Ein amüsanter Schelmenroman über unsere Zeit
Es ist Valentinstag, doch nie zuvor hat Maxwell sich einsamer gefühlt: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Jugendliebe hält ihn für einen bemitleidenswerten Verlierer, und auch seine vierundsiebzig Facebook-Freunde können ihm nicht helfen. Da kommt das seltsame Angebot, an einer Wettfahrt zu den Shetlandinseln teilzunehmen, wie gerufen. Voller Hoffnung macht er sich mit "Emma", seinem freundlichen Navigationsgerät, auf den Weg - doch die Fahrt zum nördlichsten Punkt des Königreichs entwickelt sich zu einer Reise in die dunkelsten Ecken seiner Vergangenheit.
Jonathan Coe, einer der Stars der Londoner Literaturszene, ist mit einem außerordentlichen Erzähltalent gesegnet: Mit "Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim" hat er einen Roman geschaffen, der voller überraschender Plotwindungen steckt und von Geschichten überbordet - eine höchst vergnügliche Tour de Force durch die Befindlichkeiten unserer Zeit.
Großes Lesevergnügen: tragikomische Familiengeschichte und abenteuerliche Road-Novel zugleich.
Es ist Valentinstag, doch nie zuvor hat Maxwell sich einsamer gefühlt: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Jugendliebe hält ihn für einen bemitleidenswerten Verlierer, und auch seine vierundsiebzig Facebook-Freunde können ihm nicht helfen. Da kommt das seltsame Angebot, an einer Wettfahrt zu den Shetlandinseln teilzunehmen, wie gerufen. Voller Hoffnung macht er sich mit "Emma", seinem freundlichen Navigationsgerät, auf den Weg - doch die Fahrt zum nördlichsten Punkt des Königreichs entwickelt sich zu einer Reise in die dunkelsten Ecken seiner Vergangenheit.
Jonathan Coe, einer der Stars der Londoner Literaturszene, ist mit einem außerordentlichen Erzähltalent gesegnet: Mit "Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim" hat er einen Roman geschaffen, der voller überraschender Plotwindungen steckt und von Geschichten überbordet - eine höchst vergnügliche Tour de Force durch die Befindlichkeiten unserer Zeit.
Großes Lesevergnügen: tragikomische Familiengeschichte und abenteuerliche Road-Novel zugleich.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2011Nachkaufberater trifft Ehebruchshelferin
Jonathan Coes neuer Roman „Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim“ behandelt seinen mittelmäßigen Helden mit liebevoller Einfühlung und humanem Humor
Eigentümlich, was die junge Frau da treibt. Mit einer großen Tasche und offenkundig schlechtem Gewissen schleicht sie im Flughafen von Singapur herum. Wahrnehmbar selbst für einen unbedarften Beobachter wie Max, den Ich-Erzähler des Buchs, strahlt sie die Aura einer Ladendiebin aus. Aber sie tritt nirgends ein. Stattdessen macht sie sich immer irgendwie an ihrer Tasche zu schaffen. Er starrt sie so unverstellt an, dass sie schließlich herüberkommt und ihm pampig versichert, es sei nicht verboten, was sie da mache. Ja, aber was macht sie denn? „Sagen wir es so: Ich arbeite für eine Firma, die einer anspruchsvollen Kundschaft einen diskreten und äußerst nützlichen Dienst zur Verfügung stellt.“
Nur langsam gewinnt ihr Berufsbild deutliche Gestalt: Ehebruchshelferin ist sie. Sie zeichnet an den Flughäfen der Welt die typischen Geräusche auf, namentlich die Durchsagen, und verkauft diese, auf CDs gebrannt, an reisende Ehemänner, die sie einlegen während sie vom Hotelzimmer aus (mit Doppelbett) ihre Ehefrauen anrufen, um ihnen mitzuteilen, dass sich der Rückflug leider etwas verzögere. Welch besseren Beweis für die Wahrheit dieser Auskunft gäbe es als die authentische Geräuschkulisse?
Mit einem so spannenden Beruf kann Max, der dann für den langen Flug zurück nach England neben Poppy (so heißt die Helferin) zu sitzen kommt, nicht aufwarten. Er selbst war mit seiner Stellung als „Nachkaufberater“ in der Reklamationsabteilung eines Kaufhauses zwar immer zufrieden; nicht jedoch seine Frau Caroline. Vor sechs Monaten hat sie ihn verlassen und die gemeinsame Tochter Lucy mitgenommen, woraufhin Max, 48 Jahre alt und damit ohnedies für die Krisen des mittleren Lebensabschnitts prädestiniert, in ein depressives Loch fiel. Auch dass er nach Australien reiste, um seinen schon recht alten Vater zu besuchen, konnte ihm wenig helfen, denn dieser ist der herzenskalte Einzelgänger geblieben, der er immer war. Was soll Max jetzt tun, wo er wieder daheim in Watford ist, einer Londoner Trabantenstadt ohne eine Spur von Ruhm und Schönheit? Mit Schrecken stellt er fest, dass ihm, während er siebzig neue Freunde über Facebook gewonnen hat, alle Kontakte in der wirklichen Welt weggebrochen sind und er sich inmitten einer „Terrible Privacy“ befindet – so lautet der englische Titel des neuen Romans von Jonathan Coe.
Die deutsche Ausgabe macht daraus „Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim“. Zugleich verheißt sie auf dem Umschlag einen „amüsanten Schelmenroman über unsere Zeit“. Das heißt, das Pendel nach beiden Seiten viel zu weit ausschlagen zu lassen. Denn weder hat Max die vitale Lustigkeit des Schelms, noch durchlebt er eine Tragödie kosmischen Zuschnitts. Ein ganz gewöhnlicher Mann ist er, der sich eher treiben lässt, als dass er selbst etwas unternähme. Und doch vermag ihn sein Autor mit einer feinen Empfindlichkeit auszustatten, die das Bild des zeitgenössischen Großbritannien auf so gedämpfte wie genaue Weise registriert: seine Verkehrskreisel, Einkaufszentren, Raststätten.
Max hat seine Erlebnisse der Verzagtheit, Enttäuschung, Demütigung, aber auch der jähen, wenngleich leisen Freude, wo er auf unerwartete Freundlichkeit trifft. Eigentlich trifft er sie ziemlich oft; das graue kalte England, wo es im März noch schneit, hat doch viel mehr Platz für sie, als Max und der Leser zu hoffen wagten. Ja, das ist das Bemerkenswerte an diesem Buch: Wie es den Leser ganz und gar für diesen alltäglichen, ängstlichen, grundanständigen Menschen Max einzunehmen weiß. Unter der kühlen Oberfläche und im dezenten Ton – den auch die deutsche Übersetzung von Walter Ahlers zu wahren versteht – verbirgt sich bedeutende erzählerische Erfindungskraft und ein großer Reichtum an Emotionen.
Das Buch hat auch seinen Humor, nicht den rücksichtslosen des Schelmen, der sich in einer chaotischen Gesellschaft sein Recht auf eigene Faust verschafft; sondern einen weit humaneren. Wenn Max sich wegen einer Werbekampagne für Bio-Zahnbürsten auf den Weg zu den Shetland-Inseln macht, so erscheint das zunächst wie eine Groteske. Gäbe es nicht die alte Miss Erith, die frühere Nachbarin von Max’ Vater, die der Sohn auf seinem einsamen Weg in den Norden aufsucht, weil sie noch den Schlüssel zu dessen leerstehender Wohnung hat. Und es kommt zu einer jener unverhofft freundlichen Begegnungen, die für das Buch so große Bedeutung haben. „Ich gab ihr die Bürste, und sie drehte sie langsam, beinah ehrfurchtsvoll ein ums andere Mal zwischen den Fingern, als hätte sie in ihren neunundsiebzig Jahren noch nie einen so wundersamen Gegenstand gesehen. Als sie ihn mir zurückgab, hatten sich – sofern ich es mir nicht einbildete – ihre Augen aufgeklart und blickten mich mit einem ganz neuen, verjüngten Leuchten an. ‚Die können Sie . . . Sie dürfen Sie behalten, wenn Sie möchten.‘ ‚Wirklich?‘“
Die Zahnbürste entschädigt sie für ein Leben, das sonst wenig Höhepunkte aufweist. Zusammen mit dem deutlich jüngeren pakistanischen Arzt Mumtaz, dem Gefährten ihrer späten Jahre, klagt sie im Duett über den Niedergang des alten, industriellen England. Dass auch Herr Mumtaz hier einstimmt, entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn in jenem alten England wäre für ihn gewiss kein Platz gewesen; aber Autor und Erzähler geben ihn an diese Komik nicht preis. Sie schweigen.
Dass er an den richtigen Stellen schweigen kann, gehört zum Charme und zum Takt des nicht eben dünnen Romans. Und auch davon, wie sich am Ende überraschend das verhohlene Grundunglück in Max’ Leben aufzulösen scheint, hört der Leser kaum mehr als das Rauschen des sich senkenden Vorhangs. Deswegen reagiert er einigermaßen gereizt auf die allerletzte Szene, wo der Ich-Erzähler plötzlich seinem Autor gegenübersteht und dieser ihm verkündet, es sei vorbei, Max gehe nirgends mehr hin, er habe seine Aufgabe als Figur erledigt. Es ist wahr, Romane lassen sich immer schwer beenden. Denn man kann ja gar nicht anders, als sich das Personal in dessen weiterem Leben vorzustellen, sozusagen der künstlerischen Aufsicht entlaufen. Aber muss Coe darum sein Buch, dieses Wunder an liebevoller Einfühlung, zum Schluss unbedingt durch ein solches postmodern-auktoriales Mätzchen verunstalten?
BURKHARD MÜLLER
JONATHAN COE: Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim. Deutsch von Walter Ahlers. Roman. DVA, München 2010. 405 Seiten, 22,99 Euro.
Im deindustrialisierten
England von heute kann schon
eine Zahnbürste ein Trost sein
Jonathan Coe Foto: laif
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jonathan Coes neuer Roman „Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim“ behandelt seinen mittelmäßigen Helden mit liebevoller Einfühlung und humanem Humor
Eigentümlich, was die junge Frau da treibt. Mit einer großen Tasche und offenkundig schlechtem Gewissen schleicht sie im Flughafen von Singapur herum. Wahrnehmbar selbst für einen unbedarften Beobachter wie Max, den Ich-Erzähler des Buchs, strahlt sie die Aura einer Ladendiebin aus. Aber sie tritt nirgends ein. Stattdessen macht sie sich immer irgendwie an ihrer Tasche zu schaffen. Er starrt sie so unverstellt an, dass sie schließlich herüberkommt und ihm pampig versichert, es sei nicht verboten, was sie da mache. Ja, aber was macht sie denn? „Sagen wir es so: Ich arbeite für eine Firma, die einer anspruchsvollen Kundschaft einen diskreten und äußerst nützlichen Dienst zur Verfügung stellt.“
Nur langsam gewinnt ihr Berufsbild deutliche Gestalt: Ehebruchshelferin ist sie. Sie zeichnet an den Flughäfen der Welt die typischen Geräusche auf, namentlich die Durchsagen, und verkauft diese, auf CDs gebrannt, an reisende Ehemänner, die sie einlegen während sie vom Hotelzimmer aus (mit Doppelbett) ihre Ehefrauen anrufen, um ihnen mitzuteilen, dass sich der Rückflug leider etwas verzögere. Welch besseren Beweis für die Wahrheit dieser Auskunft gäbe es als die authentische Geräuschkulisse?
Mit einem so spannenden Beruf kann Max, der dann für den langen Flug zurück nach England neben Poppy (so heißt die Helferin) zu sitzen kommt, nicht aufwarten. Er selbst war mit seiner Stellung als „Nachkaufberater“ in der Reklamationsabteilung eines Kaufhauses zwar immer zufrieden; nicht jedoch seine Frau Caroline. Vor sechs Monaten hat sie ihn verlassen und die gemeinsame Tochter Lucy mitgenommen, woraufhin Max, 48 Jahre alt und damit ohnedies für die Krisen des mittleren Lebensabschnitts prädestiniert, in ein depressives Loch fiel. Auch dass er nach Australien reiste, um seinen schon recht alten Vater zu besuchen, konnte ihm wenig helfen, denn dieser ist der herzenskalte Einzelgänger geblieben, der er immer war. Was soll Max jetzt tun, wo er wieder daheim in Watford ist, einer Londoner Trabantenstadt ohne eine Spur von Ruhm und Schönheit? Mit Schrecken stellt er fest, dass ihm, während er siebzig neue Freunde über Facebook gewonnen hat, alle Kontakte in der wirklichen Welt weggebrochen sind und er sich inmitten einer „Terrible Privacy“ befindet – so lautet der englische Titel des neuen Romans von Jonathan Coe.
Die deutsche Ausgabe macht daraus „Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim“. Zugleich verheißt sie auf dem Umschlag einen „amüsanten Schelmenroman über unsere Zeit“. Das heißt, das Pendel nach beiden Seiten viel zu weit ausschlagen zu lassen. Denn weder hat Max die vitale Lustigkeit des Schelms, noch durchlebt er eine Tragödie kosmischen Zuschnitts. Ein ganz gewöhnlicher Mann ist er, der sich eher treiben lässt, als dass er selbst etwas unternähme. Und doch vermag ihn sein Autor mit einer feinen Empfindlichkeit auszustatten, die das Bild des zeitgenössischen Großbritannien auf so gedämpfte wie genaue Weise registriert: seine Verkehrskreisel, Einkaufszentren, Raststätten.
Max hat seine Erlebnisse der Verzagtheit, Enttäuschung, Demütigung, aber auch der jähen, wenngleich leisen Freude, wo er auf unerwartete Freundlichkeit trifft. Eigentlich trifft er sie ziemlich oft; das graue kalte England, wo es im März noch schneit, hat doch viel mehr Platz für sie, als Max und der Leser zu hoffen wagten. Ja, das ist das Bemerkenswerte an diesem Buch: Wie es den Leser ganz und gar für diesen alltäglichen, ängstlichen, grundanständigen Menschen Max einzunehmen weiß. Unter der kühlen Oberfläche und im dezenten Ton – den auch die deutsche Übersetzung von Walter Ahlers zu wahren versteht – verbirgt sich bedeutende erzählerische Erfindungskraft und ein großer Reichtum an Emotionen.
Das Buch hat auch seinen Humor, nicht den rücksichtslosen des Schelmen, der sich in einer chaotischen Gesellschaft sein Recht auf eigene Faust verschafft; sondern einen weit humaneren. Wenn Max sich wegen einer Werbekampagne für Bio-Zahnbürsten auf den Weg zu den Shetland-Inseln macht, so erscheint das zunächst wie eine Groteske. Gäbe es nicht die alte Miss Erith, die frühere Nachbarin von Max’ Vater, die der Sohn auf seinem einsamen Weg in den Norden aufsucht, weil sie noch den Schlüssel zu dessen leerstehender Wohnung hat. Und es kommt zu einer jener unverhofft freundlichen Begegnungen, die für das Buch so große Bedeutung haben. „Ich gab ihr die Bürste, und sie drehte sie langsam, beinah ehrfurchtsvoll ein ums andere Mal zwischen den Fingern, als hätte sie in ihren neunundsiebzig Jahren noch nie einen so wundersamen Gegenstand gesehen. Als sie ihn mir zurückgab, hatten sich – sofern ich es mir nicht einbildete – ihre Augen aufgeklart und blickten mich mit einem ganz neuen, verjüngten Leuchten an. ‚Die können Sie . . . Sie dürfen Sie behalten, wenn Sie möchten.‘ ‚Wirklich?‘“
Die Zahnbürste entschädigt sie für ein Leben, das sonst wenig Höhepunkte aufweist. Zusammen mit dem deutlich jüngeren pakistanischen Arzt Mumtaz, dem Gefährten ihrer späten Jahre, klagt sie im Duett über den Niedergang des alten, industriellen England. Dass auch Herr Mumtaz hier einstimmt, entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn in jenem alten England wäre für ihn gewiss kein Platz gewesen; aber Autor und Erzähler geben ihn an diese Komik nicht preis. Sie schweigen.
Dass er an den richtigen Stellen schweigen kann, gehört zum Charme und zum Takt des nicht eben dünnen Romans. Und auch davon, wie sich am Ende überraschend das verhohlene Grundunglück in Max’ Leben aufzulösen scheint, hört der Leser kaum mehr als das Rauschen des sich senkenden Vorhangs. Deswegen reagiert er einigermaßen gereizt auf die allerletzte Szene, wo der Ich-Erzähler plötzlich seinem Autor gegenübersteht und dieser ihm verkündet, es sei vorbei, Max gehe nirgends mehr hin, er habe seine Aufgabe als Figur erledigt. Es ist wahr, Romane lassen sich immer schwer beenden. Denn man kann ja gar nicht anders, als sich das Personal in dessen weiterem Leben vorzustellen, sozusagen der künstlerischen Aufsicht entlaufen. Aber muss Coe darum sein Buch, dieses Wunder an liebevoller Einfühlung, zum Schluss unbedingt durch ein solches postmodern-auktoriales Mätzchen verunstalten?
BURKHARD MÜLLER
JONATHAN COE: Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim. Deutsch von Walter Ahlers. Roman. DVA, München 2010. 405 Seiten, 22,99 Euro.
Im deindustrialisierten
England von heute kann schon
eine Zahnbürste ein Trost sein
Jonathan Coe Foto: laif
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2011Nimm's leicht mit Twitter
Jonathan Coe schickt einen Jedermann auf Reisen
Das Alltägliche ist von jeher Liebling der Literatur. Harold Bloom, die Hauptfigur des Joyceschen "Ulysses" (1922), ist genauso durchschnittlich wie der Protagonist von Charles Chadwicks "Ein unauffälliger Mann" (2005). Der Ich-Erzähler von Jonathan Coes Roman "Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim" reiht sich ein in diese Riege literarischer Dutzendmenschen.
Als Kind seiner Zeit hat Max einen Facebook-Account und ein Mobiltelefon: Wozu anrufen oder gar persönlich vorbeikommen, wenn man eine SMS schreiben kann? Seine Frau hat den bindungsunfähigen Endvierziger verlassen, von seiner Tochter hat sich Sim ebenfalls entfremdet: Bei einem Besuch beschenkt er den Teenager ausgerechnet mit einem Malbuch. Während Coes voriger Roman, "Der Regen bevor er fällt" (2007), sich mit problematischen Mütter-Töchter-Verhältnissen auseinandergesetzt hatte, geht es nun um die Beziehung des Helden zu seinem nach Australien ausgewanderten Vater. Leider hat man sich nichts zu sagen, denn Maxwell Sim fürchtet sich vor zu viel Nähe: "Tagtäglich laufen wir umher, hasten hierhin und dorthin, verfehlen einander nur um Zentimeter, aber haben kaum einmal wirklich Kontakt. Alle diese Beinaheunfälle. Alle diese potentiellen Kollisionen. Beängstigend, wenn man genauer darüber nachdenkt - man sollte es besser bleiben lassen."
Sim lässt es dann aber doch nicht bleiben. Im Auftrag einer ökologisch korrekten Zahnbürstenfirma macht er sich als Vertreter zum nördlichsten Punkt des Vereinigten Königreichs, den Shetland-Inseln, auf. Unterwegs schneit er bei den Eltern seines Jugendfreundes in Birmingham herein, macht einen Kurzbesuch im Lake District bei Ex-Frau und Tochter und trifft sich in Edinburgh mit seiner ehemaligen Jugendliebe. Zu echtem Kontakt kommt es bei diesen Begegnungen kaum, am Ende zieht Max die Gesellschaft seines Navigationssystems vor: Die Stimme, die er zärtlich Emma nennt, dient ihm als Psychotherapeutin und schließlich als Geliebte.
"Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim" ist ein höchst zeitgenössischer Roman, der die lange literarische Tradition, in der er steht, jedoch nicht leugnen will. So erinnert dieses britische Roadmovie an die Reisen- und Quest-Romane Henry Fieldings, über den Jonathan Coe promoviert hat. Maxwell Sim lamentiert, dass man heute dank CCTV und Satellitenüberwachung überhaupt nicht mehr verschwinden könne, wie es dem gescheiterten Weltumsegler Donald Crowhurst, mit dem sich Sim identifiziert, noch möglich war. Doch genau so, wie Crowhurst Ende der sechziger Jahre sein Logbuch akribisch fingierte, können Geschäftsmänner ihren Ehefrauen heutzutage interkontinentale Geschäftsreisen vortäuschen, wenn es sie zu ihren jüngeren Geliebten treibt - schließlich gibt es Zeitgenossen wie Max' Bekannte Poppy, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, die Durchsagen internationaler Flughäfen aufzuzeichnen und als Hintergrund-CD für Alibi-Telefonanrufe zu verscherbeln.
Um aktuell zu sein, kann britische Literatur zurzeit kaum ohne Kapitalismus- und Konsumkritik auskommen, das belegen Sims streckenweise anstrengende Tiraden über Bankenspekulationen und Manager-Boni. Störend auch die wiederholten Schludrigkeiten der Übersetzung, die versehentlich "Du" und "Sie" durcheinanderbringt und eine Zwei-Zimmer-Wohnung als Wohnung mit "zwei Schlafzimmern" darstellt.
Bei der britischen Kritik war Coe bislang nicht allzu wohl gelitten: Seine Bücher gelten als humorvolle easy reads, als leichte Kost. Tatsächlich stellt auch der schlichte Maxwell Sim den Leser vor keine allzu großen Herausforderungen. Daran ändern auch die vier Epigraphe und die Integration unterschiedlicher Textsorten nichts. Auf den letzten Seiten seines Romans allerdings lässt Coe keinen Zweifel daran, dass literarische Helden, sosehr aus dem Leben gegriffen sie auch scheinen mögen, Leibeigene ihres Schriftstellers sind und bleiben. Gefangen sind sie in ihrer literarischen Verfasstheit wie ihre realen Entsprechungen in den Zwängen ihres jeweiligen Daseins.
MARGRET FETZER
Jonathan Coe: "Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim". Roman.
Aus dem Englischen von Walter Ahlers. DVA, München 2010. 409 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jonathan Coe schickt einen Jedermann auf Reisen
Das Alltägliche ist von jeher Liebling der Literatur. Harold Bloom, die Hauptfigur des Joyceschen "Ulysses" (1922), ist genauso durchschnittlich wie der Protagonist von Charles Chadwicks "Ein unauffälliger Mann" (2005). Der Ich-Erzähler von Jonathan Coes Roman "Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim" reiht sich ein in diese Riege literarischer Dutzendmenschen.
Als Kind seiner Zeit hat Max einen Facebook-Account und ein Mobiltelefon: Wozu anrufen oder gar persönlich vorbeikommen, wenn man eine SMS schreiben kann? Seine Frau hat den bindungsunfähigen Endvierziger verlassen, von seiner Tochter hat sich Sim ebenfalls entfremdet: Bei einem Besuch beschenkt er den Teenager ausgerechnet mit einem Malbuch. Während Coes voriger Roman, "Der Regen bevor er fällt" (2007), sich mit problematischen Mütter-Töchter-Verhältnissen auseinandergesetzt hatte, geht es nun um die Beziehung des Helden zu seinem nach Australien ausgewanderten Vater. Leider hat man sich nichts zu sagen, denn Maxwell Sim fürchtet sich vor zu viel Nähe: "Tagtäglich laufen wir umher, hasten hierhin und dorthin, verfehlen einander nur um Zentimeter, aber haben kaum einmal wirklich Kontakt. Alle diese Beinaheunfälle. Alle diese potentiellen Kollisionen. Beängstigend, wenn man genauer darüber nachdenkt - man sollte es besser bleiben lassen."
Sim lässt es dann aber doch nicht bleiben. Im Auftrag einer ökologisch korrekten Zahnbürstenfirma macht er sich als Vertreter zum nördlichsten Punkt des Vereinigten Königreichs, den Shetland-Inseln, auf. Unterwegs schneit er bei den Eltern seines Jugendfreundes in Birmingham herein, macht einen Kurzbesuch im Lake District bei Ex-Frau und Tochter und trifft sich in Edinburgh mit seiner ehemaligen Jugendliebe. Zu echtem Kontakt kommt es bei diesen Begegnungen kaum, am Ende zieht Max die Gesellschaft seines Navigationssystems vor: Die Stimme, die er zärtlich Emma nennt, dient ihm als Psychotherapeutin und schließlich als Geliebte.
"Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim" ist ein höchst zeitgenössischer Roman, der die lange literarische Tradition, in der er steht, jedoch nicht leugnen will. So erinnert dieses britische Roadmovie an die Reisen- und Quest-Romane Henry Fieldings, über den Jonathan Coe promoviert hat. Maxwell Sim lamentiert, dass man heute dank CCTV und Satellitenüberwachung überhaupt nicht mehr verschwinden könne, wie es dem gescheiterten Weltumsegler Donald Crowhurst, mit dem sich Sim identifiziert, noch möglich war. Doch genau so, wie Crowhurst Ende der sechziger Jahre sein Logbuch akribisch fingierte, können Geschäftsmänner ihren Ehefrauen heutzutage interkontinentale Geschäftsreisen vortäuschen, wenn es sie zu ihren jüngeren Geliebten treibt - schließlich gibt es Zeitgenossen wie Max' Bekannte Poppy, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, die Durchsagen internationaler Flughäfen aufzuzeichnen und als Hintergrund-CD für Alibi-Telefonanrufe zu verscherbeln.
Um aktuell zu sein, kann britische Literatur zurzeit kaum ohne Kapitalismus- und Konsumkritik auskommen, das belegen Sims streckenweise anstrengende Tiraden über Bankenspekulationen und Manager-Boni. Störend auch die wiederholten Schludrigkeiten der Übersetzung, die versehentlich "Du" und "Sie" durcheinanderbringt und eine Zwei-Zimmer-Wohnung als Wohnung mit "zwei Schlafzimmern" darstellt.
Bei der britischen Kritik war Coe bislang nicht allzu wohl gelitten: Seine Bücher gelten als humorvolle easy reads, als leichte Kost. Tatsächlich stellt auch der schlichte Maxwell Sim den Leser vor keine allzu großen Herausforderungen. Daran ändern auch die vier Epigraphe und die Integration unterschiedlicher Textsorten nichts. Auf den letzten Seiten seines Romans allerdings lässt Coe keinen Zweifel daran, dass literarische Helden, sosehr aus dem Leben gegriffen sie auch scheinen mögen, Leibeigene ihres Schriftstellers sind und bleiben. Gefangen sind sie in ihrer literarischen Verfasstheit wie ihre realen Entsprechungen in den Zwängen ihres jeweiligen Daseins.
MARGRET FETZER
Jonathan Coe: "Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim". Roman.
Aus dem Englischen von Walter Ahlers. DVA, München 2010. 409 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein Wunder an Empathie hat Burkhard Müller gelesen. Und erzählt uns lang und breit davon. Wenn seine Nacherzählung des Plots (grundanständiger junger Mann ist grundunglücklich und wird am Ende doch erlöst) uns auch nicht eben mitreißt, der Roman von Jonathan Coe scheint doch erstaunliche Stärken zu haben. Zwar ist er weder Schelmenroman (wie der Verlag meint) noch Tragödie (wie der deutsche Titel suggeriert). Dennoch nimmt Müller schnell Anteil am Leben des Helden. Bemerkenswert, findet er. Und führt das auf die Erfindungskraft und den Humor des Autors und den emotionalen Reichtum des Textes zurück. Für Müller ein charmanter, einfühlungsreicher Text mit nur einem Fehler: Dass der Autor am Schluss seiner Figur (etwas forsch zudem) entgegentritt, wäre laut Rezensent wirklich nicht nötig gewesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Jonathan Coes neuer Roman geht mit großer erzählerischer Leichtigkeit und Augenzwinkern einem ernsten Thema auf den Grund: Selbsterkenntnis." Freundin, 03.11.2010