blättert und sich an seinen verstorbenen Bruder erinnert, kommt dem Erzähler in Heinz Helles Roman "Die Überwindung der Schwerkraft" eine Szene aus der gemeinsamen Kindheit in den Sinn, die nebensächlich erscheinen könnte. Tatsächlich aber offenbart sich in ihr das Dilemma dieser Bruderbeziehung, wenngleich auf eine sanfte, erträgliche Weise.
Der Bruder, zwölf Jahre älter, sitzt am Klavier, der Erzähler hat es sich unter dem Esstisch gemütlich gemacht, der Vater lauscht dem Spiel des Sohnes, bis dieser abrupt abbricht, als er einen falschen Ton trifft. Er möge weiterspielen, bittet ihn der Vater, aber der Sohn kann nur paralysiert auf die Tasten starren. Der Vater schaut schweigend aus dem Fenster. Unerträglich wird die Stille, bis der Erzähler, drei oder vier Jahre alt mag er sein, aus seinem Versteck kriecht, vorsichtig zum Klavier hinübergeht, um plötzlich mit beiden Fäusten auf die Tasten zu hämmern. Und alle lachen.
Das Verzagen des Älteren angesichts des Stockens im Klavierspiel kann der Ich-Erzähler hier noch mit Komik übertönen und auf diese Weise die Beklemmung in Belustigung verwandeln, den Bruder gleichsam erlösen. Später, als die Brüder erwachsen sind, wird das Zaudern und Zweifeln des Älteren sich in eine Krankheit zum Tode ausgewachsen haben. Kaum noch zu entzerren ist, ob die Familienkonstellation oder gar das historische Unheil selbst Auslöser des Leidens ist oder, umgekehrt, ob das Wissen um die Gnadenlosigkeit der Verhältnisse nur eine Erklärung bereitstellt für den eigenen Schmerz. Geradezu besessen liest der Bruder des Erzählers in den Zeugnissen der Dutroux-Verbrechen, der Zweite Weltkrieg treibt ihn genauso um wie Zeitungsmeldungen über Unglücksfälle.
Nicht allein, weil der 1978 in München geborene, mittlerweile in Zürich lebende Heinz Helle seinen Ich-Erzähler gleich im ersten Satz von "Die Überwindung der Schwerkraft" berichten lässt, dass er nun beinahe so alt sei wie der ältere Bruder, als dieser starb, weiß man, dass jeder Rettungsversuch vergeblich bleibt, dass die selbstzerstörerische Kraft des Älteren, die sich in Alkoholexzessen entlädt, zu mächtig ist, als dass der Jüngere sie aufhalten oder durchbrechen könnte. Ebenso, wie er ihn auf der letzten gemeinsamen Sauftour nicht stoppen kann, von der freilich keiner der beiden ahnt, dass es sich um die letzte handelt: eine Odyssee durch das winterliche München, gut achtzig der insgesamt 200 Seiten des Romans umfassend, ein sich steigerndes Delirium, in dem das ganze Lebenselend des Älteren zusammenschnurrt. Die groteske Lächerlichkeit, wenn man gemeinsam mit anderen strauchelnden Gestalten inbrünstig Roxette-Songs grölt, steht neben der ephemeren Einsicht in die universelle Haltlosigkeit des Menschen.
Helles schmaler Roman ist ein von Zweifeln grundierter Versuch über das Erinnern und über die so schwer fassliche Nähe und gleichzeitige Ferne zwischen Geschwistern. Er ist die Rekonstruktion eines hoffnungslosen Kampfes und ein Hadern mit der Frage, warum zwei Lebensbahnen, die einen - beinahe - gemeinsamen Ausgangspunkt haben, so unterschiedlich verlaufen, warum der eine abstürzt, während der andere nicht aus dem Tritt gerät. Und so reibt sich der Erzähler nicht zuletzt an der verfluchten Rolle, die ihm in der Familienkonstellation zukommt. Die Brüder haben einen gemeinsamen Vater, die Mutter des älteren Sohnes wurde vom Vater für die Mutter des Erzählers verlassen, so dass der Jüngere mit der Schuld aufwächst, ein möglicher Grund für das Unglück des Älteren zu sein: "es fiel mir nicht leicht, die Gedanken weil er sie verlassen hat, gibt es mich und jetzt ist sie tot voneinander zu trennen."
"Die Erfindung der Schwerkraft" ist weder in Kapitel noch Absätze unterteilt, der Roman besteht aus einem durchgehenden Textblock, und anders als in seinen bisherigen Romanen, die sich durch Lakonie auszeichneten, lässt Helle seinen Erzähler sich den Weg durch den unübersichtlichen Fundus der Erinnerung in langen, verschachtelten Sätzen bahnen, so mäandernd, könnte man vermuten, wie die beiden Brüder durch die schneeverwehte Münchner Nacht taumeln. Aber es ist das Gegenteil eines Verirrens: Helles Sprache ist äußerst präzise und konzentriert, vom unbedingten Willen bestimmt, sich der Komplexität der Empfindungen wie der Ereignisse zu stellen und dabei zum immerhin vorläufigen Ende jedes Gedankens, zu dessen Kern vorzustoßen. Der Trost einer letztgültigen erzählerischen Ordnung, die eine konsistente Erklärung für das Schicksal des Bruders wäre, aber bleibt verwehrt.
Helles Erzähler macht sich zum Sprachrohr des Toten. Er stellt, indem er ihn permanent referiert, poetologische Überlegungen an, unternimmt Stippvisiten in Philosophie und bildende Kunst. Es gibt Reflexionen zu Bombenkrieg und postgenerativer Traumatisierung und der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, Sebald und Kempowski werden aufgerufen. Das könnte nach heilloser Überladung klingen, stattdessen aber gelingt Heinz Helle etwas ähnlich Faszinierendes wie etwa Mathias Énard in "Kompass": Wissen wird nicht von oben herab gepredigt, sondern seine Aufrufung wird zum emphatischen, wenngleich vergeblichen Brückenschlag zu einem anderen Menschen, zu einer Liebeserklärung.
Neben der berserkerhaften Verzweiflung, mit der der Ältere den Erzähler wohl nicht nur auf der Kneipentour überfällt, steht ein letzter, die eigene Not nur notdürftig kaschierender Versuch, sich selbst aus der Depression zu retten. Was er aber als Glücksversprechen herbeireden will, ist von Anbeginn an unheilvoll schief, nicht nur weil es in seiner Kleinbürgerlichkeit so gar nicht zu ihm passen will. Die neue Freundin, von der er in den höchsten Tönen spricht, ist eine Prostituierte, das Kind, das sie erwartet, von einem anderen gezeugt. Und wenn der Bruder nun plötzlich nicht mehr über historische Versehrtheiten, sondern über die Praktikabilität von Einrichtungsaccessoires spricht und als Beispiel für die Liebenswürdigkeit und Liebe der Freundin anführt, sie habe ihm unlängst sogar ein halbes Hähnchen mitgebracht, dann ist das von absurdem Witz und markerschütternder Traurigkeit und offenbart die ganze Verlorenheit dieser Existenz. Und womöglich unser aller.
Vielleicht hätte die Lektüre eines zutiefst menschenfreundlichen, das Scheitern mit zärtlicher Hilflosigkeit betrachtenden Romans wie "Die Überwindung der Schwerkraft" den Unrettbaren, der die Sprache so liebte, nicht geheilt. Beglückt jedoch, jedenfalls für eine Weile, hätte ihn Helles Erzählen ganz sicher - ein Erzählen, das eben das vermag, was der Titel verspricht: bei aller Gewichtigkeit zu schweben.
WIEBKE POROMBKA
Heinz Helle:
"Die Überwindung der Schwerkraft". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heinz Helle erzählt in "Die Überwindung der Schwerkraft" von einem Bruder, den der Jüngere nicht retten kann
Während er in einem Fotoalbum blättert und sich an seinen verstorbenen Bruder erinnert, kommt dem Erzähler in Heinz Helles Roman "Die Überwindung der Schwerkraft" eine Szene aus der gemeinsamen Kindheit in den Sinn, die nebensächlich erscheinen könnte. Tatsächlich aber offenbart sich in ihr das Dilemma dieser Bruderbeziehung, wenngleich auf eine sanfte, erträgliche Weise.
Der Bruder, zwölf Jahre älter, sitzt am Klavier, der Erzähler hat es sich unter dem Esstisch gemütlich gemacht, der Vater lauscht dem Spiel des Sohnes, bis dieser abrupt abbricht, als er einen falschen Ton trifft. Er möge weiterspielen, bittet ihn der Vater, aber der Sohn kann nur paralysiert auf die Tasten starren. Der Vater schaut schweigend aus dem Fenster. Unerträglich wird die Stille, bis der Erzähler, drei oder vier Jahre alt mag er sein, aus seinem Versteck kriecht, vorsichtig zum Klavier hinübergeht, um plötzlich mit beiden Fäusten auf die Tasten zu hämmern. Und alle lachen.
Das Verzagen des Älteren angesichts des Stockens im Klavierspiel kann der Ich-Erzähler hier noch mit Komik übertönen und auf diese Weise die Beklemmung in Belustigung verwandeln, den Bruder gleichsam erlösen. Später, als die Brüder erwachsen sind, wird das Zaudern und Zweifeln des Älteren sich in eine Krankheit zum Tode ausgewachsen haben. Kaum noch zu entzerren ist, ob die Familienkonstellation oder gar das historische Unheil selbst Auslöser des Leidens ist oder, umgekehrt, ob das Wissen um die Gnadenlosigkeit der Verhältnisse nur eine Erklärung bereitstellt für den eigenen Schmerz. Geradezu besessen liest der Bruder des Erzählers in den Zeugnissen der Dutroux-Verbrechen, der Zweite Weltkrieg treibt ihn genauso um wie Zeitungsmeldungen über Unglücksfälle.
Nicht allein, weil der 1978 in München geborene, mittlerweile in Zürich lebende Heinz Helle seinen Ich-Erzähler gleich im ersten Satz von "Die Überwindung der Schwerkraft" berichten lässt, dass er nun beinahe so alt sei wie der ältere Bruder, als dieser starb, weiß man, dass jeder Rettungsversuch vergeblich bleibt, dass die selbstzerstörerische Kraft des Älteren, die sich in Alkoholexzessen entlädt, zu mächtig ist, als dass der Jüngere sie aufhalten oder durchbrechen könnte. Ebenso, wie er ihn auf der letzten gemeinsamen Sauftour nicht stoppen kann, von der freilich keiner der beiden ahnt, dass es sich um die letzte handelt: eine Odyssee durch das winterliche München, gut achtzig der insgesamt 200 Seiten des Romans umfassend, ein sich steigerndes Delirium, in dem das ganze Lebenselend des Älteren zusammenschnurrt. Die groteske Lächerlichkeit, wenn man gemeinsam mit anderen strauchelnden Gestalten inbrünstig Roxette-Songs grölt, steht neben der ephemeren Einsicht in die universelle Haltlosigkeit des Menschen.
Helles schmaler Roman ist ein von Zweifeln grundierter Versuch über das Erinnern und über die so schwer fassliche Nähe und gleichzeitige Ferne zwischen Geschwistern. Er ist die Rekonstruktion eines hoffnungslosen Kampfes und ein Hadern mit der Frage, warum zwei Lebensbahnen, die einen - beinahe - gemeinsamen Ausgangspunkt haben, so unterschiedlich verlaufen, warum der eine abstürzt, während der andere nicht aus dem Tritt gerät. Und so reibt sich der Erzähler nicht zuletzt an der verfluchten Rolle, die ihm in der Familienkonstellation zukommt. Die Brüder haben einen gemeinsamen Vater, die Mutter des älteren Sohnes wurde vom Vater für die Mutter des Erzählers verlassen, so dass der Jüngere mit der Schuld aufwächst, ein möglicher Grund für das Unglück des Älteren zu sein: "es fiel mir nicht leicht, die Gedanken weil er sie verlassen hat, gibt es mich und jetzt ist sie tot voneinander zu trennen."
"Die Erfindung der Schwerkraft" ist weder in Kapitel noch Absätze unterteilt, der Roman besteht aus einem durchgehenden Textblock, und anders als in seinen bisherigen Romanen, die sich durch Lakonie auszeichneten, lässt Helle seinen Erzähler sich den Weg durch den unübersichtlichen Fundus der Erinnerung in langen, verschachtelten Sätzen bahnen, so mäandernd, könnte man vermuten, wie die beiden Brüder durch die schneeverwehte Münchner Nacht taumeln. Aber es ist das Gegenteil eines Verirrens: Helles Sprache ist äußerst präzise und konzentriert, vom unbedingten Willen bestimmt, sich der Komplexität der Empfindungen wie der Ereignisse zu stellen und dabei zum immerhin vorläufigen Ende jedes Gedankens, zu dessen Kern vorzustoßen. Der Trost einer letztgültigen erzählerischen Ordnung, die eine konsistente Erklärung für das Schicksal des Bruders wäre, aber bleibt verwehrt.
Helles Erzähler macht sich zum Sprachrohr des Toten. Er stellt, indem er ihn permanent referiert, poetologische Überlegungen an, unternimmt Stippvisiten in Philosophie und bildende Kunst. Es gibt Reflexionen zu Bombenkrieg und postgenerativer Traumatisierung und der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, Sebald und Kempowski werden aufgerufen. Das könnte nach heilloser Überladung klingen, stattdessen aber gelingt Heinz Helle etwas ähnlich Faszinierendes wie etwa Mathias Énard in "Kompass": Wissen wird nicht von oben herab gepredigt, sondern seine Aufrufung wird zum emphatischen, wenngleich vergeblichen Brückenschlag zu einem anderen Menschen, zu einer Liebeserklärung.
Neben der berserkerhaften Verzweiflung, mit der der Ältere den Erzähler wohl nicht nur auf der Kneipentour überfällt, steht ein letzter, die eigene Not nur notdürftig kaschierender Versuch, sich selbst aus der Depression zu retten. Was er aber als Glücksversprechen herbeireden will, ist von Anbeginn an unheilvoll schief, nicht nur weil es in seiner Kleinbürgerlichkeit so gar nicht zu ihm passen will. Die neue Freundin, von der er in den höchsten Tönen spricht, ist eine Prostituierte, das Kind, das sie erwartet, von einem anderen gezeugt. Und wenn der Bruder nun plötzlich nicht mehr über historische Versehrtheiten, sondern über die Praktikabilität von Einrichtungsaccessoires spricht und als Beispiel für die Liebenswürdigkeit und Liebe der Freundin anführt, sie habe ihm unlängst sogar ein halbes Hähnchen mitgebracht, dann ist das von absurdem Witz und markerschütternder Traurigkeit und offenbart die ganze Verlorenheit dieser Existenz. Und womöglich unser aller.
Vielleicht hätte die Lektüre eines zutiefst menschenfreundlichen, das Scheitern mit zärtlicher Hilflosigkeit betrachtenden Romans wie "Die Überwindung der Schwerkraft" den Unrettbaren, der die Sprache so liebte, nicht geheilt. Beglückt jedoch, jedenfalls für eine Weile, hätte ihn Helles Erzählen ganz sicher - ein Erzählen, das eben das vermag, was der Titel verspricht: bei aller Gewichtigkeit zu schweben.
WIEBKE POROMBKA
Heinz Helle:
"Die Überwindung der Schwerkraft". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.11.2018Vom Risiko eines Lebens unter Menschen
Kneipenprosa I: Zwei Brüder besprechen, ob das Kinderkriegen zu verantworten ist, und trinken dabei um ihr
Leben. „Die Überwindung der Schwerkraft“, der dritte der zarten und harten Romane von Heinz Helle
VON MARIE SCHMIDT
Die Gefahr besteht, dass der hervorragende Schriftsteller Heinz Helle unterschätzt wird. Seine Bücher sind schmal und tragen heiter freundliche Titel, die es einen vielleicht zu leicht hinnehmen lassen, wie bescheiden und zurückgenommen dieser Autor schreibt, dabei aber nie über weniger als das ganze Menschendasein. Und wie zart und riskant er es dabei aussehen lässt! Mit seinem dritten Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“ ist aus Helles Existenzvermessungserzählungen eine kleine Reihe geworden. Wobei die ersten beiden Bücher große Kühle ausstrahlten, lakonisch im Ton, die Mittelungen aufs Nötigste verdichtet. Der neue Roman ist dagegen von geradezu leutseliger Wärme und Sehnsucht.
Er beginnt mit dem beliebtesten unter den deutschen Zuständen, dem Suff. Einem schweren Besäufnis, das wie alle ehrlichen Besäufnisse nicht enden will, weil der Rausch eine Wahrheit und eine Intimität verspricht, die immer noch nicht ganz erfüllt ist, erst kurz bevorzustehen scheint. Zwei Brüder trinken da Bier um Bier in realen und fiktiven Boazn und Spelunken des Münchner Glockenbachviertels, Sunshine Pub, Holy Home, Theaterklause, Flaschenöffner, Kapuzinerklause, Bachwirt. Sie haben verschiedene Mütter und denselben Vater. Der Jüngere von beiden ist der Erzähler, der den horrenden Kater des nächsten Tages fürchtet und trotzdem den Absprung nach Hause, ins Bett nicht schafft. Weil der Ältere redet und redet.
Heinz Helle, der 1978 in München geboren ist, Philosophie studiert hat, dann am Literaturinstitut Biel und jetzt in Zürich lebt, schreibt diese Brüderszene in seitenlangen Sätzen nieder. Sie entrollen sich, nehmen Nebenwege, winden sich, als würde die Grammatik das Bedürfnis der jungen Männer nach Nähe festhalten, nach Verwandtschaft in einem starken Sinn, als sage der Satzbau selber: Geh nicht weg, hör weiter zu, verlass mich nie.
Das ist die literarische Form eines Geschwafels, aber keineswegs selbst Geschwafel. Was man schon daran merkt, dass die Perioden sorgfältig nach Assoziationsabschnitten gebaut sind und auf wohlgesetzten, oft kurzen letzten Worten stoppen. Wie wenn einer mit letzter Atemluft ausstößt: „schon zu“, „Ruhe“, „weg“, „früher“, „Welt“.
Weil der erste Satz des Romans heißt: „Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb“, steht man unter dem Eindruck, dass hier ein Mann um sein Leben redet und der andere auf Leben und Tod dabeibleiben muss, bis „die informative Ebene unseres Gesprächs überlagert wird von der klanglichen, möglicherweise ging es ab hier nur noch darum, eine vertraute Stimme in bekannte Einheiten zu unterteilen“.
Alles, was der große Bruder sagt, steht unter dem Vorzeichen, dass er gestorben sein wird, wenn es niedergeschrieben wird. Eine Art Memento mori also. Was dabei zwischen den Brüdern zur Debatte steht, ist nichts Geringeres als die eine, nie gültig beantwortbare Existenzfrage: Ob einem Unschuldigen, also einem Kind, dieses Leben zumutbar ist.
Es ist nun, um zu verstehen, wie fein und klug Heinz Helle schreibt, wichtig zu bemerken, dass da kein Hauch von Zeugungspanik oder Zeugungsstolz gewöhnlicher Männergeständnisse zu spüren ist. Helle meidet die Klebrigkeit des genealogischen Prinzips mit der bewusst hergeholten Geschichte, der ältere Bruder habe sich in eine schwangere Prostituierte verliebt und entschieden, deren Kind aufzuziehen: „Du wirst ein guter Vater sein, sagte ich ihm, weil ich fest daran glaubte, dass die psychologischen Mechanismen, die das Mitverfolgen einer Schwangerschaft bei einem Mann in Gang setzen, vollkommen ausreichend sein müssten, um aus jedem Mann den entsprechend seiner Möglichkeiten besten Vater zu machen.“
Das heißt aber wiederum auch nicht, dass es keine Rolle spielt, ob dieser Roman unter Männern spielt und von Männern handelt, wie übrigens auch schon Helles vorheriger Roman „Eigentlich müssten wir tanzen“.
Seine Bücher sind merklich nicht mehr in Zeiten geschrieben, in denen über Männer reden hieß, über den Menschen zu reden. Es ist nur so, dass die männliche Perspektive hier eine relative, wackelige ist, wie jede andere. Was sich wiederum auch grammatisch daraus ergibt, dass über weite Strecken des Buches die Suaden des großen Bruders im Konjunktiv der indirekten Rede wiedergegeben werden.
Dazu kommt, dass die Verantwortungsangst des Kinderkriegens nicht als egoistischer Impuls dasteht. Sondern eigentlich als Gelegenheit, sich zu fragen, wie man mit dem Bösen und dem Blöden im Zusammenleben der Menschen umgehen soll, mit der Schuld, in die immer schon hineingeboren wird, zumal was ein deutsches Brüderpaar ist.
In dem großen Palaver lässt Helle Argumente ineinanderrauschen, die man in einem Essay womöglich als zu kurz gesprungen empfinden würde. Als betrunkene Argumente versteht man sie sofort. Wie jede Trinkerphilosophie taumelt die der Brüder zwischen heiligem Ernst und der Komik treuherziger Unmittelbarkeit. Die psychologische Fixierung des Älteren auf die Verbrechen Marc Dutrouxs provoziert etwa das politische Bekenntnis des kleinen Bruders, es sei „doch beinahe poetisch, dass die einzige wirklich halsbrecherische Reaktion auf Gewalt an Kindern eine unmenschliche ist, nämlich die Reaktion des Systems, und dass der Rechtsstaat in gewisser Weise eine Art Naturzustand bildet“. Ja ja, aber, sagt der Ältere, „dann rücken die Gesetze plötzlich wie von selbst in den Raum, den die immer gleicher und gemeinschaftlicher werdenden einzelnen Bürger freigeben, und plötzlich ist man ein Volk, und dann steht man auf einmal mit vierhunderttausend anderen in der Steppe an der Wolga im Schnee und fragt sich, wann genau man falsch abgebogen ist“.
Die Frage, ob die zwei Brüder sich vor dem Tod des Älteren noch wirklich werden verstehen können, verbindet sich durch ihre Gespräche mit der Frage, wie man den „großen, lauten, bunten, langweiligen Raum zwischen der Einsamkeit und dem Krieg“ besiedeln kann. Und die Antwort darauf ist natürlich der Roman selber und das, was darin passiert: das Reden, die Sprache, die Erzählung, die Literatur.
Es wäre aber nicht Heinz Helles Stil, diese Erkenntnis so trivial stehen zu lassen. Er konzentriert sie vielmehr in einer mehrseitigen Meditation über den Mittelstreifen einer Fahrbahn, der nur durch Konvention die Menschen vor dem potenziell tödlichen Gegenverkehr anderer Menschen trennt. Ein simpler Strich, der besagt „hier soll niemand sterben, auf diesem Stück Teer hier vor meinem Fenster, und auch nirgendwo sonst, seid bitte vorsichtig“. Bei diesem Anblick wird dem kleinen Bruder und Erzähler mit einem Mal klar, „welche Macht Schrift hat, Linien auf Flächen, und Punkte, und das, wofür sie stehen, Sprache, und die Spezies, die eine besitzt“. Zugleich lässt die Betrachtung aber spüren, wie wenig uns von Wildnis, Tod und Verderben trennt, wenn es nur unsere Sprache ist, die paar diskreten Zeichen.
In der wahnsinnig rührenden letzten Szene des Romans überquert der Erzähler mit seinem eigenen Kind an der Hand eine viel befahrene Straße an einem Zebrastreifen, weil auf der anderen Seite die Tonnen stehen, in die man Altglas und Restmüll sortiert. Ein Alltagsmoment, an dem einem nach dem Sermon der Brüder plötzlich radikal auffällt, wie gefährlich das Leben unter den Menschen ist.
Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft. Roman. Suhrkamp, Berlin 2018. 208 Seiten, 20 Euro.
„Bald bin ich so alt,
wie mein Bruder war,
als er starb“, lautet der erste Satz
Es ist nur wenig, was uns
von Wildnis, Tod und
Verderben trennt
Der Rausch verspricht eine Wahrheit und eine Intimität, die immer erst noch bevorzustehen scheinen, zum Beispiel hier im Münchner Lokal „Bierschuppen“.
Foto: Alessandra Schellnegger
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Kneipenprosa I: Zwei Brüder besprechen, ob das Kinderkriegen zu verantworten ist, und trinken dabei um ihr
Leben. „Die Überwindung der Schwerkraft“, der dritte der zarten und harten Romane von Heinz Helle
VON MARIE SCHMIDT
Die Gefahr besteht, dass der hervorragende Schriftsteller Heinz Helle unterschätzt wird. Seine Bücher sind schmal und tragen heiter freundliche Titel, die es einen vielleicht zu leicht hinnehmen lassen, wie bescheiden und zurückgenommen dieser Autor schreibt, dabei aber nie über weniger als das ganze Menschendasein. Und wie zart und riskant er es dabei aussehen lässt! Mit seinem dritten Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“ ist aus Helles Existenzvermessungserzählungen eine kleine Reihe geworden. Wobei die ersten beiden Bücher große Kühle ausstrahlten, lakonisch im Ton, die Mittelungen aufs Nötigste verdichtet. Der neue Roman ist dagegen von geradezu leutseliger Wärme und Sehnsucht.
Er beginnt mit dem beliebtesten unter den deutschen Zuständen, dem Suff. Einem schweren Besäufnis, das wie alle ehrlichen Besäufnisse nicht enden will, weil der Rausch eine Wahrheit und eine Intimität verspricht, die immer noch nicht ganz erfüllt ist, erst kurz bevorzustehen scheint. Zwei Brüder trinken da Bier um Bier in realen und fiktiven Boazn und Spelunken des Münchner Glockenbachviertels, Sunshine Pub, Holy Home, Theaterklause, Flaschenöffner, Kapuzinerklause, Bachwirt. Sie haben verschiedene Mütter und denselben Vater. Der Jüngere von beiden ist der Erzähler, der den horrenden Kater des nächsten Tages fürchtet und trotzdem den Absprung nach Hause, ins Bett nicht schafft. Weil der Ältere redet und redet.
Heinz Helle, der 1978 in München geboren ist, Philosophie studiert hat, dann am Literaturinstitut Biel und jetzt in Zürich lebt, schreibt diese Brüderszene in seitenlangen Sätzen nieder. Sie entrollen sich, nehmen Nebenwege, winden sich, als würde die Grammatik das Bedürfnis der jungen Männer nach Nähe festhalten, nach Verwandtschaft in einem starken Sinn, als sage der Satzbau selber: Geh nicht weg, hör weiter zu, verlass mich nie.
Das ist die literarische Form eines Geschwafels, aber keineswegs selbst Geschwafel. Was man schon daran merkt, dass die Perioden sorgfältig nach Assoziationsabschnitten gebaut sind und auf wohlgesetzten, oft kurzen letzten Worten stoppen. Wie wenn einer mit letzter Atemluft ausstößt: „schon zu“, „Ruhe“, „weg“, „früher“, „Welt“.
Weil der erste Satz des Romans heißt: „Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb“, steht man unter dem Eindruck, dass hier ein Mann um sein Leben redet und der andere auf Leben und Tod dabeibleiben muss, bis „die informative Ebene unseres Gesprächs überlagert wird von der klanglichen, möglicherweise ging es ab hier nur noch darum, eine vertraute Stimme in bekannte Einheiten zu unterteilen“.
Alles, was der große Bruder sagt, steht unter dem Vorzeichen, dass er gestorben sein wird, wenn es niedergeschrieben wird. Eine Art Memento mori also. Was dabei zwischen den Brüdern zur Debatte steht, ist nichts Geringeres als die eine, nie gültig beantwortbare Existenzfrage: Ob einem Unschuldigen, also einem Kind, dieses Leben zumutbar ist.
Es ist nun, um zu verstehen, wie fein und klug Heinz Helle schreibt, wichtig zu bemerken, dass da kein Hauch von Zeugungspanik oder Zeugungsstolz gewöhnlicher Männergeständnisse zu spüren ist. Helle meidet die Klebrigkeit des genealogischen Prinzips mit der bewusst hergeholten Geschichte, der ältere Bruder habe sich in eine schwangere Prostituierte verliebt und entschieden, deren Kind aufzuziehen: „Du wirst ein guter Vater sein, sagte ich ihm, weil ich fest daran glaubte, dass die psychologischen Mechanismen, die das Mitverfolgen einer Schwangerschaft bei einem Mann in Gang setzen, vollkommen ausreichend sein müssten, um aus jedem Mann den entsprechend seiner Möglichkeiten besten Vater zu machen.“
Das heißt aber wiederum auch nicht, dass es keine Rolle spielt, ob dieser Roman unter Männern spielt und von Männern handelt, wie übrigens auch schon Helles vorheriger Roman „Eigentlich müssten wir tanzen“.
Seine Bücher sind merklich nicht mehr in Zeiten geschrieben, in denen über Männer reden hieß, über den Menschen zu reden. Es ist nur so, dass die männliche Perspektive hier eine relative, wackelige ist, wie jede andere. Was sich wiederum auch grammatisch daraus ergibt, dass über weite Strecken des Buches die Suaden des großen Bruders im Konjunktiv der indirekten Rede wiedergegeben werden.
Dazu kommt, dass die Verantwortungsangst des Kinderkriegens nicht als egoistischer Impuls dasteht. Sondern eigentlich als Gelegenheit, sich zu fragen, wie man mit dem Bösen und dem Blöden im Zusammenleben der Menschen umgehen soll, mit der Schuld, in die immer schon hineingeboren wird, zumal was ein deutsches Brüderpaar ist.
In dem großen Palaver lässt Helle Argumente ineinanderrauschen, die man in einem Essay womöglich als zu kurz gesprungen empfinden würde. Als betrunkene Argumente versteht man sie sofort. Wie jede Trinkerphilosophie taumelt die der Brüder zwischen heiligem Ernst und der Komik treuherziger Unmittelbarkeit. Die psychologische Fixierung des Älteren auf die Verbrechen Marc Dutrouxs provoziert etwa das politische Bekenntnis des kleinen Bruders, es sei „doch beinahe poetisch, dass die einzige wirklich halsbrecherische Reaktion auf Gewalt an Kindern eine unmenschliche ist, nämlich die Reaktion des Systems, und dass der Rechtsstaat in gewisser Weise eine Art Naturzustand bildet“. Ja ja, aber, sagt der Ältere, „dann rücken die Gesetze plötzlich wie von selbst in den Raum, den die immer gleicher und gemeinschaftlicher werdenden einzelnen Bürger freigeben, und plötzlich ist man ein Volk, und dann steht man auf einmal mit vierhunderttausend anderen in der Steppe an der Wolga im Schnee und fragt sich, wann genau man falsch abgebogen ist“.
Die Frage, ob die zwei Brüder sich vor dem Tod des Älteren noch wirklich werden verstehen können, verbindet sich durch ihre Gespräche mit der Frage, wie man den „großen, lauten, bunten, langweiligen Raum zwischen der Einsamkeit und dem Krieg“ besiedeln kann. Und die Antwort darauf ist natürlich der Roman selber und das, was darin passiert: das Reden, die Sprache, die Erzählung, die Literatur.
Es wäre aber nicht Heinz Helles Stil, diese Erkenntnis so trivial stehen zu lassen. Er konzentriert sie vielmehr in einer mehrseitigen Meditation über den Mittelstreifen einer Fahrbahn, der nur durch Konvention die Menschen vor dem potenziell tödlichen Gegenverkehr anderer Menschen trennt. Ein simpler Strich, der besagt „hier soll niemand sterben, auf diesem Stück Teer hier vor meinem Fenster, und auch nirgendwo sonst, seid bitte vorsichtig“. Bei diesem Anblick wird dem kleinen Bruder und Erzähler mit einem Mal klar, „welche Macht Schrift hat, Linien auf Flächen, und Punkte, und das, wofür sie stehen, Sprache, und die Spezies, die eine besitzt“. Zugleich lässt die Betrachtung aber spüren, wie wenig uns von Wildnis, Tod und Verderben trennt, wenn es nur unsere Sprache ist, die paar diskreten Zeichen.
In der wahnsinnig rührenden letzten Szene des Romans überquert der Erzähler mit seinem eigenen Kind an der Hand eine viel befahrene Straße an einem Zebrastreifen, weil auf der anderen Seite die Tonnen stehen, in die man Altglas und Restmüll sortiert. Ein Alltagsmoment, an dem einem nach dem Sermon der Brüder plötzlich radikal auffällt, wie gefährlich das Leben unter den Menschen ist.
Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft. Roman. Suhrkamp, Berlin 2018. 208 Seiten, 20 Euro.
„Bald bin ich so alt,
wie mein Bruder war,
als er starb“, lautet der erste Satz
Es ist nur wenig, was uns
von Wildnis, Tod und
Verderben trennt
Der Rausch verspricht eine Wahrheit und eine Intimität, die immer erst noch bevorzustehen scheinen, zum Beispiel hier im Münchner Lokal „Bierschuppen“.
Foto: Alessandra Schellnegger
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»Es geht ... in Helles Erinnerungsbuch zeitlich, thematisch, und erzählperspektivisch drunter und drüber. ... Dass der Leser dabei den Überblick nicht verliert, zeugt von Helles großer, erzählerischer Kunst und Verdichtung.« Philipp Haibach DIE WELT 20181201