Somalia, in einem kleinen Dorf auf dem Land. Das muslimische Mädchen Amal ist gerade 15 geworden. Sie geht zur Schule, hilft der Mutter mit den kleinen Geschwistern, in ihrer Freizeit liest sie romantische Liebesromane und hört mit ihren Freundinnen Hip-Hop-Musik. Doch dann besetzt eine islamistische Miliz über Nacht das Dorf, Tod und Terror legen sich über den Alltag. Als auch ihr Vater ermordet und Amal verschleppt wird, gelingt ihr die Flucht. Ein monatelanger Leidensweg beginnt, der sie in die Hände eines dubiosen Schleusers und durch den ukrainischen Winter führt, in ein slowakisches Lager und oft bis über den Rand ihres eigenen Verstandes.»Die Ungesichter« ist ein fliehendes Gefüge aus Wahrnehmung und Erinnerung, aus Erfahrungen der Gewalt und immer wieder auch unerwarteter Hilfe. Es berichtet nicht von sogenannten Flüchtlingsströmen, sondern blickt tiefer, erzählt mit den Mitteln literarischer Genauigkeit eine einzelne bewegende Geschichte - über den brutalen Verlust einerKindheit und darüber, wie viel der Mensch aushalten kann, solange er noch Hoffnung hat.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Susanne Lenz ist zutiefst bewegt von Fridolin Schleys Buch "Die Ungesichter", das die Geschichte der 15-jährigen Amal aus dem verheerten Somalia erzählt, von ihrer Flucht nach Europa, und ihrer langen Reise von Kiew aus weiter nach Westen. Wie einen Strudel hat diese Geschichte die Rezensentin erfasst, die über hundert Seiten keinen Punkt findet, an dem sie hätte Luft schnappen können. Schley gehört zu jende aktivistischen Autoren, die sich mit Flüchtlingen getroffen haben, um ihre Lebensgeschichte zu vebreiten, informiert Lenz, betont jedoch, dass "Ungesichter" (als solche erscheinen der jungen Amal die Grenzebamten) keine Reportage sei: "Es ist Literatur, auch wenn es keine Fiktion ist."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2016Versengte Fingerkuppen
Fridolin Schley verdichtet eine Flucht aus Somalia
Die Frage, inwieweit Schriftsteller sich im politischen Diskurs äußern sollten, wird trotz des Abgesangs auf den Autor als öffentlichen Intellektuellen immer wieder gestellt. Nicht mehr im Sinne der Forderung einer klassischen Ars militans, deren Kunstferne kaum noch zur Diskussion steht. Aber Literatur fungiert in Phasen, die als krisenhaft empfunden werden, als Raum, um einseitigen, polemischen oder interessegeleiteten Parolen, wie sie in Politik und Medien transportiert werden, etwas entgegenzustellen. Mit Blick auf die Flüchtlingsbewegungen zeugt davon die Aufmerksamkeit, die jüngst Autoren wie Shida Bazyar, Rasha Khayat, Senthuran Varatharajah oder Abbas Khider entgegengebracht wird, die über ihre eigenen oder ihre familiären Flucht- und Migrationserfahrungen schreiben.
Der schmale Band "Die Ungesichter" von Fridolin Schley, in dem die - auf realem Vorbild fußende - Flucht der fünfzehnjährigen Amal aus Somalia erzählt wird, gehört in gewisser Weise in die Reihe dieser Neuerscheinungen. Dennoch hat der 1976 geborene Schley, dessen Buch nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern auf Gesprächen mit einer jungen Frau beruht, etwas vollends anderes geschaffen. Eine fragile Mischform, die auf der Grenze von Dokument und Literatur wandelt, wobei weder die eine noch die andere Seite einbüßt. Im Gegenteil.
Wie ein sukzessives Eindunkeln, ein langsames Eindämmern erscheinen Amal im Rückblick die Veränderungen, die durch die Al-Shabaab-Milizen nach und nach in ihr Dorf nahe Mogadischu einzogen. Mal von den Kindern belacht, wie das Sprießen der ersten Bartstoppeln auf den Wangen der Männer, mal ärgerlich zur Kenntnis genommen, wie die Schließung des Kinos. Tatsächlich verdunkelte sich auch mehr und mehr das Straßenbild selbst, nachdem die Frauen ihre bunten Gewänder gegen schwarze Abayas und Schleier tauschen mussten.
Schleys Sprache lässt auch den Vorgang des Erinnerns, des Wiederheraufholen von Bildern sinnlich werden. Die Illustrationen von Thomas Gilke, die dem Buch beigefügt sind und die grob gepixelte, stilisierte Formen zeigen, in denen sich Stadt- oder Landschaftsformationen allenfalls vage andeuten, unterstreichen dieses Prinzip.
Amals Vater wird von den Islamisten ermordet, sie selbst gefangen gehalten. Als sie eines Nachts aus dem Lager entkommen kann, gelingt es der Mutter, ihr ein wenig Geld zuzustecken und einen Schleuser für ihre Tochter zu organisieren. Eine Flucht, von der das Mädchen nur weiß, dass sie in Europa enden muss, ein Wort, das zur Zauberformel wird für ein Leben ohne Repression.
Schon die körperlichen Entbehrungen, die Amal und der junge Cariim, den sie auf der Flucht kennenlernt, erdulden müssen, scheinen kaum erträglich. Beinahe noch bedrohlicher ist das große Nichts, in das Amal in dem Moment geworfen wird, als sie mit gefälschtem schwedischen Pass in das Auto des ersten Schleusers steigt. Es ist der Augenblick, in dem die eigentliche Dunkelheit beginnt, die Orientierungslosigkeit, das Ausgeliefertsein, die Unsicherheit darüber, was sich hinter den Gesichtern der Fremden, seien es Schleuser oder Grenzbeamte, verbirgt. Die albtraumgleiche Vorstellung des Abschälens der Haut und des Hervorquellens des Fleisches in diesen Gesichtern, den titelgebenden "Ungesichtern", ist das drastischste Bild, das sich in dem sonst auf alles Effektheischende verzichtendenden Buch findet.
Nachdem Amal und Cariim es endlich nach Europa geschafft haben und bereits im Zug von Bratislava nach Wien sitzen, versengen sich die beiden die Fingerkuppen - aus Angst vor Identifizierung, die für sie immer bedeutet: Ausweisung. Taumelnd vor Schmerz und vor Übelkeit durch den Geruch des verkohlten Fleisches, verlassen sie in Wien den Zug. Aber sie wollen weiter, nach München. Als der Zug dorthin abfährt und Amal spürt, wie ihr Herz weiterschlägt, setzt Schley den ersten Punkt, als könne der brüchige, aber pulsierende Strom der Erinnerung nun endlich etwas Frieden finden.
Schleys feinsinniges Erzählen ist durchaus artifiziell, er arbeitet mit Zeilenumbrüchen, mit Sprüngen und Rhythmisierungen. Nie aber überschreibt das Literarische die realen Erfahrungen der Protagonistin, stattdessen verleiht Schley der jungen Frau, die sich die Fingerkuppen versengte, um nicht kenntlich zu sein, ein Gesicht. Und er vermag der jungen Frau zumindest einen Teil der Würde zurückzugeben, die ihr die Umstände genommen haben, indem er dem Geschehen denkbar nahekommt, aber zugleich in einer respektvollen Distanz verbleibt, indem er zeigt, ohne zu entblößen.
Dieser Erzählung von nur hundert Seiten wünscht man viele Leser. Denn Amal, die mittlerweile in München eine Ausbildung zur Krankenschwester macht und deren Name für das Buch geändert wurde, gemahnt uns an etwas, das eigentlich selbstverständlich sein müsste, aber nicht ist: Dass jeder der Menschen, die so unbedingt um Einlass nach Europa bitten, eine Geschichte hat, die gehört werden sollte.
WIEBKE POROMBKA.
Fridolin Schley: "Die Ungesichter".
Mit Illustrationen von Thomas Gilke.
Allitera Verlag, München 2016.
100 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fridolin Schley verdichtet eine Flucht aus Somalia
Die Frage, inwieweit Schriftsteller sich im politischen Diskurs äußern sollten, wird trotz des Abgesangs auf den Autor als öffentlichen Intellektuellen immer wieder gestellt. Nicht mehr im Sinne der Forderung einer klassischen Ars militans, deren Kunstferne kaum noch zur Diskussion steht. Aber Literatur fungiert in Phasen, die als krisenhaft empfunden werden, als Raum, um einseitigen, polemischen oder interessegeleiteten Parolen, wie sie in Politik und Medien transportiert werden, etwas entgegenzustellen. Mit Blick auf die Flüchtlingsbewegungen zeugt davon die Aufmerksamkeit, die jüngst Autoren wie Shida Bazyar, Rasha Khayat, Senthuran Varatharajah oder Abbas Khider entgegengebracht wird, die über ihre eigenen oder ihre familiären Flucht- und Migrationserfahrungen schreiben.
Der schmale Band "Die Ungesichter" von Fridolin Schley, in dem die - auf realem Vorbild fußende - Flucht der fünfzehnjährigen Amal aus Somalia erzählt wird, gehört in gewisser Weise in die Reihe dieser Neuerscheinungen. Dennoch hat der 1976 geborene Schley, dessen Buch nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern auf Gesprächen mit einer jungen Frau beruht, etwas vollends anderes geschaffen. Eine fragile Mischform, die auf der Grenze von Dokument und Literatur wandelt, wobei weder die eine noch die andere Seite einbüßt. Im Gegenteil.
Wie ein sukzessives Eindunkeln, ein langsames Eindämmern erscheinen Amal im Rückblick die Veränderungen, die durch die Al-Shabaab-Milizen nach und nach in ihr Dorf nahe Mogadischu einzogen. Mal von den Kindern belacht, wie das Sprießen der ersten Bartstoppeln auf den Wangen der Männer, mal ärgerlich zur Kenntnis genommen, wie die Schließung des Kinos. Tatsächlich verdunkelte sich auch mehr und mehr das Straßenbild selbst, nachdem die Frauen ihre bunten Gewänder gegen schwarze Abayas und Schleier tauschen mussten.
Schleys Sprache lässt auch den Vorgang des Erinnerns, des Wiederheraufholen von Bildern sinnlich werden. Die Illustrationen von Thomas Gilke, die dem Buch beigefügt sind und die grob gepixelte, stilisierte Formen zeigen, in denen sich Stadt- oder Landschaftsformationen allenfalls vage andeuten, unterstreichen dieses Prinzip.
Amals Vater wird von den Islamisten ermordet, sie selbst gefangen gehalten. Als sie eines Nachts aus dem Lager entkommen kann, gelingt es der Mutter, ihr ein wenig Geld zuzustecken und einen Schleuser für ihre Tochter zu organisieren. Eine Flucht, von der das Mädchen nur weiß, dass sie in Europa enden muss, ein Wort, das zur Zauberformel wird für ein Leben ohne Repression.
Schon die körperlichen Entbehrungen, die Amal und der junge Cariim, den sie auf der Flucht kennenlernt, erdulden müssen, scheinen kaum erträglich. Beinahe noch bedrohlicher ist das große Nichts, in das Amal in dem Moment geworfen wird, als sie mit gefälschtem schwedischen Pass in das Auto des ersten Schleusers steigt. Es ist der Augenblick, in dem die eigentliche Dunkelheit beginnt, die Orientierungslosigkeit, das Ausgeliefertsein, die Unsicherheit darüber, was sich hinter den Gesichtern der Fremden, seien es Schleuser oder Grenzbeamte, verbirgt. Die albtraumgleiche Vorstellung des Abschälens der Haut und des Hervorquellens des Fleisches in diesen Gesichtern, den titelgebenden "Ungesichtern", ist das drastischste Bild, das sich in dem sonst auf alles Effektheischende verzichtendenden Buch findet.
Nachdem Amal und Cariim es endlich nach Europa geschafft haben und bereits im Zug von Bratislava nach Wien sitzen, versengen sich die beiden die Fingerkuppen - aus Angst vor Identifizierung, die für sie immer bedeutet: Ausweisung. Taumelnd vor Schmerz und vor Übelkeit durch den Geruch des verkohlten Fleisches, verlassen sie in Wien den Zug. Aber sie wollen weiter, nach München. Als der Zug dorthin abfährt und Amal spürt, wie ihr Herz weiterschlägt, setzt Schley den ersten Punkt, als könne der brüchige, aber pulsierende Strom der Erinnerung nun endlich etwas Frieden finden.
Schleys feinsinniges Erzählen ist durchaus artifiziell, er arbeitet mit Zeilenumbrüchen, mit Sprüngen und Rhythmisierungen. Nie aber überschreibt das Literarische die realen Erfahrungen der Protagonistin, stattdessen verleiht Schley der jungen Frau, die sich die Fingerkuppen versengte, um nicht kenntlich zu sein, ein Gesicht. Und er vermag der jungen Frau zumindest einen Teil der Würde zurückzugeben, die ihr die Umstände genommen haben, indem er dem Geschehen denkbar nahekommt, aber zugleich in einer respektvollen Distanz verbleibt, indem er zeigt, ohne zu entblößen.
Dieser Erzählung von nur hundert Seiten wünscht man viele Leser. Denn Amal, die mittlerweile in München eine Ausbildung zur Krankenschwester macht und deren Name für das Buch geändert wurde, gemahnt uns an etwas, das eigentlich selbstverständlich sein müsste, aber nicht ist: Dass jeder der Menschen, die so unbedingt um Einlass nach Europa bitten, eine Geschichte hat, die gehört werden sollte.
WIEBKE POROMBKA.
Fridolin Schley: "Die Ungesichter".
Mit Illustrationen von Thomas Gilke.
Allitera Verlag, München 2016.
100 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main