Der große europäische Gegenwartsautor Miljenko Jergovic begibt sich auf die Spuren seiner aus den unterschiedlichsten Kulturen zusammengewürfelten Familie. In dieser Geschichte voller unerhörter Begebenheiten zieht er alle Register seines Könnens und ergründet, was das Menschsein ausmacht, »weil in jeder Familiengeschichte alles Wichtige der Weltgeschichte steckt«.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Eine Familiengeschichte "dicker als ein Ziegelstein", voller uneindeutiger Charaktere, voller Exkurse, Skizzen, Pausen, detailreich, keiner Chronologie und keinen Konstanten folgend, ist das neue Buch des kroatisch-bosnischen Autors Miljenko Jergovic, erklärt Rezensentin Doris Akrap und man ist schon überzeugt, einen Verriss zu lesen, doch dann die überraschende Wende: Nur ein hervorragender Schriftsteller schafft es, so eine Geschichte spannend zu erzählen, und so einer ist Jergovic, meint Akrap. Die Geschichte des Niedergangs der Familie Stubler aus Sarajevo ist zugleich ein "zeithistorisches Porträt" der damaligen jugoslawischen Gesellschaft und überdies raffiniert gebaut, spannend und erhellend, lobt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Wie man mit brennenden Streichhölzern jongliert
Ein pralles Großwerk der europäischen Literatur: Miljenko Jergovics "Unerhörte Geschichte meiner Familie"
"Miljenko Jergovics ,Unerhörte Geschichte meiner Familie' ist, für mich" - so schrieb Sasa Stanisic, der zwölf Jahre jüngere, aus Bosnien-Hercegovina stammende Schriftsteller -, "das monumentalste Buch, ein Buch von hunderttausend Seiten. Seine Motive und Geschichten haben sich in mir fortgeschrieben, die vielfältige Handlungszweige haben Knospen getrieben und sich weiter verästelt. Sie schlagen ohnehin weit aus im Wirbelsturm der europäischen Vergangenheit, und im Auge des Sturms ruht die Stubler-Sippe, mehrere Generationen, der letzte Nachkomme: Miljenko Jergovic."
Ein großer Wurf ist diese Familiengeschichte, die mehr als ein Jahrhundert gelebte Historie auf dem Balkan in Erinnerung ruft. Jergovic floh im Krieg 1993 aus seiner Heimatstadt Sarajevo und lebt seitdem in Zagreb. Ist er ein bosnischer oder ein kroatischer Schriftsteller? Den Autor interessieren diese nationalen Zuordnungen nicht. Er versteht sich als jugoslawischer Schriftsteller, "kann nichts anderes sein und will nichts anderes sein!". Als sein Land zerfiel, war er 24 Jahre alt, aber noch heute betont der Autor: "Meine kulturelle Identität ist zutiefst jugoslawisch; daran hat der Krieg nichts geändert."
Vorbild für seine Generation von Schriftstellern sind Autoren wie Robert Musil, Joseph Roth und Hermann Broch, die er nicht als Österreicher oder Deutsche versteht, sie sind vielmehr Literaten eines verschwundenen Reiches - und aus diesem Gefühl heraus fühlt er sich ihnen nahe und verwandt. Die unerhörte Familiengeschichte entfaltet ein düsteres, aber auch komisches, ein trauriges und lustiges, ein vielfarbiges Tableau einer untergegangenen Welt, die mit Erinnerungen und Katastrophen zum Bersten gefüllt ist.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie von Karlo Stubler und seiner Frau Johanna, den Urgroßeltern des Autors. Karlo ist Eisenbahner, er spricht Deutsch, auch wenn er sich nicht als nationaler Deutscher fühlt, und lebt zunächst im rumänischen Banat. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Familie nach Dubrovnik versetzt, dort kommt es zu einem Streik der Eisenbahner, Karlo mischt sich ein und wird zur Strafe entlassen. Er lebt mit seiner Frau und den vier Kindern fortan in Sarajevo und wird von den Eisenbahner-Gewerkschaftern finanziell über Wasser gehalten. Die Generationen verzweigen sich, die Sprachen vervielfältigen sich, der Urenkel spricht kein Deutsch mehr: "Ich bin der Erste von was-weiß-ich-wie-vielen Generationen, der kein Deutsch spricht, alle vor mir konnten diese Sprache so gut sprechen wie ihre Muttersprache. Und zwar nicht nur die Deutschen in der Familie, auch die, die keine Deutschen waren. Deutsch war die Sprache ihrer, das heißt unserer Familienkultur. Diese Kultur hatte im engeren Sinne nichts mit Deutschland zu tun, es war eher eine österreichische oder österreichisch-ungarische Kultur." Deutsch als Lingua franca in der Mitte Europas, die anderen Muttersprachen waren Ungarisch, Italienisch, Rumänisch, Slowenisch, Serbisch-Kroatisch-Bosnisch. Alle sind irgendwie Ausländer, feste Identitäten sind eine Schimäre, sie gibt es nicht.
Politisch waren dieser Landstrich und seine Bewohner hin- und hergeschüttelt: osmanisches Reich, k.u.k. Habsburgermonarchie, serbisches Königreich, deutsche Besatzung ab 1941, das sozialistische Jugoslawien unter Tito und der Zerfall im Bürgerkrieg der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ein Schlüsselpunkt der Geschehnisse für alle Generationen ist das Schicksal von Mladen, einem Sohn der Großeltern Olga und Franjo.
Um Mladen im beginnenden Zweiten Weltkrieg zu schützen, überredet ihn seine Mutter Olga, sich bei der SS zu verdingen und nicht zu den Partisanen zu gehen, die gegen die faschistische Besatzung und die Ustascha kämpfen, obwohl ihr Vater Karlo seine kommunistischen Nachbarn öfter vor Razzien der Nazis geschützt hat. Bei der SS glaubt Olga ihren Sohn in Sicherheit. Nur wenige Monate nach Mladens Eintritt in die SS wird er Opfer des Krieges, ein Grab gibt es nicht.
Keiner in der Familie ist politisch engagiert, man schickt sich, so gut es geht, in die Verhältnisse, man überlebt mit Witz und Anstand. Der Autor erzählt eine Geschichte nach der anderen, nie chronologisch, sondern immer ineinander verknäuelt, ein Erzählstrang gebiert den nächsten und spinnt sich fort. Jergovic verzichtet auf logische Kausalzusammenhänge, das Leben ist wirr, und die Geschichten sind ebenso wirr, mal gehören sie zur Familie, mal wird über Nachbarn oder Bekannte erzählt, über eine legendäre Hausbesitzerin und die wechselvolle Geschichte ihrer Mieter, oder er schildert die Spurensuche nach einer Cousine, die in Sofia als Ärztin gearbeitet haben soll und wie vom Erdboden verschluckt ist. Öfter verschwinden Menschen - als Soldaten im Krieg, abtransportiert in ein Konzentrationslager, oder sie werden begraben, obwohl sie noch am Leben sind.
Eine der kuriosesten Geschichten in der Geschichte ist die des zum Juden gemachten Joschka Herzl. Er ist Sohn eines begnadeten Musikerehepaares aus Zagreb, das nicht verwinden kann, dass ihr Sohn total unmusikalisch ist. Dieser Sohn ist eine so große Schmach für die Eltern, dass sie ihn zu einer Tante nach Graz geben. In Zagreb wird eine fiktive Beerdigung für den ungeliebten Sohn veranstaltet, und er ist fortan gestorben.
Joschka fühlt sich wohl bei der Tante, die ein behindertes Kind hat. Er erfindet einen Plan, wie er sich an seinen Eltern rächen kann. Finger sind für Pianisten der größte Schatz, und so entwickelt er eine ungeheure Fingerfertigkeit, indem er mit Streichhölzern virtuose Jonglier-Kunststücke vollbringt. Wie ein Pianist übt er bis zu achtzehn Stunden am Tag, um seine Meisterschaft zu vervollkommnen.
Die Umwelt kann er dann vergessen: "An einem Montag traten SS-Leute die Tür zum Haus von Rosalie Herzl ein und führten sie und ihre geistig zurückgebliebene Tochter unter schrillen Schreien und vielen Tränen ab. Joschka Herzl saß derweil am Schreibtisch und jonglierte zum ersten Mal mit acht brennenden Streichhölzern. Die Daumen auf das schwarze Furnier gestützt, die Handflächen unnatürlich verdreht, jonglierte er mit Minifackeln, so dass in den Fingerkuppen von jedem der acht Finger ein Genie saß, der Geist eines großen Pianisten, Artisten und Buddhisten, der die Kraft jedes neuen Stoßes exakt auf den Gewichtsverlust der Streichhölzer durch das Abbrennen abstimmte, bis sie sich nach dem dreiundzwanzigsten oder vierundzwanzigsten Hochschnippen gänzlich in Rauch und Asche aufgelöst hatten. Den SS-Leuten blieb der Mund offen stehen. Der Anblick verwirrte sie derart, dass sie Joschka Herzl daließen . . . Während er jonglierte, bekam er nichts mit, was um ihn herum vorging. Er zündete ein Streichholz an, schnippte es mit der Fingerkuppe in die Luft, wartete auf das brennende Ende, zündete daran das nächste an, warf es hoch, sah zu, wie es zurückkam und sich im Flug um dreihundertsechzig Grad drehte, und das acht Mal, und so hörte und sah er nicht, wie Tante Rosa und ihre Tochter von den Deutschen abgeführt wurden."
Von solchen Geschichten ist der Roman prall gefüllt; der Autor lässt den Leser eintauchen in vergessene, untergegangene Welten, er setzt Menschen kleine Denkmäler im Zauber eines großen Mosaiks von Lebenswirklichkeiten, die sich wie in einem Kaleidoskop verändern, verzerren, verzaubern. Die letzten zweihundert Seiten widmet Miljenko Jergovic seiner Mutter Javorka, die in Sarajevo im Jahre 2012 im Sterben liegt. Von ihr möchte er noch so viel wie möglich aus der eigenen Familiengeschichte erfahren, um es für die Nachwelt festhalten zu können. Als der Sohn sich zum letzten Mal von seiner Mutter verabschiedet, packt er seine Sachen und legt in der Reisetasche ganz obenauf ein dickes, schweres Buch (1724 Seiten), die "Parallelgeschichten" des ungarischen Schriftstellers Péter Nádas.
LERKE VON SAALFELD
Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie". Roman.
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 1141 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein pralles Großwerk der europäischen Literatur: Miljenko Jergovics "Unerhörte Geschichte meiner Familie"
"Miljenko Jergovics ,Unerhörte Geschichte meiner Familie' ist, für mich" - so schrieb Sasa Stanisic, der zwölf Jahre jüngere, aus Bosnien-Hercegovina stammende Schriftsteller -, "das monumentalste Buch, ein Buch von hunderttausend Seiten. Seine Motive und Geschichten haben sich in mir fortgeschrieben, die vielfältige Handlungszweige haben Knospen getrieben und sich weiter verästelt. Sie schlagen ohnehin weit aus im Wirbelsturm der europäischen Vergangenheit, und im Auge des Sturms ruht die Stubler-Sippe, mehrere Generationen, der letzte Nachkomme: Miljenko Jergovic."
Ein großer Wurf ist diese Familiengeschichte, die mehr als ein Jahrhundert gelebte Historie auf dem Balkan in Erinnerung ruft. Jergovic floh im Krieg 1993 aus seiner Heimatstadt Sarajevo und lebt seitdem in Zagreb. Ist er ein bosnischer oder ein kroatischer Schriftsteller? Den Autor interessieren diese nationalen Zuordnungen nicht. Er versteht sich als jugoslawischer Schriftsteller, "kann nichts anderes sein und will nichts anderes sein!". Als sein Land zerfiel, war er 24 Jahre alt, aber noch heute betont der Autor: "Meine kulturelle Identität ist zutiefst jugoslawisch; daran hat der Krieg nichts geändert."
Vorbild für seine Generation von Schriftstellern sind Autoren wie Robert Musil, Joseph Roth und Hermann Broch, die er nicht als Österreicher oder Deutsche versteht, sie sind vielmehr Literaten eines verschwundenen Reiches - und aus diesem Gefühl heraus fühlt er sich ihnen nahe und verwandt. Die unerhörte Familiengeschichte entfaltet ein düsteres, aber auch komisches, ein trauriges und lustiges, ein vielfarbiges Tableau einer untergegangenen Welt, die mit Erinnerungen und Katastrophen zum Bersten gefüllt ist.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie von Karlo Stubler und seiner Frau Johanna, den Urgroßeltern des Autors. Karlo ist Eisenbahner, er spricht Deutsch, auch wenn er sich nicht als nationaler Deutscher fühlt, und lebt zunächst im rumänischen Banat. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Familie nach Dubrovnik versetzt, dort kommt es zu einem Streik der Eisenbahner, Karlo mischt sich ein und wird zur Strafe entlassen. Er lebt mit seiner Frau und den vier Kindern fortan in Sarajevo und wird von den Eisenbahner-Gewerkschaftern finanziell über Wasser gehalten. Die Generationen verzweigen sich, die Sprachen vervielfältigen sich, der Urenkel spricht kein Deutsch mehr: "Ich bin der Erste von was-weiß-ich-wie-vielen Generationen, der kein Deutsch spricht, alle vor mir konnten diese Sprache so gut sprechen wie ihre Muttersprache. Und zwar nicht nur die Deutschen in der Familie, auch die, die keine Deutschen waren. Deutsch war die Sprache ihrer, das heißt unserer Familienkultur. Diese Kultur hatte im engeren Sinne nichts mit Deutschland zu tun, es war eher eine österreichische oder österreichisch-ungarische Kultur." Deutsch als Lingua franca in der Mitte Europas, die anderen Muttersprachen waren Ungarisch, Italienisch, Rumänisch, Slowenisch, Serbisch-Kroatisch-Bosnisch. Alle sind irgendwie Ausländer, feste Identitäten sind eine Schimäre, sie gibt es nicht.
Politisch waren dieser Landstrich und seine Bewohner hin- und hergeschüttelt: osmanisches Reich, k.u.k. Habsburgermonarchie, serbisches Königreich, deutsche Besatzung ab 1941, das sozialistische Jugoslawien unter Tito und der Zerfall im Bürgerkrieg der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ein Schlüsselpunkt der Geschehnisse für alle Generationen ist das Schicksal von Mladen, einem Sohn der Großeltern Olga und Franjo.
Um Mladen im beginnenden Zweiten Weltkrieg zu schützen, überredet ihn seine Mutter Olga, sich bei der SS zu verdingen und nicht zu den Partisanen zu gehen, die gegen die faschistische Besatzung und die Ustascha kämpfen, obwohl ihr Vater Karlo seine kommunistischen Nachbarn öfter vor Razzien der Nazis geschützt hat. Bei der SS glaubt Olga ihren Sohn in Sicherheit. Nur wenige Monate nach Mladens Eintritt in die SS wird er Opfer des Krieges, ein Grab gibt es nicht.
Keiner in der Familie ist politisch engagiert, man schickt sich, so gut es geht, in die Verhältnisse, man überlebt mit Witz und Anstand. Der Autor erzählt eine Geschichte nach der anderen, nie chronologisch, sondern immer ineinander verknäuelt, ein Erzählstrang gebiert den nächsten und spinnt sich fort. Jergovic verzichtet auf logische Kausalzusammenhänge, das Leben ist wirr, und die Geschichten sind ebenso wirr, mal gehören sie zur Familie, mal wird über Nachbarn oder Bekannte erzählt, über eine legendäre Hausbesitzerin und die wechselvolle Geschichte ihrer Mieter, oder er schildert die Spurensuche nach einer Cousine, die in Sofia als Ärztin gearbeitet haben soll und wie vom Erdboden verschluckt ist. Öfter verschwinden Menschen - als Soldaten im Krieg, abtransportiert in ein Konzentrationslager, oder sie werden begraben, obwohl sie noch am Leben sind.
Eine der kuriosesten Geschichten in der Geschichte ist die des zum Juden gemachten Joschka Herzl. Er ist Sohn eines begnadeten Musikerehepaares aus Zagreb, das nicht verwinden kann, dass ihr Sohn total unmusikalisch ist. Dieser Sohn ist eine so große Schmach für die Eltern, dass sie ihn zu einer Tante nach Graz geben. In Zagreb wird eine fiktive Beerdigung für den ungeliebten Sohn veranstaltet, und er ist fortan gestorben.
Joschka fühlt sich wohl bei der Tante, die ein behindertes Kind hat. Er erfindet einen Plan, wie er sich an seinen Eltern rächen kann. Finger sind für Pianisten der größte Schatz, und so entwickelt er eine ungeheure Fingerfertigkeit, indem er mit Streichhölzern virtuose Jonglier-Kunststücke vollbringt. Wie ein Pianist übt er bis zu achtzehn Stunden am Tag, um seine Meisterschaft zu vervollkommnen.
Die Umwelt kann er dann vergessen: "An einem Montag traten SS-Leute die Tür zum Haus von Rosalie Herzl ein und führten sie und ihre geistig zurückgebliebene Tochter unter schrillen Schreien und vielen Tränen ab. Joschka Herzl saß derweil am Schreibtisch und jonglierte zum ersten Mal mit acht brennenden Streichhölzern. Die Daumen auf das schwarze Furnier gestützt, die Handflächen unnatürlich verdreht, jonglierte er mit Minifackeln, so dass in den Fingerkuppen von jedem der acht Finger ein Genie saß, der Geist eines großen Pianisten, Artisten und Buddhisten, der die Kraft jedes neuen Stoßes exakt auf den Gewichtsverlust der Streichhölzer durch das Abbrennen abstimmte, bis sie sich nach dem dreiundzwanzigsten oder vierundzwanzigsten Hochschnippen gänzlich in Rauch und Asche aufgelöst hatten. Den SS-Leuten blieb der Mund offen stehen. Der Anblick verwirrte sie derart, dass sie Joschka Herzl daließen . . . Während er jonglierte, bekam er nichts mit, was um ihn herum vorging. Er zündete ein Streichholz an, schnippte es mit der Fingerkuppe in die Luft, wartete auf das brennende Ende, zündete daran das nächste an, warf es hoch, sah zu, wie es zurückkam und sich im Flug um dreihundertsechzig Grad drehte, und das acht Mal, und so hörte und sah er nicht, wie Tante Rosa und ihre Tochter von den Deutschen abgeführt wurden."
Von solchen Geschichten ist der Roman prall gefüllt; der Autor lässt den Leser eintauchen in vergessene, untergegangene Welten, er setzt Menschen kleine Denkmäler im Zauber eines großen Mosaiks von Lebenswirklichkeiten, die sich wie in einem Kaleidoskop verändern, verzerren, verzaubern. Die letzten zweihundert Seiten widmet Miljenko Jergovic seiner Mutter Javorka, die in Sarajevo im Jahre 2012 im Sterben liegt. Von ihr möchte er noch so viel wie möglich aus der eigenen Familiengeschichte erfahren, um es für die Nachwelt festhalten zu können. Als der Sohn sich zum letzten Mal von seiner Mutter verabschiedet, packt er seine Sachen und legt in der Reisetasche ganz obenauf ein dickes, schweres Buch (1724 Seiten), die "Parallelgeschichten" des ungarischen Schriftstellers Péter Nádas.
LERKE VON SAALFELD
Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie". Roman.
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 1141 S., geb., 34,- [Euro].
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»Das ist ein großes Buch, und so viele große Bücher liest man nicht, aber wenn man eines erwischt, dann weiß man das sofort.«Die Zeit»Weltliteratur. (...) Gut, dass es den endlos talentierten, mutigen und witzigen Miljenko Jergovic gibt.«NZZ»Ein aus Fakten und Fiktion gewobenes Panorama südosteuropäischer Geschichte. (...) Große, kluge Literatur, die souverän das kulturelle Erbe der Balkan-Region zitiert, travestiert, in Frage stellt.«Weser Kurier