Ein Coming-of-age-Roman aus der morschen Weltder feinen Leute, geschrieben wie von einer jugendlichenVirginia Woolf. Eine junge Frau reist mitihrem alten Vater zu einer Preisverleihung, bei derdas spanische Königpaar dabei sein wird. Preis trägerist Mr. Kopp aus England, reich, exzentrisch, frivolerStudienfreund des Vaters und, wie dieser, ein be -rühm ter Wissenschaftler am Ende seiner Karriere,wo alten Männern dicke Preise winken. Mit dabei:seine strenge Frau, Sonya, die junge Frauen für einebeklagenswerte Laune der Natur hält. Und Bertrand.Sohn? Künstler? Total Verrückter, der Grand Hotelsund öffentliche Feierstunden zum Schauplatz haarsträubenderAuftritte macht? Abstoßend und faszinierendfür Virginia, deren Leben nach dieser Begegnungmit den Spiegelbildern ihrer selbst und ihresalten Vaters, am Ende ihrer Jugend, für immer verändertsein wird.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Debüt der spanischen Autorin Xita Rubert hat seine Wurzeln in ihrem realen Leben, weiß Rezensent Josef Oehrlein: Ihr Vater war in der Übergangszeit zwischen Francodiktatur und Demokratie ein bedeutender Philosoph und später auch Politiker, dessen Demenzerkrankung zur Folge hatte, dass er langsam aus der intellektuellen Öffentlichkeit verschwinden musste. Zentral ist in ihrem Roman eine Preisverleihung an den Vater: zu diesem Anlass reisen nicht nur die Icherzählerin und ihr Vater in ein Hotel, sondern auch ein befreundeter Historiker mitsamt seiner Familie, so Oehrlein. Deren Sohn ist ein sonderbarer Künstler, der sich daneben benimmt und dessen Verhalten die Autorin intrikat mit dem zunehmend kränker werdenden Vater verknüpft, wie der davon durchaus überzeugte Kritiker feststellt. Trotz einiger nicht nachvollziehbarer übersetzerischer Eingriffe - so wird etwa an einer Stelle das Wort "Jüdin" unerklärlicherweise gestrichen -, ist Oehrlein von den sowohl klug-poetischen als auch humorvollen Schilderungen dieser Geschichte im "Grenzbereich zwischen Genie und Wahnsinn" angetan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2024Von der Schönheit der Demenz
Xita Rubert erzählt vom geistigen Verfall ihres gefeierten Vaters
Für die Lektüre dieses Romans ist es hilfreich zu wissen, dass der Vater der Autorin im wirklichen Leben einer der bedeutenden Intellektuellen im Spanien am Übergang von der Francodiktatur in die Demokratie war. Der Philosoph Xavier Rubert de Ventós erfuhr seine Bildung im großbürgerlichen katalanischen Kulturraum im Widerstand gegen Franco, er war ein virtuoser Essayist und eine gefragte Autorität im modernen Spanien, auch wenn er traditionellen Denkmustern verhaftet blieb. Seine Weltläufigkeit erwarb er bei Gastprofessuren in den Vereinigten Staaten. Er ging schließlich auch in die Politik, war Abgeordneter im spanischen Kongress und im Europaparlament.
Rubert de Ventós teilte das Schicksal mancher Geistesgrößen, die mit ihren Schriften zu brillieren wissen, die öffentliche Auftritte und Ehrungen in vollen Zügen genießen und die tragischerweise am Ende ins Dunkel der Demenz und des Vergessenwerdens abgleiten. Während seines letzten Lebensjahrzehnts hatte sich der Gemütszustand des Philosophen verdüstert, im Januar 2023 ist er im Alter von 83 Jahren gestorben. Als sich die ersten Anzeichen der Krankheit bemerkbar machten, war seine Tochter Xita Rubert Castro siebzehn Jahre alt. Sie hat den Verfallsprozess der geistigen Kapazitäten ihres Vaters intensiv beobachtet und daraus den Stoff für ihren Erstlingsroman gewonnen.
Aus verschiedenen Perspektiven und ohne Larmoyanz schildert sie das Abtauchen des einst gefeierten Philosophen und Essayisten in die Demenz. Dafür benutzt sie als zentrales Szenarium ein Ereignis, wie es in dessen Leben häufig vorgekommen sein mag: die pompöse Feier zur Preisverleihung für einen befreundeten Wissenschaftler. Dazu reist der Geehrte, der in England lebende, aus Österreich stammende Historiker Andrew Kopp, samt Frau und Sohn in eine nicht näher bezeichnete nordspanische Stadt, und alle, eben auch die als Icherzählerin Virginia auftretende Autorin und ihr Vater, sind im selben Hotel untergebracht, was zu einer bizarren Folge von Verwicklungen führt. Der Sohn des Ehepaars, Bertrand, verhält sich auffällig, brabbelt unverständliches Zeug in verschiedenen Sprachen, während des Frühstücks streichelt er zwanghaft die Hand von Virginia und zertrümmert ihr mit einem Schlag einen Finger. Sie fühlt sich abgestoßen und zugleich hingerissen von dem merkwürdigen Sprössling, den seine Eltern als Künstler, als "Performer", ausgeben.
Mit einem raffinierten Kunstgriff projiziert Xita Rubert das absonderliche Gebaren des "sabbernden, außerirdischen Wesens", zu dem ihr Vater in der Demenz geworden ist, auf den Sohn der Kopps. Das ermöglicht ihr, zwei Zeitschichten übereinanderzulegen, ihren Vater bei dem Treffen mit den Kopps und bis zur Verleihungsfeier als noch gesunden, aktiven Intellektuellen darzustellen, zugleich aber auch die von geistiger Umnachtung verursachten unheimlichen Veränderungen in seinem Charakter minutiös zu beschreiben. "Vielleicht ist im gesunden, unschuldigen oder jungen Mann schon alles unsichtbar angelegt", vermutet sie und folgert: "Das Kranke ist wie das Perverse immer gegenwärtig, stumm wartet es darauf, aufgerufen zu werden . . ."
Das spanische Original des Romans "Mis días con los Kopp" (Meine Tage mit den Kopps) ist bereits 2022 erschienen, also gerade noch zu Lebzeiten des Vaters von Xita Rubert. Die jetzt veröffentlichte Übersetzung von Friederike von Criegern gibt recht getreu die Stimmung des Werks wieder. Der deutsche Titel "Die Unordentlichen" nimmt sich jedoch ebenso befremdlich aus wie einige ebenso unverständliche wie unnötige Eingriffe in den Text, etwa die Streichung des Satzes, in dem Sonya, die Frau von Andrew Kopp, als Jüdin bezeichnet wird.
Die heute achtundzwanzig Jahre alte Xita Rubert, die ihre literarischen Gene auch ihrer Mutter verdankt, der Schriftstellerin Luisa Castro, liefert mit ihrem in frischem Erzählton geschriebenen Erstling einen mit poetisch aufgeladenen Bildern, klugen Reflexionen, skurrilen und auch komischen Episoden hochangereicherten Roman. In dem geistigen Verfall einer Person sieht sie keineswegs nur die tragische Seite. Sie erkundet einfühlsam die Grenzbereiche zwischen Genie und Wahnsinn, Realität und Fiktion, in ihren Philosophie- und Literaturstudien spürt sie gar der "Schönheit der Demenz" nach. Ihr Vater sei in der geistigen Absenz, meinte sie bei Gelegenheit, als ein neuer, magischer, über den Niederungen der Realität schwebender Mensch geboren worden. JOSEF OEHRLEIN
Xita Rubert: "Die Unordentlichen". Roman.
Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern. Berenberg Verlag, Berlin 2024. 128 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Xita Rubert erzählt vom geistigen Verfall ihres gefeierten Vaters
Für die Lektüre dieses Romans ist es hilfreich zu wissen, dass der Vater der Autorin im wirklichen Leben einer der bedeutenden Intellektuellen im Spanien am Übergang von der Francodiktatur in die Demokratie war. Der Philosoph Xavier Rubert de Ventós erfuhr seine Bildung im großbürgerlichen katalanischen Kulturraum im Widerstand gegen Franco, er war ein virtuoser Essayist und eine gefragte Autorität im modernen Spanien, auch wenn er traditionellen Denkmustern verhaftet blieb. Seine Weltläufigkeit erwarb er bei Gastprofessuren in den Vereinigten Staaten. Er ging schließlich auch in die Politik, war Abgeordneter im spanischen Kongress und im Europaparlament.
Rubert de Ventós teilte das Schicksal mancher Geistesgrößen, die mit ihren Schriften zu brillieren wissen, die öffentliche Auftritte und Ehrungen in vollen Zügen genießen und die tragischerweise am Ende ins Dunkel der Demenz und des Vergessenwerdens abgleiten. Während seines letzten Lebensjahrzehnts hatte sich der Gemütszustand des Philosophen verdüstert, im Januar 2023 ist er im Alter von 83 Jahren gestorben. Als sich die ersten Anzeichen der Krankheit bemerkbar machten, war seine Tochter Xita Rubert Castro siebzehn Jahre alt. Sie hat den Verfallsprozess der geistigen Kapazitäten ihres Vaters intensiv beobachtet und daraus den Stoff für ihren Erstlingsroman gewonnen.
Aus verschiedenen Perspektiven und ohne Larmoyanz schildert sie das Abtauchen des einst gefeierten Philosophen und Essayisten in die Demenz. Dafür benutzt sie als zentrales Szenarium ein Ereignis, wie es in dessen Leben häufig vorgekommen sein mag: die pompöse Feier zur Preisverleihung für einen befreundeten Wissenschaftler. Dazu reist der Geehrte, der in England lebende, aus Österreich stammende Historiker Andrew Kopp, samt Frau und Sohn in eine nicht näher bezeichnete nordspanische Stadt, und alle, eben auch die als Icherzählerin Virginia auftretende Autorin und ihr Vater, sind im selben Hotel untergebracht, was zu einer bizarren Folge von Verwicklungen führt. Der Sohn des Ehepaars, Bertrand, verhält sich auffällig, brabbelt unverständliches Zeug in verschiedenen Sprachen, während des Frühstücks streichelt er zwanghaft die Hand von Virginia und zertrümmert ihr mit einem Schlag einen Finger. Sie fühlt sich abgestoßen und zugleich hingerissen von dem merkwürdigen Sprössling, den seine Eltern als Künstler, als "Performer", ausgeben.
Mit einem raffinierten Kunstgriff projiziert Xita Rubert das absonderliche Gebaren des "sabbernden, außerirdischen Wesens", zu dem ihr Vater in der Demenz geworden ist, auf den Sohn der Kopps. Das ermöglicht ihr, zwei Zeitschichten übereinanderzulegen, ihren Vater bei dem Treffen mit den Kopps und bis zur Verleihungsfeier als noch gesunden, aktiven Intellektuellen darzustellen, zugleich aber auch die von geistiger Umnachtung verursachten unheimlichen Veränderungen in seinem Charakter minutiös zu beschreiben. "Vielleicht ist im gesunden, unschuldigen oder jungen Mann schon alles unsichtbar angelegt", vermutet sie und folgert: "Das Kranke ist wie das Perverse immer gegenwärtig, stumm wartet es darauf, aufgerufen zu werden . . ."
Das spanische Original des Romans "Mis días con los Kopp" (Meine Tage mit den Kopps) ist bereits 2022 erschienen, also gerade noch zu Lebzeiten des Vaters von Xita Rubert. Die jetzt veröffentlichte Übersetzung von Friederike von Criegern gibt recht getreu die Stimmung des Werks wieder. Der deutsche Titel "Die Unordentlichen" nimmt sich jedoch ebenso befremdlich aus wie einige ebenso unverständliche wie unnötige Eingriffe in den Text, etwa die Streichung des Satzes, in dem Sonya, die Frau von Andrew Kopp, als Jüdin bezeichnet wird.
Die heute achtundzwanzig Jahre alte Xita Rubert, die ihre literarischen Gene auch ihrer Mutter verdankt, der Schriftstellerin Luisa Castro, liefert mit ihrem in frischem Erzählton geschriebenen Erstling einen mit poetisch aufgeladenen Bildern, klugen Reflexionen, skurrilen und auch komischen Episoden hochangereicherten Roman. In dem geistigen Verfall einer Person sieht sie keineswegs nur die tragische Seite. Sie erkundet einfühlsam die Grenzbereiche zwischen Genie und Wahnsinn, Realität und Fiktion, in ihren Philosophie- und Literaturstudien spürt sie gar der "Schönheit der Demenz" nach. Ihr Vater sei in der geistigen Absenz, meinte sie bei Gelegenheit, als ein neuer, magischer, über den Niederungen der Realität schwebender Mensch geboren worden. JOSEF OEHRLEIN
Xita Rubert: "Die Unordentlichen". Roman.
Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern. Berenberg Verlag, Berlin 2024. 128 S., geb., 22,- Euro.
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