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Mit "Was vom Tage übrigblieb", von James Ivory verfilmt, gewann Kazuo Ishiguro den Booker Price. Der vorliegende Roman handelt von dem berühmten Pianisten Ryder, dessen Leben auf mysteriöse Weise aus der Bahn gerät. Nach einem anstrengenden Flug betritt Ryder sein Hotel, am liebsten würde er sich die drei Tage bis zu seinem großen Konzert einfach zurückziehen und entspannen. Doch er findet keine Ruhe, ständig kreuzen mysteriöse Gestalten seinen Weg, Bekannte und Fremde, Lebende und Totgeglaubte, die sich von ihm als Künstler Hilfe oder gar Erlösung erhoffen. So bittet eine Frau ihn, auf der…mehr

Produktbeschreibung
Mit "Was vom Tage übrigblieb", von James Ivory verfilmt, gewann Kazuo Ishiguro den Booker Price. Der vorliegende Roman handelt von dem berühmten Pianisten Ryder, dessen Leben auf mysteriöse Weise aus der Bahn gerät. Nach einem anstrengenden Flug betritt Ryder sein Hotel, am liebsten würde er sich die drei Tage bis zu seinem großen Konzert einfach zurückziehen und entspannen. Doch er findet keine Ruhe, ständig kreuzen mysteriöse Gestalten seinen Weg, Bekannte und Fremde, Lebende und Totgeglaubte, die sich von ihm als Künstler Hilfe oder gar Erlösung erhoffen. So bittet eine Frau ihn, auf der Beerdigung ihres Hundes Klavier zu spielen, der alkoholabhängige Dirigent Leo Brodkey bekniet Ryder, für ihn seine Ex-Geliebte zurückzuerobern. Geschmeichelt versucht Ryder den vielfältigen Wünschen gerecht zu werden. Am Abend seines großen Konzerts muß Ryder dann feststellen, wie schnell gute Taten vergessen sind.
Autorenporträt
Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller 'Was vom Tage übrigblieb', der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 50 Sprachen übersetzt. Er erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Der Autor lebt in London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Der Donnerstag fällt diesmal aus
Mit feinem Pinsel: Kazuo Ishiguros Roman "Die Ungetrösteten" / Von Paul Ingendaay

Kazuo Ishiguro, der englisch schreibende Schriftsteller japanischer Herkunft, ist der unübertroffene Meister der Höflichkeit. Seine Bücher haben die sanft schimmernde Oberfläche von Porzellanmalerei und sind so makellos formuliert, daß man sie eigentlich nur auf holzfreiem, nichtrecyceltem Papier drucken dürfte, fadengeheftet und in Leinen gebunden. Auch die Figuren hantieren mit Wörtern, als könnten sie ihnen aus der Hand rutschen und auf dem Boden zerspringen. Kein vulgäres Wort entschlüpft ihnen, kein Fluchen, kein Schimpfen. Dabei sind sie sterbensunglücklich und reden unablässig von ihren gescheiterten Hoffnungen.

Man könnte sagen, Ishiguro sei besonders human, weil er die Form respektiert, in der sich menschliche Verzweiflung äußert. Man könnte aber ebensogut behaupten, er sei kalt bis zur Grausamkeit, weil er das Leid mit dem feinen Pinsel lackiert und mitleidlos in die Vitrine stellt. In jedem Fall reicht schon sein Stil als Grund aus, ihn zu lesen. Isabell Lorenz hat seinen neuen Roman "Die Ungetrösteten" (The Unconsoled) flüssig und sehr zuverlässig übersetzt, mit der kleinen Einschränkung vielleicht, daß man sich im Deutschen noch etwas mehr auf die Zehenspitzen stellen müßte, um das Klassenbewußte, gleichsam mit weißen Handschuhen Geschriebene des Originals zu bewahren.

Ein weltberühmter englischer Pianist steigt im Hotel einer namenlosen, vielleicht deutschen, vielleicht osteuropäischen Stadt ab, in der er drei Tage später ein Konzert geben soll. Aber mit dem Betreten der Hotelhalle scheint Ryder wie hinter einen Lewis Carrollschen Spiegel geraten zu sein: Nichts an diesem Ort entspricht seinen Erwartungen; wildfremde Menschen bitten ihn um Gefallen, als wäre er ein vertrauter Freund; und eigentlich kann sich Ryder auch nach längerem Nachdenken nicht erinnern, dem Konzert an jenem "Donnerstag abend", auf den seine Gesprächspartner mit wissendem Lächeln anspielen, jemals zugestimmt zu haben.

Ishiguro-Leser dürfte die Situation nicht überraschen, auch die Komik nicht, die der Autor aus der systematischen Verzögerung wichtiger Informationen zieht; Aufschub, durchkreuzte Erwartungen und wiederholte Vertröstungen bestimmen die Struktur dieses Romans. Kaum hat Ryder sich ein paar Minuten ausgeruht, klingelt das Telefon, und der Hoteldirektor Hoffman bedeutet ihm, er würde ihn gern persönlich willkommen heißen.

",Ich freue mich schon darauf, Sie kennenzulernen, Mr. Hoffman. Und ich kann gerne sofort hinunterkommen.'

,Nein, nein, bitte keine Umstände meinetwegen. Ich werde einfach hier warten - ich meine, hier in der Halle -, bis es Ihnen beliebt zu kommen. Es hat wirklich keine Eile.'

Ich dachte einen Augenblick nach. Dann sagte ich: ,Aber Mr. Hoffman, Sie haben doch sicher so viele andere Dinge zu erledigen.'

,Ja, stimmt, um diese Zeit ist immer besonders viel zu tun. Aber auf Sie, Mr. Ryder, warte ich gerne hier, egal wie lange es dauert.'

,Aber bitte, Mr. Hoffman, Sie sollten Ihre wertvolle Zeit nicht für mich opfern. Ich bin sofort unten bei Ihnen.'

,Nein, nein, Mr. Ryder, das ist gar nicht nötig. Es ist mir eine Ehre, hier auf Sie zu warten, ganz bestimmt. Also wie ich schon sagte, bitte keine Umstände meinetwegen. Seien Sie gewiß, ich bleibe hier stehen, bis Sie kommen.'"

Das ist das Muster. Dem bizarren Ansturm von Aufmerksamkeiten, umständlich vorgetragenen Bitten und allgemein dem Terror des Dienstleistungsgewerbes hat der Pianist wenig entgegenzusetzen. Hoffman etwa legt ihm ans Herz, bei Gelegenheit - aber nur, wenn er Zeit findet! - die Fotomappen seiner Frau zu würdigen. Stephan, dessen Sohn, erbittet ein fachmännisches Urteil über sein Klavierspiel. Und der alte Hoteldiener Gustav berichtet Ryder, er habe sich von seiner Tochter Sophie entfremdet und kommuniziere mit ihr nur noch über seinen kleinen Enkel Boris - ob Mr. Ryder, dessen Einfluß allgemein bekannt sei, einmal mit seiner Tochter reden könne?

Nicht nur, daß der Pianist verspricht, sein Bestes zu tun, verblüfft an der Szene mit dem Hoteldiener, sondern auch die Verzerrung der erzählten Zeit: Über zehn Seiten nimmt allein die Fahrt im Aufzug in Anspruch, länger, als der langsamste Lift im höchsten Hotel Europas benötigen würde. Der Ort, an den es Ryder verschlagen hat, erinnert sowohl an grelle klaustrophobische Träume als auch an Fantasy-Filme, in denen Figuren aus ihrer Umgebung hervorwachsen und wieder mit ihr verschmelzen, wenn ihre Zeilen gesprochen sind. Innerhalb weniger Seiten avanciert die namenlose Stadt zu einem Wahnsystem eigener Ordnung.

Musik spielt darin eine besondere Rolle. Der Pianist Ryder wird als Messias empfangen, und aus seinem Mund erwartet man nichts Geringeres als die Wahrheit über die Gemeinschaft. Von einer "Krise" wird gemurmelt, doch niemand vermag zu erklären, wie der Niedergang sich äußert. Früher, so stellt sich jedenfalls heraus, sind die Bewohner der Stadt einem gewissen Christoff gefolgt, der jetzt, des Dogmatismus bezichtigt, diskreditiert ist. Die Hoffnungen ruhen auf dem Dirigenten Leo Brodsky, der zwanzig Jahre lang durch Saufen und öffentliche Skandale von sich reden gemacht hat und die Stadt - am "Donnerstag abend" - zu früherer Größe zurückführen soll.

Ishiguros Trick besteht darin, die Hauptfigur vor sich selbst zu verdunkeln. Ryder kennt sich selber nicht, weder sein Temperament noch seine eigene Vergangenheit, und dieser Mangel, eine Art uneingestandener Amnesie, läßt ihn wie eine Flipperkugel durch den Roman rollen: Er bewegt sich nur, wenn er angestoßen wird. Tatsächlich besteht die Handlung aus einer schier endlosen Serie von Botengängen, Aufträgen und Missionen, die Ryder per Auto, Straßenbahn oder zu Fuß durch die Stadt und deren Umland schicken. Am Ende ist alles pulverisiert, seine guten Absichten, die Rede, die er halten soll, sein Selbstbild als Künstler. Er hinterläßt eine Schar "Ungetrösteter", in deren Leben er ebensowenig eingreifen kann wie in sein eigenes.

Doch ganz ahnungslos ist er nicht, auch nicht am Anfang. Erinnerungen steigen in ihm auf, die ihn mit der Stadt und ihren Bewohnern auf merkwürdige Weise verbinden. Zum Beispiel glaubt Ryder in seinem Hotelzimmer das Zimmer wiederzuerkennen, in dem er als Kind bei seiner Tante geschlafen hat. Auch Sophie, die Tochter des Hoteldieners, scheint in seinem Leben eine Vorgeschichte zu haben, und denkbar ist, daß Ryder der Vater ihres Sohnes Boris ist. Wenn ja, dann weiß er es nicht und schlüpft so verwirrt wie demütig in die Rolle des Ehemanns; auch der Leser wird auf den nächsten siebenhundert Seiten nicht die Wahrheit erfahren.

Die Wahrheit! Bei einem Autor wie Kazuo Ishiguro, der jeden seiner Sätze gründlich bürstet, abwischt und nachpoliert, gab es bisher nichts Unkalkuliertes. Und so müssen auch der unsichere Realitätsstatus und die Unschärfen in der Hauptfigur als Ergebnis sorgfältiger Planung gelten, mit der Folge, daß gelegentlich der Eindruck von Literatenfleiß entsteht, als hätte Ishiguro in sein Schreibprogramm den Befehl "Kafka" eingetippt und von der Maschine genau die Empfehlungen bekommen, die wir nun in seinem Roman verwirklicht sehen. Damit wäre auch die Reserviertheit der englischen Literaturkritik erklärt, die wohl nichts lieber getan hätte, als Ishiguro nach seinem Welterfolg "Was vom Tage übrigblieb" (The Remains of the Day), der 1990 auf deutsch erschien und 1993 von James Ivory verfilmt wurde, abermals hochleben zu lassen.

Tatsächlich scheinen "Die Ungetrösteten", dreimal so dick wie der Vorgänger, mit der Repetiertaste geschrieben: Das vorherrschende Muster der Kommunikation, eine demonstrative Kälte, die zu jahrelangem Schweigen zwischen Eltern und Kindern führt, verbreitet sich epidemisch durch den ganzen Roman. Die Unternehmungen Ryders, der stellvertretend die Schuld der anderen Figuren trägt, scheitern oder wirken lächerlich. Obwohl ihn jeder Gesprächspartner seiner immensen Bedeutung versichert, werden seine Meinungen im selben Zug willkommen geheißen und höflich ignoriert. Die Stadt selbst erweist sich als merkwürdig fluktuierende Angelegenheit - einmal verläuft Ryder sich in verwinkelten Altstadtgassen, dann wieder geht es stundenlang über Landstraßen ins Freie; Gebäude schieben sich mysteriös ineinander, als wäre eines der heimliche Lagerraum des anderen; und mit zunehmender Seitenzahl taucht immer öfter das Wort "Korridor" auf, ein Indiz für das Labyrinthische des Schauplatzes, der am Ende nur noch aus zahllosen Türen und hell erleuchteten Gängen in einer gigantischen Großküche zu bestehen scheint. Parabel! klingt es einem aus den Seiten entgegen. Die Frage ist nur: Da man spätestens nach dem dritten Kapitel kapiert hat, wie der Hase läuft - warum hetzt Ishiguro ihn noch fünfunddreißig Mal über dieselbe Strecke?

Nun ist ein kleiner Rückblick am Platz, nämlich auf Ishiguros japanische Herkunft und seine früheren Romane, von denen die ersten beiden - "Damals in Nagasaki" (deutsch 1984) und "Der Maler der fließenden Welt" (1988) - in Japan spielen. Genau das müßte einen eigentlich stutzig machen, denn Ishiguro, der 1954 in Nagasaki geboren wurde, hat das Land mit fünf Jahren verlassen und ist danach nur noch besuchsweise zurückgekehrt. Seine Literatursprache ist Englisch. Seine Romane können vielleicht ein früheres Japan, das seiner Kindheit, nachempfinden; der bewußten Beobachtung des heutigen Japan entspringen sie sicher nicht.

Dennoch kultivieren sie ein japanisches Thema, und es zeigt sich, daß Anschauung dafür gar nicht vonnöten ist. Was sich da im ersten Roman ankündigte und im zweiten endgültig ins Zentrum rückte, hat mit Selbstachtung und Selbsttäuschung, vor allem mit unbewältigter Schuld zu tun. Nennen wir es die Honecker-Frage: Wie kann ein früheres Leben Unrecht gewesen sein, wenn man dafür allseits geehrt und geachtet wurde? Bei Ishiguro geht der Riß stets durch die Familie, in der sich der alternde Vater vor der nachdrängenden Generation für seinen Opportunismus und das Paktieren mit den Mächtigen verantworten muß. Was die frühen Bücher einzigartig macht, ist, daß der Konflikt nicht die uns geläufigen Formen annimmt: Es gibt bei Ishiguro keine laute Auseinandersetzung, keine Pressekampagne, keine Hexenjagd, und auch die Renegaten sind stiller als hierzulande. Um so kälter weht es den Leser aus den Romanen an, wenn bei den größten Hinterhältigkeiten kein einziges grobes Wort fällt und selbst der Verrat mit einer Verbeugung daherkommt.

Von manchen Autoren sagt man, sie kämen von ihren Themen nicht mehr los; das läßt noch minimalen Raum für die Wahl. Bei Ishiguro ist es schlicht undenkbar, daß er etwas anderes wahrnehmen könnte, als er in seinen Büchern zeigt. Wenn er menschliche Beziehungen beschreibt (und welcher Autor käme ohne sie aus?), dann betrachtet er sie zwanghaft im Licht der erstarrten Formen, die das Zusammenleben zwischen den Generationen in Japan regeln. Deshalb kann der berühmte Roman über den Butler Stevens als seine größte Finte gelten: Die urbritische Figur des Butlers, der jede Gefühlsregung und eben auch das Sterben des eigenen Vaters der häuslichen Pflichterfüllung unterordnet, ist in Wahrheit der japanischste Charakter, der sich außerhalb Japans erfinden ließ.

Jetzt haben die Japaner, echte und heimliche, als Motiv ausgedient. Am Ende, so gab Ishiguro vor einigen Jahren zu Protokoll, sei ihm das Schreiben seines letzten Romans ein bißchen simpel vorgekommen. Also beschloß er, sich vom Realismus zu verabschieden. Je länger man in den "Ungetrösteten" liest, desto eher wird vorstellbar, daß so wie in diesem Roman die Bevölkerung des eigenen Unbewußten aussehen könnte: Finger, die einem von hinten auf die Schulter tippen, Stimmen, die leise, aber vernehmlich "Mr. Ryder?" sagen, Geschichten, die eine Verbindung zu früheren Gedanken, Plänen oder Taten haben, zu vage allerdings, um zur Erkenntnis zu werden.

Daß der herbeigesehnte "Donnerstag abend" zur Bewältigung der Krise nichts beiträgt, ist vorhersehbar. Doch bis dahin haben wir eine Fülle grotesker, erschreckender und außerordentlich komischer Szenen erlebt, die einer Ästhetik von Wiederholung und Variation gehorchen. Wiederholung, weil Ishiguros Figuren im eigentlichen Sinne von nichts überrascht werden können; und Variation, weil der Autor nur zwischen Nuancen des Elends unterscheidet. Das sind Ishiguros Karten; dort liegen sie auf dem Tisch, und die Monotonie, mit der er sie ausspielt, hat etwas Großartiges. Es ist eben doch nicht einerlei, ob ein Befund nach zweihundert oder nach siebenhundert Seiten feststeht.

Nur einmal in diesem dicken Roman erklingt Ryders Pianospiel. Er sitzt in einer abgeschiedenen Hütte, die Nachmittagssonne flutet herein, aus dem Gras melden sich die Grillen. Friedlich steigen die Klänge nach draußen. Draußen schaufelt jemand ein Grab. Eine Ahnung von wirklicher Trauer wird spürbar. Seite 500 ist erreicht, und wir wissen alles über Ishiguros Menschenbild: Das Requiem gilt einem Hund.

Kazuo Ishiguro: "Die Ungetrösteten". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Isabell Lorenz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1996. 736 S., geb., 49,80 DM.

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