"Zu Anfang war die ganze Selbstmordgeschichte nichts weiter als ein Spiel. Oder vielleicht nicht gerade ein Spiel, sondern eher eine Art Fantasie. Sowas wie ein makaberer Scherz. Ich würde es niemals zugeben - und jetzt schon gar nicht mehr - aber es hat tatsächlich irgendwie Spaß gemacht." Mit Jeremy kann Mel über Sinn, Schuld und Todesstrafe philosophieren. Mehr und mehr verliebt sie sich in diesen intelligenten, sensiblen Jungen. Der gemeinsame Selbstmordplan ist für sie nur ein romantisches Gedankenspiel. Doch für Jeremy ist es vielleicht der Ausweg aus seinen Schuldgefühlen...
"Ein wirklich starker Jugendroman." Leipziger Volkszeitung, 7.9.2018
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2018Auf eine zweite Chance bauen ist gefährlich
In Robin Stevensons Roman finden zwei Jugendliche zurück ins Leben
Sie haben über alles gesprochen: die Last des Lebens, die Unerträglichkeit der Schuld. Darüber, wie es sich anfühlen muss, im Todestrakt zu sitzen und auf sein Ende zu warten. Sie haben eine Suizid-Playlist angelegt, abzuspielen am Tag des Vollzuges, und über ihre Henkersmahlzeit entschieden. Aber als der Moment gekommen ist, als sie Hand in Hand auf der Brücke stehen, achtzig Meter unter ihnen das dunkle Wasser, als er "Wir tun's jetzt" sagt und den letzten Schritt allein geht, kann sie es nicht fassen: Wie kam es so weit?
Nach dem Sprung ihres besten Freundes Jeremy, nach ihrer Entscheidung für das Leben, wird Melody von Schuldgefühlen gequält. Sie wusste davon, dass sich Jeremy für den Tod seines Bruders verantwortlich fühlte und dass er hoffte, in einem anderen Leben eine zweite Chance zu bekommen. Für sie hingegen, die in behüteten Verhältnissen in Florida aufgewachsene Skeptikerin, beschränkte sich die Erfahrung mit dem Tod bis zuletzt auf die Erzählungen ihrer Mutter, die sich für zum Tode verurteilte Häftlinge engagiert. Dennoch begleitete sie ihren Freund in Gedanken bis zum Selbstmord und stellte sich, hin- und hergerissen zwischen Stolz und Angst, neben ihn auf die Brücke.
Wenn die Protagonisten Jugendliche sind, ist die erzählerische Auseinandersetzung mit dem Thema Suizid besonders heikel. Jede Annäherung an die Gedankenwelt eines Selbstmörders erzeugt bei Erwachsenen Gänsehaut, erscheint wie eine Anleitung zur Tat. Wie sehr darf man sich in eine Persönlichkeit einfühlen können, die sich das Leben nehmen will? Die kanadisch-britische Autorin Robin Stevenson hat in "Die Unmöglichkeit des Lebens" sogar eine aufkeimende Liebesgeschichte zum Ausgangspunkt der Selbstmorderfahrung gemacht. Ihre Erzählerin nimmt den Sog ihrer Gefühle selbst wahr: Das tiefe Dunkel, das von Jeremy ausgeht und sie zusammenschweißt, ist Grundlage der romantischen Anziehungskraft.
Aber Stevenson entscheidet sich für eine Erzählstruktur, die sich den üblichen Vorwürfen entzieht: Die Tat, der Sprung, ereignet sich bereits im ersten Kapitel. Jeremy überlebt den Sturz. Dann wird die Geschichte in Rückblenden aufgerollt. Das Unvorstellbare ist geschehen. Jetzt geht es ans Verstehen.
Obwohl die beiden Jugendlichen einander auf Anhieb interessant finden, kommen sie aus unterschiedlichen Welten. Melody übt sich mit sechzehn Jahren in Abgeklärtheit. Von ihrer Familie, in der offen und gleichberechtigt debattiert wird, hat sie gelernt, rationale Lösungen zu suchen. Jeremy dagegen sehnt sich nach dem Tod seines Bruders und der Trennung seiner Eltern nach Sinn. Er glaubt an die Kraft der Träume, hofft, mit seinem Bruder kommunizieren und ihn um Vergebung bitten zu können. Wie besessen beschäftigt er sich mit Reinkarnation. Und er zitiert gegenüber Melody Camus: "Da man sterben muss, ist es ganz unwesentlich, wann und wie."
Wie ihre Weltanschauungen von Woche zu Woche weiter auseinanderdriften, beschreibt Robin Stevenson anhand von subtilen Beobachtungen und Gesprächen. Dass der Bruder nicht mehr verzeihen kann, argumentiert Melody immer und immer wieder hilflos. Dass ihr Freund sich selbst vergeben muss. Wie bei den Straftätern, deren von gewalttätigen Milieus geprägten Lebensläufe Melodys Mutter recherchiert und in die Öffentlichkeit trägt, hat ihr familiäres und soziales Umfeld die beiden Jugendlichen schon früh zu Gewohnheitstätern gemacht.
Mit dem Vollzug kommt die Wut. Wut auf die eigene Naivität und Machtlosigkeit, wegen derer Melody das Äußerste nicht verhindern konnte. Aber auch Wut auf ihren Freund. Während sie mit dem Zusammenbruch ihrer inneren Ordnung kämpft, ist Jeremy wie ausgetauscht. Es muss einen Grund dafür geben, dass er überlebt hat. Er berichtet seiner Freundin von einem Besuch bei Hare Krishna-Anhängern, den rituellen Reinigungen und gemeinsamen Gesängen. Sie will nichts davon hören. Was er getan hat, ist für sie Sinnbild von Selbstsucht.
Es gibt zwar verständnisvolle Erwachsene in Stevensons Erzählung, die zuhören und die richtigen Fragen stellen. Aber die Gedanken, die zu Erkenntnissen führen, soweit ein Selbstmordversuch eben Erkenntnisse bereithalten kann, machen sich die Jugendlichen selbst. Sie reflektieren selbständig genug und übernehmen eigene Verantwortung. Sie haben ihr Leben selbst in der Hand, lautet die Botschaft. Und dass man, auch wenn es hin und wieder eine zweite Chance gibt, wissen sollte, was man tut.
ELENA WITZECK
Robin Stevenson: "Die Unmöglichkeit des Lebens".
Aus dem Englischen von Inge Wehrmann. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2018. 235 S., br., 13,95 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Robin Stevensons Roman finden zwei Jugendliche zurück ins Leben
Sie haben über alles gesprochen: die Last des Lebens, die Unerträglichkeit der Schuld. Darüber, wie es sich anfühlen muss, im Todestrakt zu sitzen und auf sein Ende zu warten. Sie haben eine Suizid-Playlist angelegt, abzuspielen am Tag des Vollzuges, und über ihre Henkersmahlzeit entschieden. Aber als der Moment gekommen ist, als sie Hand in Hand auf der Brücke stehen, achtzig Meter unter ihnen das dunkle Wasser, als er "Wir tun's jetzt" sagt und den letzten Schritt allein geht, kann sie es nicht fassen: Wie kam es so weit?
Nach dem Sprung ihres besten Freundes Jeremy, nach ihrer Entscheidung für das Leben, wird Melody von Schuldgefühlen gequält. Sie wusste davon, dass sich Jeremy für den Tod seines Bruders verantwortlich fühlte und dass er hoffte, in einem anderen Leben eine zweite Chance zu bekommen. Für sie hingegen, die in behüteten Verhältnissen in Florida aufgewachsene Skeptikerin, beschränkte sich die Erfahrung mit dem Tod bis zuletzt auf die Erzählungen ihrer Mutter, die sich für zum Tode verurteilte Häftlinge engagiert. Dennoch begleitete sie ihren Freund in Gedanken bis zum Selbstmord und stellte sich, hin- und hergerissen zwischen Stolz und Angst, neben ihn auf die Brücke.
Wenn die Protagonisten Jugendliche sind, ist die erzählerische Auseinandersetzung mit dem Thema Suizid besonders heikel. Jede Annäherung an die Gedankenwelt eines Selbstmörders erzeugt bei Erwachsenen Gänsehaut, erscheint wie eine Anleitung zur Tat. Wie sehr darf man sich in eine Persönlichkeit einfühlen können, die sich das Leben nehmen will? Die kanadisch-britische Autorin Robin Stevenson hat in "Die Unmöglichkeit des Lebens" sogar eine aufkeimende Liebesgeschichte zum Ausgangspunkt der Selbstmorderfahrung gemacht. Ihre Erzählerin nimmt den Sog ihrer Gefühle selbst wahr: Das tiefe Dunkel, das von Jeremy ausgeht und sie zusammenschweißt, ist Grundlage der romantischen Anziehungskraft.
Aber Stevenson entscheidet sich für eine Erzählstruktur, die sich den üblichen Vorwürfen entzieht: Die Tat, der Sprung, ereignet sich bereits im ersten Kapitel. Jeremy überlebt den Sturz. Dann wird die Geschichte in Rückblenden aufgerollt. Das Unvorstellbare ist geschehen. Jetzt geht es ans Verstehen.
Obwohl die beiden Jugendlichen einander auf Anhieb interessant finden, kommen sie aus unterschiedlichen Welten. Melody übt sich mit sechzehn Jahren in Abgeklärtheit. Von ihrer Familie, in der offen und gleichberechtigt debattiert wird, hat sie gelernt, rationale Lösungen zu suchen. Jeremy dagegen sehnt sich nach dem Tod seines Bruders und der Trennung seiner Eltern nach Sinn. Er glaubt an die Kraft der Träume, hofft, mit seinem Bruder kommunizieren und ihn um Vergebung bitten zu können. Wie besessen beschäftigt er sich mit Reinkarnation. Und er zitiert gegenüber Melody Camus: "Da man sterben muss, ist es ganz unwesentlich, wann und wie."
Wie ihre Weltanschauungen von Woche zu Woche weiter auseinanderdriften, beschreibt Robin Stevenson anhand von subtilen Beobachtungen und Gesprächen. Dass der Bruder nicht mehr verzeihen kann, argumentiert Melody immer und immer wieder hilflos. Dass ihr Freund sich selbst vergeben muss. Wie bei den Straftätern, deren von gewalttätigen Milieus geprägten Lebensläufe Melodys Mutter recherchiert und in die Öffentlichkeit trägt, hat ihr familiäres und soziales Umfeld die beiden Jugendlichen schon früh zu Gewohnheitstätern gemacht.
Mit dem Vollzug kommt die Wut. Wut auf die eigene Naivität und Machtlosigkeit, wegen derer Melody das Äußerste nicht verhindern konnte. Aber auch Wut auf ihren Freund. Während sie mit dem Zusammenbruch ihrer inneren Ordnung kämpft, ist Jeremy wie ausgetauscht. Es muss einen Grund dafür geben, dass er überlebt hat. Er berichtet seiner Freundin von einem Besuch bei Hare Krishna-Anhängern, den rituellen Reinigungen und gemeinsamen Gesängen. Sie will nichts davon hören. Was er getan hat, ist für sie Sinnbild von Selbstsucht.
Es gibt zwar verständnisvolle Erwachsene in Stevensons Erzählung, die zuhören und die richtigen Fragen stellen. Aber die Gedanken, die zu Erkenntnissen führen, soweit ein Selbstmordversuch eben Erkenntnisse bereithalten kann, machen sich die Jugendlichen selbst. Sie reflektieren selbständig genug und übernehmen eigene Verantwortung. Sie haben ihr Leben selbst in der Hand, lautet die Botschaft. Und dass man, auch wenn es hin und wieder eine zweite Chance gibt, wissen sollte, was man tut.
ELENA WITZECK
Robin Stevenson: "Die Unmöglichkeit des Lebens".
Aus dem Englischen von Inge Wehrmann. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2018. 235 S., br., 13,95 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Elena Witzeck gefällt, dass Robin Stevenson in ihrem Buch die Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstmord unter jungen Menschen ihren jugendlichen Protagonisten selbst zutraut. Erwachsene als Gedankengeber benötigt das Buch nicht, Erkenntnisse und Verantwortung entstehen aus den Handlungen und Dialogen der Figuren, stellt Witzeck fest. Dass die Autorin die Geschichte um einen missglückten Selbstmord in Rückblenden erzählt und mit einer Lovestory verknüpft, findet Witzeck gleichfalls geschickt. Mit den üblichen Vorwürfen muss sich der Text zunächst nicht auseinandersetzen, meint die Rezensentin. Stattdessen erfährt der Leser von der zunehmenden Entfremdung zwischen den beiden Liebenden, die die Autorin subtil einfängt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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