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Produktdetails
  • Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung Bd.6
  • Verlag: Campus Verlag
  • 2000.
  • Seitenzahl: 347
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 438g
  • ISBN-13: 9783593364520
  • ISBN-10: 3593364522
  • Artikelnr.: 08584691
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2001

Wo stand Ahasvers Haus?
Mona Körte über die Figur des "Ewigen Juden" in der Literatur

Ein folgenschwerer Fehler: Der Verurteilte wird durch die Stadt zum Richtplatz getrieben und will vor dem Haus des Schusters ausruhen, was dieser erbost verhindert - und dafür furchtbar gestraft wird. Denn der nach Golgatha geführte Christus verfügt, daß der hartherzige Schuster bis in alle Ewigkeit ruhelos umherwandern muß, höchstens drei Tage an einem Ort verbringen darf und überdies mit einem ungesund exakten Gedächtnis gestraft wird. Inzwischen kennt der Schuster Ahasver alles, hat alles schon erlebt und ist durch nichts zu überraschen oder zu erfreuen: eine furchtbare Verkörperung des biblischen "Nichts Neues unter der Sonne".

Der "Ewige Jude" avancierte zu einem europäischen Mythos. 1602 erscheint in Leyden die "Kurtze Beschreibung und Erzehlung/ von einem Juden/ mit Namen Ahasverus", die verschiedene Elemente der Legende bündelt und ein Muster für künftige Dichtungen aufstellt. Zahlreiche Texte, vom historischen über den Schauer- und Trivial- bis hin zum okkulten und grotesken Roman, entstehen in den folgenden vierhundert Jahren vorwiegend in Europa, die den "Ewigen Juden", den "Juif Errant" oder den "Wandering Jew", oft verschlüsselt oder in stark gewandelter Gestalt, auftreten lassen. Sein Wirken beschränkt sich allerdings nicht auf die Literatur - im Ulmer Stadtmuseum wurden vor dem Zweiten Weltkrieg Ahasvers Schuhe ausgestellt, in Jerusalem wurde sein Haus gezeigt.

Die Literaturwissenschaftlerin Mona Körte beleuchtet in ihrer Studie "Die Uneinholbarkeit des Verfolgten" die Konkretisierungen des Motivs in ausgewählten literarischen Texten, vornehmlich des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Die Untersuchungen der einzelnen Romane werden von einer üppigen Einleitung und einem kurzen Ausblick eingerahmt, die in ökonomischer Auswahl der Texte Körtes immense Vertrautheit mit der Motivgeschichte des Wanderers aufzeigen, auch wenn dabei das weite Feld der Trivialliteratur des neunzehnten Jahrhunderts ein wenig zu kurz kommt.

Körte will "eine Interpretation des Ewigen Juden von seinen literarischen Gattungen her entwickeln", und der stete Blick auf die Rolle, die das Motiv im Textzusammenhang einnimmt, führt zu einleuchtenden Ergebnissen: Ahasver, zu Beginn seiner Literarisierung ein "braver Chronist" weltgeschichtlicher Ereignisse, die er als Augenzeuge miterlebt hat, emanzipiert sich zusehends von seiner tradierten Rolle und tradierten Erzählstrukturen, je mehr er seine Wanderung durch die literarischen Gattungen antritt. Seine große Affinität zu Büchern, die Freude am Lesen seiner eigenen Abenteuer allerdings behält er bei.

Bei der Textauswahl verfährt Körte recht frei: Protagonisten müssen nicht ausdrücklich "Ahasver" heißen, um von ihr untersucht zu werden. Läßt sich kein Ewiger Jude finden, geraten auch schon mal "ahasverische Gestalten" ins Blickfeld. Ein solches Verfahren läßt sich zwar prinzipiell rechtfertigen, wenn der Zusammenhang der Protagonisten mit dem Ahasver-Motiv evident ist. Allerdings macht Körte nicht immer klar, ob ein Protagonist von ihr, dem jeweiligen Autor oder anderen Protagonisten den Namen "Ahasver" erhält. Zudem reduziert das Verfahren durchaus vielschichtige Gestalten gewaltsam auf ihre Ähnlichkeit mit dem untoten Wanderer.

In Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" erkennt Körte Mignon und den Harfner als ahasverische Gestalten, die den poetischen Gegenentwurf zur Rationalität der Turmgesellschaft verkörpern. In E. T. A. Hoffmanns Roman "Die Elixiere des Teufels" steht das Erbe Ahasvers für eine zyklische Struktur in der Familiengeschichte, die erst von Medardus durchbrochen wird. In Charles Maturins "Melmoth the Wanderer" (1820) ist die ahasverische Gestalt des Wanderers sogar dazu in der Lage, sich zu verlieben, und weist eine deutliche Verwandtschaft zur Verführergestalt eines Mephistopheles auf.

Gustav Meyrinks Roman "Das Grüne Gesicht" macht 1916 aus Ahasver eine "Leitfigur der Erweckung": "Der Ewige Jude hat sich in der literarischen Phantastik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ein neues Terrain erobert. Er ist nicht mehr Führer durch die Geschichte, als der er in den historischen Romanen des achtzehnten Jahrhunderts literarisiert wurde, nicht mehr potenzierte Vergangenheit, wie ihn die Gothic Novel thematisierte, sondern Führer durch das phantastische Reich des Ich."

Abgeleitet aus derart heterogenen Texten, kann sich kein stimmiges Gesamtbild für eine überzeitliche Gestaltung des Motivs ergeben, was auch nicht in der Absicht der Autorin liegt. Allerdings beweist sich in Körtes Untersuchung die erstaunliche Wirkung, die von der den Zeitläuften entgegengesetzten Anlage Ahasvers auf die Texte ausgeht: "Der Gang des Ewigen Juden, seine Geschichte, ist die Inversion des klassischen Bildungsromans, er durchläuft alles Denk- und Lebbare bis hin zur Todeswunde, bleibt selbst aber ohne Spuren und Entwicklung." So repräsentiert er eine Vergangenheit, "die als unerledigt jede Gegenwart und Zukunft" blockiert, oder verweist, wie später bei Meyrink, auf einen diffusen, aber positiv konnotierten Zustand außerhalb der Gegenwart des Erzählers.

TILMAN SPRECKELSEN

Mona Körte: "Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik". Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 2000. 347 S., br., 78,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zwiespältig äußert sich Tilman Spreckelsen über dieses Buch. Einerseits scheint ihm die Idee, den Spuren und Wandlungen des `ewigen Juden` Ahasver, der von Jesus wegen seiner Hartherzigkeit zum ewigen Wandern verdammt wurde, in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nachzugehen. Doch im Detail hat der Rezensent dann doch einiges an Körtes Vorgehensweise auszusetzen. Zwar findet es Spreckelsen legitim, dass auch Texte untersucht werden, in denen nicht ausdrücklich von `Ahasver` die Rede ist, sondern die lediglich ein starke Verwandtschaft mit dem Motiv erkennen lassen. Doch werde bei Körte nicht immer klar, ob die Protagonisten der Texte tatsächlich von ihren Autoren `Ahasver` genannt werden, oder ob die Autorin selbst sie so bezeichnet. Darüber hinaus hätte sich Spreckelsen eine stärkere Berücksichtigung der "Trivialliteratur des neunzehnten Jahrhunderts" gewünscht, auch wenn er sich insgesamt mit der Auswahl der Texte zufrieden zeigt. Positiv wertet Spreckelsen auch Körtes "immense Vertrautheit mit der Motivgeschichte des Wanderers".

© Perlentaucher Medien GmbH