Extreme soziale Ungleichheit ist eines der drängendsten Probleme der Gegenwart. Anhand neuer, haushaltsbasierter Daten zu Einkommen und Vermögen untersucht Branko Milanovic ihre Ursachen und Folgen differenzierter als alle anderen Forscher vor ihm. Er zeigt, dass zwar der Abstand zwischen armen und reichen Staaten geringer geworden ist, das Gefälle innerhalb einzelner Nationen jedoch dramatisch zugenommen hat. Zudem analysiert er den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Migration und plädiert für ein liberales Einwanderungsrecht. Ein aktuelles, ein engagiertes Buch, das die Art und Weise, wie wir über unsere ungleiche Welt denken, verändert.
»Milanovics Darstellung, wie sich die globale Verteilung der Einkommen seit Ende der 1980er Jahre entwickelt hat, ist nicht in allen Punkten neu, aber brillant.« Bernhard Emunds Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170117
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Stefan Reinecke kann aus Branko Milanovics Irrtümern beim Formulieren von Lösungsvorschlägen nur lernen. Nämlich dass wir der Wucht der globalen Ungleichheit nach wie vor keine Lösung entgegenzusetzen haben. Zuvor aber hat ihm der Ökonom die Daten aus den letzten 30 Jahren auseinandergesetzt, Chinas wirtschaftlichen Aufstieg erläutert und weitere Trends herausgearbeitet. Dass er sich dabei nicht auf den Westen beschränkt, hält Reinecke für ein großes Plus der Analyse. Den Rechtspopulismus bei uns verständlich zu machen, gehört für Reinecke auch zu den Verdiensten der Studie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2017Die Superreichen bedrohen die Demokratie
Mehr Zuwanderung aus wirtschaftlichen Interessen: Der Ökonom Branko Milanovic über die globale Ungleichheit
Ungleichheit ist ein zentrales Thema der internationalen ökonomischen Debatte. Neben Thomas Piketty und dem kürzlich verstorbenen Anthony B. Atkinson gehört der in Serbien geborene und in den Vereinigten Staaten lebende Branko Milanovic zu den großen Namen der Ungleichheitsforschung. In seinem neuen Buch "Die ungleiche Welt" kritisiert er die Analysen mit gesamtwirtschaftlichen Durchschnittswerten und die Modellwelten mit jeweils einem repräsentativen Akteur, die für die Ökonomie der letzten Jahrzehnte kennzeichnend waren. Seit der Finanzkrise setzen Wirtschaftswissenschaftler vermehrt die Brille der Einkommensungleichheit auf und beginnen laut Milanovic "die Welt mit anderen Augen zu sehen. Es ist ein wenig so wie der Übergang von einem zweidimensionalen zu einem dreidimensionalen Weltbild."
Milanovics Darstellung, wie sich die globale Verteilung der Einkommen seit Ende der 1980er Jahre entwickelt hat, ist nicht in allen Punkten neu, aber brillant. In den letzten Jahrzehnten hat sich durch das schnelle Wirtschaftswachstum Chinas, Indiens und einiger anderer asiatischer Staaten eine "neue globale Mittelschicht" etabliert. Dagegen haben die unteren Mittel- und die ärmeren Schichten Westeuropas, Nordamerikas und Ozeaniens (WENAOs) von den letzten dreißig Jahren wirtschaftlich kaum profitiert.
Die reichsten fünf Prozent der Welt schließlich konnten mit sehr hohen Wachstumsraten ihren ohnehin schon großen Abstand zu den mittleren Einkommen noch weiter ausbauen. A fortiori gilt das für das eine Prozent der höchsten Einkommen und in noch stärkerem Maße für das reichste Prozent dieses reichsten Prozents. Seit dem Millennium waren die Zuwächse der "neuen globalen Mittelschicht" in Asien so groß und das Wachstum im reicheren WENAO so schwach, dass die globale Einkommensungleichheit - gemessen mit dem Gini-Koeffizienten - offenbar zum ersten Mal seit der industriellen Revolution nicht weiter anstieg, sondern eher sank.
Gegenläufig dazu gibt es in den Industrieländern etwa seit den achtziger Jahren einen deutlichen Trend wachsender Ungleichheit. In den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Italien ist er besonders stark, in den Niederlanden sowie in Deutschland, Spanien und Japan schwächer ausgeprägt. Der letzte Anstieg der Ungleichheit, der mit der industriellen Revolution einsetzte, und ihr Rückgang, der etwa vor hundert Jahren begann, bilden zusammen eine zuerst an-, dann absteigende Kurve, die berühmte Kuznets-Kurve.
Eine der zentralen Thesen Milanovics ist, dass in WENAO in den achtziger Jahren eine neue Kuznets-Kurve - in seiner Terminologie eine Kuznets-Welle - begonnen hat. In der Analyse, warum seit etwa dreißig Jahren die Ungleichheit in den Industrieländern wieder ansteigt, ist das Buch des serbisch-amerikanischen Ökonomen weder originell noch sonderlich theoretisch fundiert oder empirisch überzeugend. Doch anregend sind seine warnenden Schlussfolgerungen.
Mit der wirtschaftlichen Stagnation und Verunsicherung der Mittelschichten drohen die westlichen Demokratien ihre wichtigste sozialstrukturelle Basis zu verlieren. Stagnierendes Einkommen, befürchteter Verlust des sicheren Arbeitsplatzes, Einschränkung sozialer Rechte durch Sozialabbau - vor diesem Hintergrund breiten sich in Europa populistische und nativistische Strömungen aus. Zwar sehen sich auch in den Vereinigten Staaten die Mittelschichten unter Druck. Aber in dem Buch, das Milanovic vor Donald Trumps Wahlsieg geschrieben hat, ist die amerikanische Demokratie vor allem von der Plutokratie bedroht. Die Reichen und Superreichen setzten ihr Geld ein, um Politik und Medien gefügig zu machen. Deshalb entsprächen politische Entscheidungen fast durchweg den Interessen der Reichen, während die Medien die Mittelschicht und die Armen mit Kulturkampf-Themen wie Abtreibung, Recht auf Waffenbesitz und Islamismus ablenkten und so von der Wahrnehmung ihrer Interessen abhielten.
Nur noch formal sei das politische System demokratisch. Als Gegenmittel setzt Milanovic auf Verteilungspolitik, die verstärkt früher ansetzen müsse als bei der Umverteilung von bereits erzielten Einkommen, nämlich bei einer breiten Streuung des Kapitalbesitzes und bei einem universalen Zugang zu guter Bildung durch eine nachdrückliche Stärkung des öffentlichen Bildungssystems.
Das Gros globaler Ungleichheit ist aber nicht durch die Verteilung in den jeweiligen Ländern, sondern nach wie vor durch die Wohlstandsunterschiede zwischen ihnen bedingt. Hier greift Milanovic die aktuelle philosophische Debatte über globale Verteilungsgerechtigkeit auf. Wer in WENAO geboren ist, kommt in den Genuss eines hohen "Ortsbonus". Um diesen durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Weltbevölkerungshälfte zu verringern, setzt Milanovic neben einem schnelleren Wachstum peripherer Länder auch auf die Migration aus ärmeren in reichere Weltregionen. Zu Recht verweist er auf die Diskrepanz zwischen einer Globalisierung der Wertschöpfungsketten sowie der Kapital- und zahlreicher Gütermärkte einerseits und der nationalen beziehungsweise regionalen Abschottung der Arbeitsmärkte andererseits.
Die Akzeptanz einer erheblich umfangreicheren ökonomischen Migration möchte er bei den Bürgern der Zielländer dadurch erhöhen, dass man die Migranten rechtlich diskriminiert. Zum Beispiel könne man ihren Zugang zu sozialen Dienstleistungen beschränken, sie zu Arbeitseinsätzen in ihren Herkunftsländern dienstverpflichten oder ihnen zusätzliche Steuern auferlegen, mit denen dann etwa Kompensationszahlungen an jene finanziert werden könnten, deren Lebensumstände sich durch die Zuwanderung verschlechtert haben.
Unter anderem an diesem Punkt zeigt sich: Weil Milanovic die Brille der Einkommensungleichheit aufsetzt, sieht er zwar sehr viel mehr als der ungleichheitsblinde ökonomische Mainstream der letzten Jahrzehnte; aber er sieht bei weitem nicht alles, was wirtschaftspolitisch relevant wäre. Dabei geht es nicht um Kritik an seiner Position, erheblich mehr ökonomisch motivierte Zuwanderung zuzulassen. Dieses Plädoyer Milanovics überzeugt durchaus, selbst wenn eine solche Politik den Ärmsten der Welt, die in dem Buch leider kaum vorkommen, nicht helfen würde. Denn die können sich eine Migration in die Industrieländer gar nicht leisten.
Aber der Vorschlag, die Migranten in ihrem Zielland aus Akzeptanzgründen zu diskriminieren, ist nicht nur aus ethischer Sicht problematisch. Warum etwa sollten diejenigen, die schon im Land leben und nun aufgrund der Migration Nachteile erfahren, durch von Migranten finanzierte Sozialtransfers positiv gestimmt werden? Würden sie sich dadurch nicht erst recht deklassiert sehen?
Trotz des ein oder anderen sozialanalytischen Defizits ist Milanovics Buch eine anregende Lektüre. Es bleibt zu hoffen, dass es mit anderen Veröffentlichungen zur Ungleichheitsforschung dazu beiträgt, die dreidimensionale Sicht der Welt auch in der deutschsprachigen akademischen Ökonomie zu etablieren.
BERNHARD EMUNDS
Branko Milanovic: "Die ungleiche Welt". Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 312 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr Zuwanderung aus wirtschaftlichen Interessen: Der Ökonom Branko Milanovic über die globale Ungleichheit
Ungleichheit ist ein zentrales Thema der internationalen ökonomischen Debatte. Neben Thomas Piketty und dem kürzlich verstorbenen Anthony B. Atkinson gehört der in Serbien geborene und in den Vereinigten Staaten lebende Branko Milanovic zu den großen Namen der Ungleichheitsforschung. In seinem neuen Buch "Die ungleiche Welt" kritisiert er die Analysen mit gesamtwirtschaftlichen Durchschnittswerten und die Modellwelten mit jeweils einem repräsentativen Akteur, die für die Ökonomie der letzten Jahrzehnte kennzeichnend waren. Seit der Finanzkrise setzen Wirtschaftswissenschaftler vermehrt die Brille der Einkommensungleichheit auf und beginnen laut Milanovic "die Welt mit anderen Augen zu sehen. Es ist ein wenig so wie der Übergang von einem zweidimensionalen zu einem dreidimensionalen Weltbild."
Milanovics Darstellung, wie sich die globale Verteilung der Einkommen seit Ende der 1980er Jahre entwickelt hat, ist nicht in allen Punkten neu, aber brillant. In den letzten Jahrzehnten hat sich durch das schnelle Wirtschaftswachstum Chinas, Indiens und einiger anderer asiatischer Staaten eine "neue globale Mittelschicht" etabliert. Dagegen haben die unteren Mittel- und die ärmeren Schichten Westeuropas, Nordamerikas und Ozeaniens (WENAOs) von den letzten dreißig Jahren wirtschaftlich kaum profitiert.
Die reichsten fünf Prozent der Welt schließlich konnten mit sehr hohen Wachstumsraten ihren ohnehin schon großen Abstand zu den mittleren Einkommen noch weiter ausbauen. A fortiori gilt das für das eine Prozent der höchsten Einkommen und in noch stärkerem Maße für das reichste Prozent dieses reichsten Prozents. Seit dem Millennium waren die Zuwächse der "neuen globalen Mittelschicht" in Asien so groß und das Wachstum im reicheren WENAO so schwach, dass die globale Einkommensungleichheit - gemessen mit dem Gini-Koeffizienten - offenbar zum ersten Mal seit der industriellen Revolution nicht weiter anstieg, sondern eher sank.
Gegenläufig dazu gibt es in den Industrieländern etwa seit den achtziger Jahren einen deutlichen Trend wachsender Ungleichheit. In den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Italien ist er besonders stark, in den Niederlanden sowie in Deutschland, Spanien und Japan schwächer ausgeprägt. Der letzte Anstieg der Ungleichheit, der mit der industriellen Revolution einsetzte, und ihr Rückgang, der etwa vor hundert Jahren begann, bilden zusammen eine zuerst an-, dann absteigende Kurve, die berühmte Kuznets-Kurve.
Eine der zentralen Thesen Milanovics ist, dass in WENAO in den achtziger Jahren eine neue Kuznets-Kurve - in seiner Terminologie eine Kuznets-Welle - begonnen hat. In der Analyse, warum seit etwa dreißig Jahren die Ungleichheit in den Industrieländern wieder ansteigt, ist das Buch des serbisch-amerikanischen Ökonomen weder originell noch sonderlich theoretisch fundiert oder empirisch überzeugend. Doch anregend sind seine warnenden Schlussfolgerungen.
Mit der wirtschaftlichen Stagnation und Verunsicherung der Mittelschichten drohen die westlichen Demokratien ihre wichtigste sozialstrukturelle Basis zu verlieren. Stagnierendes Einkommen, befürchteter Verlust des sicheren Arbeitsplatzes, Einschränkung sozialer Rechte durch Sozialabbau - vor diesem Hintergrund breiten sich in Europa populistische und nativistische Strömungen aus. Zwar sehen sich auch in den Vereinigten Staaten die Mittelschichten unter Druck. Aber in dem Buch, das Milanovic vor Donald Trumps Wahlsieg geschrieben hat, ist die amerikanische Demokratie vor allem von der Plutokratie bedroht. Die Reichen und Superreichen setzten ihr Geld ein, um Politik und Medien gefügig zu machen. Deshalb entsprächen politische Entscheidungen fast durchweg den Interessen der Reichen, während die Medien die Mittelschicht und die Armen mit Kulturkampf-Themen wie Abtreibung, Recht auf Waffenbesitz und Islamismus ablenkten und so von der Wahrnehmung ihrer Interessen abhielten.
Nur noch formal sei das politische System demokratisch. Als Gegenmittel setzt Milanovic auf Verteilungspolitik, die verstärkt früher ansetzen müsse als bei der Umverteilung von bereits erzielten Einkommen, nämlich bei einer breiten Streuung des Kapitalbesitzes und bei einem universalen Zugang zu guter Bildung durch eine nachdrückliche Stärkung des öffentlichen Bildungssystems.
Das Gros globaler Ungleichheit ist aber nicht durch die Verteilung in den jeweiligen Ländern, sondern nach wie vor durch die Wohlstandsunterschiede zwischen ihnen bedingt. Hier greift Milanovic die aktuelle philosophische Debatte über globale Verteilungsgerechtigkeit auf. Wer in WENAO geboren ist, kommt in den Genuss eines hohen "Ortsbonus". Um diesen durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Weltbevölkerungshälfte zu verringern, setzt Milanovic neben einem schnelleren Wachstum peripherer Länder auch auf die Migration aus ärmeren in reichere Weltregionen. Zu Recht verweist er auf die Diskrepanz zwischen einer Globalisierung der Wertschöpfungsketten sowie der Kapital- und zahlreicher Gütermärkte einerseits und der nationalen beziehungsweise regionalen Abschottung der Arbeitsmärkte andererseits.
Die Akzeptanz einer erheblich umfangreicheren ökonomischen Migration möchte er bei den Bürgern der Zielländer dadurch erhöhen, dass man die Migranten rechtlich diskriminiert. Zum Beispiel könne man ihren Zugang zu sozialen Dienstleistungen beschränken, sie zu Arbeitseinsätzen in ihren Herkunftsländern dienstverpflichten oder ihnen zusätzliche Steuern auferlegen, mit denen dann etwa Kompensationszahlungen an jene finanziert werden könnten, deren Lebensumstände sich durch die Zuwanderung verschlechtert haben.
Unter anderem an diesem Punkt zeigt sich: Weil Milanovic die Brille der Einkommensungleichheit aufsetzt, sieht er zwar sehr viel mehr als der ungleichheitsblinde ökonomische Mainstream der letzten Jahrzehnte; aber er sieht bei weitem nicht alles, was wirtschaftspolitisch relevant wäre. Dabei geht es nicht um Kritik an seiner Position, erheblich mehr ökonomisch motivierte Zuwanderung zuzulassen. Dieses Plädoyer Milanovics überzeugt durchaus, selbst wenn eine solche Politik den Ärmsten der Welt, die in dem Buch leider kaum vorkommen, nicht helfen würde. Denn die können sich eine Migration in die Industrieländer gar nicht leisten.
Aber der Vorschlag, die Migranten in ihrem Zielland aus Akzeptanzgründen zu diskriminieren, ist nicht nur aus ethischer Sicht problematisch. Warum etwa sollten diejenigen, die schon im Land leben und nun aufgrund der Migration Nachteile erfahren, durch von Migranten finanzierte Sozialtransfers positiv gestimmt werden? Würden sie sich dadurch nicht erst recht deklassiert sehen?
Trotz des ein oder anderen sozialanalytischen Defizits ist Milanovics Buch eine anregende Lektüre. Es bleibt zu hoffen, dass es mit anderen Veröffentlichungen zur Ungleichheitsforschung dazu beiträgt, die dreidimensionale Sicht der Welt auch in der deutschsprachigen akademischen Ökonomie zu etablieren.
BERNHARD EMUNDS
Branko Milanovic: "Die ungleiche Welt". Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 312 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main