Sehen, sich erinnern, verstehen. Alles hängt davon ab, wo du stehst.
Als sie zum ersten Mal nach Hammars kam, war sie ein knappes Jahr alt und ahnte nichts von der großen und umwälzenden Liebe, die sie dorthin geführt hatte. Im Grunde waren es drei Lieben.
Vater und Tochter sitzen mit einem Aufnahmegerät zwischen sich zusammen. Ihr Plan lautet, das Altern in einem Buch zu dokumentieren, das sie gemeinsam schreiben wollen. Als sie ihn endlich in die Tat umsetzen wollen, hat das Alter ihn in einer Weise eingeholt, die ihre Gespräche unvorhersehbar und unzusammenhängend macht.
"Die Unruhigen" ist ein genreüberschreitender Roman über ein Kind, das es nicht erwarten kann, erwachsen zu werden, und Eltern, die am liebsten Kinder sein wollen, über Erinnerungen und Vergessen und die vielen Geschichten, die ein Leben ausmachen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Als sie zum ersten Mal nach Hammars kam, war sie ein knappes Jahr alt und ahnte nichts von der großen und umwälzenden Liebe, die sie dorthin geführt hatte. Im Grunde waren es drei Lieben.
Vater und Tochter sitzen mit einem Aufnahmegerät zwischen sich zusammen. Ihr Plan lautet, das Altern in einem Buch zu dokumentieren, das sie gemeinsam schreiben wollen. Als sie ihn endlich in die Tat umsetzen wollen, hat das Alter ihn in einer Weise eingeholt, die ihre Gespräche unvorhersehbar und unzusammenhängend macht.
"Die Unruhigen" ist ein genreüberschreitender Roman über ein Kind, das es nicht erwarten kann, erwachsen zu werden, und Eltern, die am liebsten Kinder sein wollen, über Erinnerungen und Vergessen und die vielen Geschichten, die ein Leben ausmachen.
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buecher-magazin.deLinn Ullmann gehört zu den großen literarischen Stimmen Skandinaviens. Die Tochter der norwegischen Schauspiel-Ikone Liv Ullmann und des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergmann hat es stets vermieden, sich öffentlich über ihre Eltern zu äußern. Doch als ihr Vater 87 ist, entsteht die Idee zu einem gemeinsamen Schreibprojekt, wofür sie mit ihm sechs Gespräche führt. Die Interviews sind der Ausgangspunkt für den autobiografischen Roman, der auf der Insel Fårö beginnt, wo das Mädchen die Sommer bei ihrem Vater verbringt: "Wenn jemand sie nach ihrem Vater fragte, konnte sie antworten: Mein Vater hat vier Häuser, zwei Autos, fünf Frauen, einen Swimmingpool. Neun Kinder und ein Kino." Aus dem Mädchen wird eine Frau und Mutter, die zwei eigene Kinder hat. In ihrem brillanten Roman, den man auch als Chronik einer außergewöhnlichen Familie lesen kann, verwebt Ullmann Erinnerungen und dokumentarisches Material, Imaginationen und Reflexionen über Kindheit, das Aufwachsen und Altern, über Familie, Identität, die Liebe und die Kunst. Es ist ein leuchtender Blick auf Vergesslichkeit und Erinnerung, Verlust und Trauer - und auf die vielen Geschichten, die ein Leben ausmachen.
© BÜCHERmagazin, Christiane von Korff
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2018In Traumsystemen
Was ist das für ein Roman? Linn Ullmann erzählt in "Die Unruhigen" von ihrem Vater Ingmar Bergman.
Letzte Fragen an greise Väter, die kniffligen Fragen über das Leben, die Liebe, das Verhältnis zu einem etwaigen Gott sind eine Sache für sich. Man weiß nicht, wann man sie stellen darf und ob man sie überhaupt stellen sollte. Man schiebt sie auf. Und dann ist es womöglich zu spät.
Bei der norwegischen Schriftstellerin Linn Ullmann und ihrem Vater beruhte das Bedürfnis, über große Fragen zu reden, auf Gegenseitigkeit. "Er sagte", heißt es in Linn Ullmanns Roman "Die Unruhigen" über ihren damals siebenundachtzigjährigen Herrn Papa, "dass Dinge fort waren. Er sagte, dass die Worte verschwanden. Wäre er jünger gewesen, hätte er ein Buch darüber geschrieben, alt zu werden. Doch jetzt, da er alt war, schaffte er das nicht."
Damals entstand die Idee zu einem gemeinsamen Werk, ohne dass sich rekonstruieren lässt, ob sie stärker von ihr ausging oder von ihm. Vielleicht ein Interviewband? Vater und Tochter begannen zu planen, zwei weitere Jahre gingen ins Land; in dieser Familie werden Pläne auf pedantische Weise geschmiedet, die beispiellos ist. Ende Juli 2007 schließlich, kurz nach ersten Aufnahmen mit einem Diktiergerät, ging die Meldung vom Tod des Vaters um die Welt. "Mit Ingmar Bergman", schrieb diese Zeitung über den verstorbenen Regisseur, "entschwindet eine ganze Epoche des europäischen Kinos ins Dämmerlicht der Legende."
Das Projekt von Tochter und Vater: unvollendet. Das Material: kaum zu gebrauchen. Linn Ullmann ertrug es nicht einmal, die mehrere Stunden umfassenden Mitschnitte durchzuhören, die auf dem Diktiergerät waren. Allein die Tonqualität! Die Autorin, die 1966 als Tochter der damals mit Bergman liierten Schauspielerin Liv Ullmann zur Welt kam, dachte: "Das müssen wir noch einmal machen." Eine Wiederholung dieser Szenen war aber nicht drin.
Jahre später drückte Linn Ullmann den "Play"-Knopf noch einmal, und diesmal hörte sie die Aufnahmen bis zum Ende an. Für sie und uns ist das schön. Denn sie schrieb nun ein poetisches, streng aus ihrer Warte verfasstes persönliches Buch über ihre Eltern und insbesondere Bergman: "Die Unruhigen", ausgewiesen als Roman.
Für die Film- und Theaterwelt ist Bergman ein mit seinen Dämonen ringender "Meister". Für Ullmann war er zuvorderst der geliebte Vater, und diese Perspektive versucht sie sich zu erhalten. Mag sein: ein abwesender Vater. Der Schwede und die Norwegerin Liv Ullmann waren nur fünf Jahre lang zusammen, danach wuchs Linn bei der Mutter auf, die sie nach Amerika mitnahm.
Ihren Vater erlebte sie vor allem in den Sommerferien, die sie bei ihm auf der Ostseeinsel Fårö verbrachte. Der auch dort unentwegt an Film- und Theaterideen arbeitende Bergman begrüßte die Tochter mit einem liebevollen Willkommenszettel auf dem Tisch ("Hoch Geliebte Jüngste Tochter!"), las ihr abends vor, ließ sie in seinem Privatkino einen Film nach dem anderen mitansehen, darunter Stummfilme, zu denen er sagte: "Das ist deine Ausbildung. Sieh hin und lerne." Selbst 2006 traf man sich noch im Kino, zur gewohnten, pünktlichst einzuhaltenden Uhrzeit. Und wie ein Arbeitstermin vereinbart wurde auch die Uhrzeit einer "Sitzung", bei der der Vater das Mädchen fragen wollte, wie es ihr ging: "Wollen du und ich morgen eine kleine Sitzung abhalten, sagen wir so gegen elf, wenn es dir passt?" Die Gespräche des Jahres 2007, die "Sitzungen" mit dem betagten Bergman, waren eine Art Wiederholung dieser Situation aus der Kindheit. Nur dass es nun die Tochter war, die ihrem Vater die Fragen stellte - nach seinen Träumen zum Beispiel.
Diese Unterhaltungen machen einen Teil des Buchs aus. Es sind keine Gespräche, die mit anderen Bergman-Interviews vergleichbar wären. Die Gedächtnisschwäche des Regisseurs, die sich im hohen Alter mit einzelnen unauffindbaren Worten wie "Scheibenwischer" anzukündigen begann, war zum Zeitpunkt der Aufnahme schlimmer geworden. "In jenem Sommer kreiste alles darum zu sterben, die letzte große Arbeit, der Tod lehnte sich ans Leben, das Leben lehnte sich an den Tod, er erwachte am Morgen und schlief am Abend ein, starb dennoch jeden Tag." Bergman war ein müder, pflegebedürftiger, sterbender Mann.
Vielen Sätzen des nahezu unmöglichen fragmentierten Gesprächs merkt man dessen Umstände an. Oft genug geht es um eher Nebensächliches, ob die Vorhänge im Zimmer während des Gesprächs geöffnet sein sollen oder geschlossen, zum Beispiel. Aber selbst da schimmert noch durch, was den Perfektionisten Bergman ausmachte (hier: das richtige Licht). Die Kleinigkeiten, erst recht die langen Pausen, die es im Gespräch gegeben hat, verdeutlichen besser als jeder ausgefeilte philosophische Satz, was Altern und Sterben bedeuten. Den unerbittlichen Auflösungsprozess.
Und wo der Vater tatsächlich um Antworten auf die Fragen der Tochter ringt, finden sich Sätze, die lange nachwirken, wie: "Ich habe mich so sehr in einem Traumsystem verheddert, aus dem ich nicht herauskomme, das ist kein Spaß mehr, ich habe keine unterhaltsamen Träume mehr, nicht einen einzigen, verdammten, unterhaltsamen Traum. Diese . . . diese Träume haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun." Frage der Tochter darauf: "Was ist in diesen Tagen wirklich für dich?" Die Antwort des Vaters: "Das bist du." Das sind Szenen wie auf einer Bühne. Nicht von ungefähr ist "Die Unruhigen" in Stockholm gerade fürs Theater adaptiert worden, im "Dramaten", wo Bergman einst wirkte.
Ullmann schneidet die Gespräche in nackter, hin und wieder mit kleinen Regieanweisungen versehener Dialogform zwischen Erinnerungen an die eigene Kindheit, an die Jugend, das Projekt und die Zeit um Bergmans Tod. Das Altern, die Frauen, Sexualität, Tod, Glaube, Zweifel, Musik, Theater - all das kommt zur Sprache. Aber die Themen flackern im Grunde nur auf, die Antworten brechen schnell ab. Das Gespräch ist eher ein zum Scheitern verurteilter Versuch eines Gesprächs. Das Protokoll eines Auflösungsprozesses eben.
Auch Ullmanns Erinnerungen, die den Großteil des Romans ausmachen, sind nur ein Versuch und als solcher auch markiert. Sich zu erinnern, zeigt sie, fällt nicht erst im hohen Alter schwer oder bei Krankheit. Bilder und Gedanken verschwinden einfach, schwemmen irgendwann unerwartet aus dem Unterbewusstsein empor, versinken wieder, kommen zurück in anderer Form. Und manches bleibt von jetzt auf gleich weg: Ullmann hat ein Fahrrad des Vaters konkret vor Augen, aber nicht mehr sein Gesicht. Oft genug ist es nur noch ein Gefühl, das man von einem verschwundenen Menschen in sich herumträgt. Auch deshalb wird "Die Unruhigen" ausdrücklich als Roman bezeichnet, dessen Form half Ullmann sicherlich beim Schreiben, und wer mag, kann den Roman gern auf den Bücherstapel mit Autofiktionen legen. Auf dem Deckblatt steht zu lesen: "Eine fiktive Geschichte. Das macht sie aber nicht weniger wahr." Nun denn.
Die berühmten Nachnamen der Protagonisten kommen in diesem Buch nicht vor. Bergman ist "Vater" und "Papa", in der Transkription der Gespräche nur "er". Liv Ullmann ist "Mutter" und "Mama". Über sich selbst schreibt die Autorin nicht immer, aber oft in der dritten Person als "das Mädchen", in den Mitschnitten als "sie". Vaters letzte Frau Ingrid von Rosen, eine Partnerin, die er schon in den Fünfzigern getroffen und mit der er auch ein Kind hatte, heißt bloß "Ingrid". "Einerseits glaube ich, dass ich Ingrid wiedersehen darf", sagt "Papa" in den Gesprächen über das, was auf ihn zukommt, "andererseits glaube ich, dass sterben ist, wie eine Kerze auszupusten."Man kann den Roman lesen, ohne bei diesem greisen Regisseur, der von fünf Frauen neun Kinder hat, die der Arbeit nie im Wege stehen durften, und der nervösen Mutter, die ihr Kind allein aufziehen muss und doch Karriere macht, und der einsamen Tochter, die sich nach dem nicht vorhandenen Foto zu dritt sehnt und ein Projekt betreibt, das sie und den sterbenden Vater zusammenbringt ("Arbeit ist ein Zauberwort"), ständig an Ingmar Bergman, Liv Ullmann und Linn Ullmann zu denken. "Die Unruhigen" ist ein Vater-Tochter-Roman, streckenweise auch ein Mutter-Tochter-Roman. Vor allem aber ein Buch vom Altern und Sterben. Das Einführungskapitel nennt sich "Präludium", das abschließende Kapitel, das sich um die Beerdigung dreht, "Gigue" - ein streng durchkomponiertes, wunderschön vor sich hinfließendes, trotz allem tänzelnd endendes Buch.
Die Autorin, die schon mehrere Romane geschrieben hat, darunter bereits einen anderen über das Sterben, wählte den Titel "Die Unruhigen", in Anspielung auf Fernando Pessoas "Buch der Unruhe", über das Vater und Tochter beim Pläneschmieden "ab und zu" sprachen. Wäre jedoch etwas aus dem ursprünglich geplanten Interviewbuch geworden, hätte es Bergmans Willen nach "Epilog" heißen sollen. Oder auch, als blanke Provokation, "Der Todesfick im Tal von Eldorado": "Ich habe immer Lust gehabt", sagt der Vater, "einen meiner Filme Der Todesfick im Tal von Eldorado zu nennen, aber ich habe nie einen Film gedreht, der wirklich dazu passt." Seine Tochter Linn, die völlig unsentimental schreiben kann, auch wenn das bei diesem Sujet nicht vollends durchhaltbar ist, kommentiert diesen Vorschlag nur mit "Hm."
MATTHIAS HANNEMANN
Linn Ullmann: "Die
Unruhigen". Roman.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand
Literaturverlag, München 2018. 416 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was ist das für ein Roman? Linn Ullmann erzählt in "Die Unruhigen" von ihrem Vater Ingmar Bergman.
Letzte Fragen an greise Väter, die kniffligen Fragen über das Leben, die Liebe, das Verhältnis zu einem etwaigen Gott sind eine Sache für sich. Man weiß nicht, wann man sie stellen darf und ob man sie überhaupt stellen sollte. Man schiebt sie auf. Und dann ist es womöglich zu spät.
Bei der norwegischen Schriftstellerin Linn Ullmann und ihrem Vater beruhte das Bedürfnis, über große Fragen zu reden, auf Gegenseitigkeit. "Er sagte", heißt es in Linn Ullmanns Roman "Die Unruhigen" über ihren damals siebenundachtzigjährigen Herrn Papa, "dass Dinge fort waren. Er sagte, dass die Worte verschwanden. Wäre er jünger gewesen, hätte er ein Buch darüber geschrieben, alt zu werden. Doch jetzt, da er alt war, schaffte er das nicht."
Damals entstand die Idee zu einem gemeinsamen Werk, ohne dass sich rekonstruieren lässt, ob sie stärker von ihr ausging oder von ihm. Vielleicht ein Interviewband? Vater und Tochter begannen zu planen, zwei weitere Jahre gingen ins Land; in dieser Familie werden Pläne auf pedantische Weise geschmiedet, die beispiellos ist. Ende Juli 2007 schließlich, kurz nach ersten Aufnahmen mit einem Diktiergerät, ging die Meldung vom Tod des Vaters um die Welt. "Mit Ingmar Bergman", schrieb diese Zeitung über den verstorbenen Regisseur, "entschwindet eine ganze Epoche des europäischen Kinos ins Dämmerlicht der Legende."
Das Projekt von Tochter und Vater: unvollendet. Das Material: kaum zu gebrauchen. Linn Ullmann ertrug es nicht einmal, die mehrere Stunden umfassenden Mitschnitte durchzuhören, die auf dem Diktiergerät waren. Allein die Tonqualität! Die Autorin, die 1966 als Tochter der damals mit Bergman liierten Schauspielerin Liv Ullmann zur Welt kam, dachte: "Das müssen wir noch einmal machen." Eine Wiederholung dieser Szenen war aber nicht drin.
Jahre später drückte Linn Ullmann den "Play"-Knopf noch einmal, und diesmal hörte sie die Aufnahmen bis zum Ende an. Für sie und uns ist das schön. Denn sie schrieb nun ein poetisches, streng aus ihrer Warte verfasstes persönliches Buch über ihre Eltern und insbesondere Bergman: "Die Unruhigen", ausgewiesen als Roman.
Für die Film- und Theaterwelt ist Bergman ein mit seinen Dämonen ringender "Meister". Für Ullmann war er zuvorderst der geliebte Vater, und diese Perspektive versucht sie sich zu erhalten. Mag sein: ein abwesender Vater. Der Schwede und die Norwegerin Liv Ullmann waren nur fünf Jahre lang zusammen, danach wuchs Linn bei der Mutter auf, die sie nach Amerika mitnahm.
Ihren Vater erlebte sie vor allem in den Sommerferien, die sie bei ihm auf der Ostseeinsel Fårö verbrachte. Der auch dort unentwegt an Film- und Theaterideen arbeitende Bergman begrüßte die Tochter mit einem liebevollen Willkommenszettel auf dem Tisch ("Hoch Geliebte Jüngste Tochter!"), las ihr abends vor, ließ sie in seinem Privatkino einen Film nach dem anderen mitansehen, darunter Stummfilme, zu denen er sagte: "Das ist deine Ausbildung. Sieh hin und lerne." Selbst 2006 traf man sich noch im Kino, zur gewohnten, pünktlichst einzuhaltenden Uhrzeit. Und wie ein Arbeitstermin vereinbart wurde auch die Uhrzeit einer "Sitzung", bei der der Vater das Mädchen fragen wollte, wie es ihr ging: "Wollen du und ich morgen eine kleine Sitzung abhalten, sagen wir so gegen elf, wenn es dir passt?" Die Gespräche des Jahres 2007, die "Sitzungen" mit dem betagten Bergman, waren eine Art Wiederholung dieser Situation aus der Kindheit. Nur dass es nun die Tochter war, die ihrem Vater die Fragen stellte - nach seinen Träumen zum Beispiel.
Diese Unterhaltungen machen einen Teil des Buchs aus. Es sind keine Gespräche, die mit anderen Bergman-Interviews vergleichbar wären. Die Gedächtnisschwäche des Regisseurs, die sich im hohen Alter mit einzelnen unauffindbaren Worten wie "Scheibenwischer" anzukündigen begann, war zum Zeitpunkt der Aufnahme schlimmer geworden. "In jenem Sommer kreiste alles darum zu sterben, die letzte große Arbeit, der Tod lehnte sich ans Leben, das Leben lehnte sich an den Tod, er erwachte am Morgen und schlief am Abend ein, starb dennoch jeden Tag." Bergman war ein müder, pflegebedürftiger, sterbender Mann.
Vielen Sätzen des nahezu unmöglichen fragmentierten Gesprächs merkt man dessen Umstände an. Oft genug geht es um eher Nebensächliches, ob die Vorhänge im Zimmer während des Gesprächs geöffnet sein sollen oder geschlossen, zum Beispiel. Aber selbst da schimmert noch durch, was den Perfektionisten Bergman ausmachte (hier: das richtige Licht). Die Kleinigkeiten, erst recht die langen Pausen, die es im Gespräch gegeben hat, verdeutlichen besser als jeder ausgefeilte philosophische Satz, was Altern und Sterben bedeuten. Den unerbittlichen Auflösungsprozess.
Und wo der Vater tatsächlich um Antworten auf die Fragen der Tochter ringt, finden sich Sätze, die lange nachwirken, wie: "Ich habe mich so sehr in einem Traumsystem verheddert, aus dem ich nicht herauskomme, das ist kein Spaß mehr, ich habe keine unterhaltsamen Träume mehr, nicht einen einzigen, verdammten, unterhaltsamen Traum. Diese . . . diese Träume haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun." Frage der Tochter darauf: "Was ist in diesen Tagen wirklich für dich?" Die Antwort des Vaters: "Das bist du." Das sind Szenen wie auf einer Bühne. Nicht von ungefähr ist "Die Unruhigen" in Stockholm gerade fürs Theater adaptiert worden, im "Dramaten", wo Bergman einst wirkte.
Ullmann schneidet die Gespräche in nackter, hin und wieder mit kleinen Regieanweisungen versehener Dialogform zwischen Erinnerungen an die eigene Kindheit, an die Jugend, das Projekt und die Zeit um Bergmans Tod. Das Altern, die Frauen, Sexualität, Tod, Glaube, Zweifel, Musik, Theater - all das kommt zur Sprache. Aber die Themen flackern im Grunde nur auf, die Antworten brechen schnell ab. Das Gespräch ist eher ein zum Scheitern verurteilter Versuch eines Gesprächs. Das Protokoll eines Auflösungsprozesses eben.
Auch Ullmanns Erinnerungen, die den Großteil des Romans ausmachen, sind nur ein Versuch und als solcher auch markiert. Sich zu erinnern, zeigt sie, fällt nicht erst im hohen Alter schwer oder bei Krankheit. Bilder und Gedanken verschwinden einfach, schwemmen irgendwann unerwartet aus dem Unterbewusstsein empor, versinken wieder, kommen zurück in anderer Form. Und manches bleibt von jetzt auf gleich weg: Ullmann hat ein Fahrrad des Vaters konkret vor Augen, aber nicht mehr sein Gesicht. Oft genug ist es nur noch ein Gefühl, das man von einem verschwundenen Menschen in sich herumträgt. Auch deshalb wird "Die Unruhigen" ausdrücklich als Roman bezeichnet, dessen Form half Ullmann sicherlich beim Schreiben, und wer mag, kann den Roman gern auf den Bücherstapel mit Autofiktionen legen. Auf dem Deckblatt steht zu lesen: "Eine fiktive Geschichte. Das macht sie aber nicht weniger wahr." Nun denn.
Die berühmten Nachnamen der Protagonisten kommen in diesem Buch nicht vor. Bergman ist "Vater" und "Papa", in der Transkription der Gespräche nur "er". Liv Ullmann ist "Mutter" und "Mama". Über sich selbst schreibt die Autorin nicht immer, aber oft in der dritten Person als "das Mädchen", in den Mitschnitten als "sie". Vaters letzte Frau Ingrid von Rosen, eine Partnerin, die er schon in den Fünfzigern getroffen und mit der er auch ein Kind hatte, heißt bloß "Ingrid". "Einerseits glaube ich, dass ich Ingrid wiedersehen darf", sagt "Papa" in den Gesprächen über das, was auf ihn zukommt, "andererseits glaube ich, dass sterben ist, wie eine Kerze auszupusten."Man kann den Roman lesen, ohne bei diesem greisen Regisseur, der von fünf Frauen neun Kinder hat, die der Arbeit nie im Wege stehen durften, und der nervösen Mutter, die ihr Kind allein aufziehen muss und doch Karriere macht, und der einsamen Tochter, die sich nach dem nicht vorhandenen Foto zu dritt sehnt und ein Projekt betreibt, das sie und den sterbenden Vater zusammenbringt ("Arbeit ist ein Zauberwort"), ständig an Ingmar Bergman, Liv Ullmann und Linn Ullmann zu denken. "Die Unruhigen" ist ein Vater-Tochter-Roman, streckenweise auch ein Mutter-Tochter-Roman. Vor allem aber ein Buch vom Altern und Sterben. Das Einführungskapitel nennt sich "Präludium", das abschließende Kapitel, das sich um die Beerdigung dreht, "Gigue" - ein streng durchkomponiertes, wunderschön vor sich hinfließendes, trotz allem tänzelnd endendes Buch.
Die Autorin, die schon mehrere Romane geschrieben hat, darunter bereits einen anderen über das Sterben, wählte den Titel "Die Unruhigen", in Anspielung auf Fernando Pessoas "Buch der Unruhe", über das Vater und Tochter beim Pläneschmieden "ab und zu" sprachen. Wäre jedoch etwas aus dem ursprünglich geplanten Interviewbuch geworden, hätte es Bergmans Willen nach "Epilog" heißen sollen. Oder auch, als blanke Provokation, "Der Todesfick im Tal von Eldorado": "Ich habe immer Lust gehabt", sagt der Vater, "einen meiner Filme Der Todesfick im Tal von Eldorado zu nennen, aber ich habe nie einen Film gedreht, der wirklich dazu passt." Seine Tochter Linn, die völlig unsentimental schreiben kann, auch wenn das bei diesem Sujet nicht vollends durchhaltbar ist, kommentiert diesen Vorschlag nur mit "Hm."
MATTHIAS HANNEMANN
Linn Ullmann: "Die
Unruhigen". Roman.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand
Literaturverlag, München 2018. 416 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein streng durchkomponiertes, wunderschön vor sich hinfließendes, trotz allem tänzelnd endendes Buch.« Matthias Hannemann / Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Linn Ullmanns Roman gelingt Widersprüchliches: Er verweigert sich dem bloß Realen, erschafft aber etwas Authentisches. 'Die Unruhigen' löst Leben in Bilder auf.« Carsten Hueck / Deutschlandfunk Kultur