Regelmäßig um Mitternacht träumt ein kleiner Junge: von einer Höhle im Garten und von einem Schloss im Rhododendron.Und von der Fee Ninotschka und ihren Freunden. Hängt all das miteinander zusammen? Passiert das alles wirklich in seinem Garten? Abrupte Wechsel der Szenen, groteskes Personal, schwindelerregendes Tempo - all das, was in unseren Träumen vorkommt, setzt Paul Biegel hier ein. Und plötzlich fügt sich alles zu einer Geschichte von Sehnsucht, Freundschaft, Verlust und Heilung zusammen. Meisterhaft skizziert Paul Biegel ein bildstarkes Universum, in dem Kinder und Erwachsene sich selbst und die Weisheit des Lebens finden können. Nina Schmidts atmosphärische Bilder ergänzen die Geschichte zu einem traumhaften Abenteuer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2021Wer hat der Fee die Flügel geraubt?
Paul Biegel erzählt in "Die Uhr schlug Mitternacht" von Traum und Abenteuer
Träume sind ein großes Thema in der Kinderliteratur, vor allem solche, die sich von Nacht zu Nacht fortsetzen. Auch Paul Biegels (1925 bis 2006) ursprünglich 1974 erschienenes Buch, das nun unter dem Titel "Die Uhr schlug Mitternacht" die verdienstvolle deutschsprachige Werkausgabe des Autors im Verlag Urachhaus fortsetzt, erzählt von einem Traum in Episoden.
Jede von ihnen beginnt mit der Beschreibung eines in seiner Dachkammer schlafenden Jungen. Er träumt von einer Höhle unter der großen Eiche im Garten seiner Familie, von einer dort versammelten Gesellschaft aus zwei Mäusen, einem Käfer und einer Grille, versammelt um ein Lager, aus dem heraus eine nervöse, herrische Stimme tönt. Was es damit auf sich hat, weiß er selbst nicht, er blickt auf das Geschehen, als wäre er als unsichtbarer Gast in der Höhle, und registriert, dass eine Maus bei dem lebhaften Treiben nicht mitmacht.
Dann wechselt die Szene, er sieht hinein in ein luftiges Schloss, aufgehängt in den Zweigen des Rhododendronbusches im selben Garten. Dort tanzen Feen, und die schönste von allen, Ninotschka, ist der Mittelpunkt des Balls, bis auch dieses Bild wieder verschwindet. Dann wieder die Höhle, dann ein Käferbataillon, das durch das Gras zieht, ein Frosch erscheint, eine Raupe, eine Grille: Nichts davon gibt zu erkennen, dass es Teil einer in den Träumen des Jungen ausgebreiteten Geschichte ist, und es ist an ihm, die Elemente so lange zu sortieren, bis eine Struktur für ihn und den Leser erkennbar wird.
Denn das ist Biegels Kunstgriff, der hier die schönsten Früchte trägt: Er geht von einer prägnanten Szene aus und springt zurück, er betrachtet die unglückliche Fee und gleich danach ihre frühere Seligkeit, und auch die Geschichten der Tiere, die sie in der Höhle umgeben, werden erst nachträglich geschildert - dies aber nicht als nachgeholte Erzählungen oder in Rückblenden, sondern als gleichwertige Episoden einer Geschichte, die sich um Chronologie nicht groß schert. Denn es sind die Träume des Jungen, die dem Buch Struktur verleihen, und so, wie er, zwischen den Schauplätzen und Zeiten hin- und hergezogen, allmählich immer tiefer in die Geschichte gerät, bis er sogar helfend eingreift, so schärft auch der Leser seinen Blick für die einzelnen Szenen mehr als für die Frage, wie all das zusammenhängt und ob die Handlung nun auf ein zwingendes Ende zusteuert.
Biegels Werk ist der Blick auf die Versehrten, Unglücklichen, Traumatisierten eingeschrieben, ob in "Eine Geschichte für den König", "Eine Nachtlegende" oder "Der Fluch des Wüstenwolfs", und wie in seiner Romantrilogie "Der kleine Kapitän" interessiert ihn die Katastrophe viel weniger als deren spätes Echo und die Heilungsversuche, die sich anschließen. Hier heißt das: Die Fee, der ein in sie verliebter Frosch unabsichtlich die Flügel abgerissen hat und die nun von ihrem früheren Dasein vollständig getrennt lebt, ist umgeben von Tieren, die ihr uneigennützig helfen, jedes auf seine eigene, überraschende Weise. Und das, ohne ihren Verlust und ihre Verstörung je zu relativieren.
Den Leser aber lässt Biegel mit der immer neu aufscheinenden Frage zurück, welchen Anteil der träumende Junge an alldem hat.
TILMAN SPRECKELSEN
Paul Biegel: "Die Uhr schlug Mitternacht". Roman.
Illustriert von Nina Schmidt. Aus dem Niederländischen von Ita Maria Neuer. Urachhaus, Stuttgart 2021. 127 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paul Biegel erzählt in "Die Uhr schlug Mitternacht" von Traum und Abenteuer
Träume sind ein großes Thema in der Kinderliteratur, vor allem solche, die sich von Nacht zu Nacht fortsetzen. Auch Paul Biegels (1925 bis 2006) ursprünglich 1974 erschienenes Buch, das nun unter dem Titel "Die Uhr schlug Mitternacht" die verdienstvolle deutschsprachige Werkausgabe des Autors im Verlag Urachhaus fortsetzt, erzählt von einem Traum in Episoden.
Jede von ihnen beginnt mit der Beschreibung eines in seiner Dachkammer schlafenden Jungen. Er träumt von einer Höhle unter der großen Eiche im Garten seiner Familie, von einer dort versammelten Gesellschaft aus zwei Mäusen, einem Käfer und einer Grille, versammelt um ein Lager, aus dem heraus eine nervöse, herrische Stimme tönt. Was es damit auf sich hat, weiß er selbst nicht, er blickt auf das Geschehen, als wäre er als unsichtbarer Gast in der Höhle, und registriert, dass eine Maus bei dem lebhaften Treiben nicht mitmacht.
Dann wechselt die Szene, er sieht hinein in ein luftiges Schloss, aufgehängt in den Zweigen des Rhododendronbusches im selben Garten. Dort tanzen Feen, und die schönste von allen, Ninotschka, ist der Mittelpunkt des Balls, bis auch dieses Bild wieder verschwindet. Dann wieder die Höhle, dann ein Käferbataillon, das durch das Gras zieht, ein Frosch erscheint, eine Raupe, eine Grille: Nichts davon gibt zu erkennen, dass es Teil einer in den Träumen des Jungen ausgebreiteten Geschichte ist, und es ist an ihm, die Elemente so lange zu sortieren, bis eine Struktur für ihn und den Leser erkennbar wird.
Denn das ist Biegels Kunstgriff, der hier die schönsten Früchte trägt: Er geht von einer prägnanten Szene aus und springt zurück, er betrachtet die unglückliche Fee und gleich danach ihre frühere Seligkeit, und auch die Geschichten der Tiere, die sie in der Höhle umgeben, werden erst nachträglich geschildert - dies aber nicht als nachgeholte Erzählungen oder in Rückblenden, sondern als gleichwertige Episoden einer Geschichte, die sich um Chronologie nicht groß schert. Denn es sind die Träume des Jungen, die dem Buch Struktur verleihen, und so, wie er, zwischen den Schauplätzen und Zeiten hin- und hergezogen, allmählich immer tiefer in die Geschichte gerät, bis er sogar helfend eingreift, so schärft auch der Leser seinen Blick für die einzelnen Szenen mehr als für die Frage, wie all das zusammenhängt und ob die Handlung nun auf ein zwingendes Ende zusteuert.
Biegels Werk ist der Blick auf die Versehrten, Unglücklichen, Traumatisierten eingeschrieben, ob in "Eine Geschichte für den König", "Eine Nachtlegende" oder "Der Fluch des Wüstenwolfs", und wie in seiner Romantrilogie "Der kleine Kapitän" interessiert ihn die Katastrophe viel weniger als deren spätes Echo und die Heilungsversuche, die sich anschließen. Hier heißt das: Die Fee, der ein in sie verliebter Frosch unabsichtlich die Flügel abgerissen hat und die nun von ihrem früheren Dasein vollständig getrennt lebt, ist umgeben von Tieren, die ihr uneigennützig helfen, jedes auf seine eigene, überraschende Weise. Und das, ohne ihren Verlust und ihre Verstörung je zu relativieren.
Den Leser aber lässt Biegel mit der immer neu aufscheinenden Frage zurück, welchen Anteil der träumende Junge an alldem hat.
TILMAN SPRECKELSEN
Paul Biegel: "Die Uhr schlug Mitternacht". Roman.
Illustriert von Nina Schmidt. Aus dem Niederländischen von Ita Maria Neuer. Urachhaus, Stuttgart 2021. 127 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 6 J.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tilman Spreckelsen ist verzaubert von Paul Biegels erstmals 1974 erschienenem Kinderbuch "Die Uhr schlug Mitternacht". Das Buch hat laut Rezensent die Logik von Träumen, ist episodisch aufgebaut und handelt von Fee und Frosch und wie sich ein Unglück heilen lässt. Was der Junge im Buch träumt, strukturiert sich für Spreckelsen erst nach und nach, und nach und nach wird er als Leser in die Geschichte gezogen, deren Zusammenhang und Ziel ihm schließlich gar nicht mehr so wichtig erscheinen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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