Alle Kriminalgeschichten sind Maskenspiele, und Gilbert Keith Chesterton war ein Meister dieses Genre. Zum hundertsten Geburtstag seines berühmtesten Detektivs, Father Brown, erscheint eine außergewöhnliche Sammlung von Texten, die bis auf wenige Ausnahmen noch nicht auf Deutsch greifbar waren. So war Chesterton nicht nur ein Meister der Kriminalgeschichte. Er hat sich auch in vielen Texten zu verschiedensten Aspekten der Kriminalistik und zur Theorie der Detektivgeschichte geäußert - ja er gab mehrfach konkrete Hinweise zu deren Abfassung. In der nun vorliegenden Sammlung wird nun erstmals der ganze Kontext, der Nährboden für seine Kriminalliteratur freigelegt. Dabei sehen wir Chestertons 'Blick in den eigenen Abgrund', verfolgen die Aktualität von 'Jekyll und Hyde' und erfahren viel über seine Sicht auf unsoziale und verbrecherische Strukturen. Zu oft stellt sich 'Die Unschuld des Kriminellen' zu spät heraus! Einzigartig ist ein weiterer Schwerpunkt des Bandes: in mehreren Texten beschäftigt sich dieser Ausnahmekönner seines Fachs mit der Philosphie und den Gesetzmäßigkeiten der Kriminalgeschichte. So stellt er nicht nur konkrete Regeln für deren Abfassung auf, sondern gibt u.a. auch umfangreiche Handreichungen für 'literarische Mörder'. Zusammengetragen wurden auch seine Würdigungen berühmter Schriftsteller-Kollegen wie Arthur Conan Doyle, Edgar Allen Poe und selbst Edgar Wallace. Zwei bisher unbekannte Detektivgeschichten eröfnen und beschließen den Sammelband.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2010Vom Mysteriösen
zum Mysterium
Essays und Detektivgeschichten
von Chesterton in einem Band
Vor hundert Jahren erblickte Father Brown das Licht der Leselampen. Gilbert Keith Chesterton gelang mit der Erfindung des glaubensfesten, menschenfreundlichen Priesterdetektivs Singuläres: Als Gegenentwurf zum bewunderten Muster an Verstandesschärfe, dem kühlen Melancholiker Sherlock Holmes, sollte Brown humorvoll beweisen, dass Herzensbildung und Klugheit aus derselben Quelle schöpfen. Aufklärung in des Wortes breitester Bedeutung muss laut Chesterton kein rationalistisches Unterfangen sein; auch Mythen und Märchen sprach er erhellende Kraft zu. Zwar bilden die Detektivgeschichten nicht den Kern eines schwindelerregend vielfältigen Gesamtwerks. Wohl aber hat Chesterton den Blick des Kriminalisten nie verleugnet. Im Verbrechen liege offen zutage, woraus unser ganzes Leben besteht: aus Masken, die wir nicht lüften wollen.
Essayistische Arbeiten und zwei bisher unbekannte Detektivgeschichten versammelt ein Band, der die Lust am Verbergen wie am Enthüllen breit ausfächert. Fast alle Texte sind dank des Verlages und einer bewährten Übersetzertroika zum ersten Mal auf Deutsch zugänglich. Zur Poetologie der Detektivgeschichte äußert Chesterton sich ebenso wie zu berühmten Kollegen. Beides war zur Zeit der Niederschrift zwischen 1898 und 1935 ein apologetisches Vergnügen. Krimis, echauffiert sich der Bücherwurm und Vielschreiber, standen im Ruf, schlichte Kost für schlichtere Gemüter zu sein. Chesterton setzt ein riskantes Bekenntnis dagegen: „Meine Vorliebe gilt dem Sensationsroman, der Detektivgeschichte, der Geschichte über Tod, Raub und geheime Gesellschaften. Ein Roman ohne jeden Tod darin ist für mich noch immer ein Roman ganz ohne Leben“. Auch von moralischer Warte aus trage der Krimi den Sieg über die meisten anderen Gattungen davon. Alle Literatur, „die unser Leben als gefährlich und erschreckend darstellt, ist wahrhaftiger als alle Literatur, die es als zweifelhaft und schwächlich zeigt. Denn das Leben ist ein Kampf und keine Konversation“.
Insofern hat auch Sherlock Holmes, obwohl „zu logisch für das reale Leben“, dazu beigetragen, seine Leser zu wappnen. Chesterton lobt Sir Arthur Conan Doyles „wilde Poesie des Alltäglichen“, sein Vermögen, der eigentlichen Hauptfigur, London, poetischen Reiz abzugewinnen, und den „Zauber von Watsons unerschöpflicher Fähigkeit zum Staunen“. Sherlock Holmes verkörpere zwar „die Vorstellung, die unvernünftige Menschen davon haben, wie purer Verstand zu sein hätte“, sei aber genau darum eine durch und durch poetische Erscheinung. Holmes, ein lieber Kerl mit dem Erscheinungsbild einer Denkmaschine, sei das Produkt seiner eigenen Phantasie.
Unter diesem Blickwinkel verschwimmt die Grenze zwischen den vermeintlichen Antipoden. Sind nicht auch die Kriminellen Erfinder einer zweiten Realität? Auch sie weigern sich, „das Gewohnte als gewöhnlich zu betrachten“. Sie wollen das Vorgefundene, vor allem wenn es sich um fremdes Eigentum oder fremdes Leben handelt, umschaffen. Und im Schnittpunkt von Detektiv und Verbrecher steht der Schriftsteller, der nicht nur beide sich ausdenkt, sondern lebenslang neue Verhältnisse real setzt: So lautet das Chesterton’sche Grundgesetz von der strukturellen Verwandtschaft dreier menschheitsgeschichtlicher Phänotypen.
Kein Plädoyer für die Straffreiheit der Verbrecher ist diesem Beziehungsgefüge zu entnehmen, wohl aber eine gewisse Sympathie für die üblichen Verdächtigen. Chesterton war nicht nur in religiösen Fragen Traditionalist. Er weigerte sich auch, die unter dem falschen Rubrum Fortschritt klassifizierten Weltanschauungen Atheismus und Materialismus gutzuheißen. Er war ein Kritiker jener Globalisierung, die das Kapital in wenige und die Armut in viele Hände schaufelte. Distributismus hieß seine Alternative: Privatunternehmer sah er zu seiner Zeit als Gegner des Privateigentums, zu dessen Rettung der Grundbesitz verteilt werden sollte. Der Widerstand gegen die materialistische Tendenz begünstigte die Sympathie für Besitz- und Wohnungslose, die von der britischen Polizei als prinzipiell verdächtig eingestuft wurden. Die eigene Prominenz bewahrte ihn einmal davor, zum Verhör einbestellt zu werden. Ob ihm, fragt er sich, dergleichen widerfahren wäre als eine „sehr arme Person“, die herumstreunt und oft den Wohnsitz wechselt?
Schließlich ist diesem Buch, das leider arg lässig redigiert wurde, auch die metaphysische Dimension jeder guten Kriminalgeschichte zu entnehmen. Gut nämlich sei diese, wenn sie mysteriös ist, im Laufe aber an Geheimnis einbüßt, sich gewissermaßen lichtet, vom Komplexen zum Einfachen fortschreitet, ehe sie in jenen wahren Augenblick mündet, dessentwegen sie geschrieben worden ist und der dem Leser das völlige Verständnis alles bisher Rätselhaften schenkt – womit Chesterton zugleich den christlichen Lebenslauf beschrieben hätte.
ALEXANDER KISSLER
G. K. CHESTERTON: Die Unschuld des Kriminellen. Hrsg. von Matthias Marx, übersetzt von Boris Greff, Max Herresthal und Matthias Marx. Verlag nova et vetera, Bonn 2010. 206 Seiten, 18 Euro.
Distributismus nannte der
gläubige Christ seine Antwort
auf die Globalisierung
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zum Mysterium
Essays und Detektivgeschichten
von Chesterton in einem Band
Vor hundert Jahren erblickte Father Brown das Licht der Leselampen. Gilbert Keith Chesterton gelang mit der Erfindung des glaubensfesten, menschenfreundlichen Priesterdetektivs Singuläres: Als Gegenentwurf zum bewunderten Muster an Verstandesschärfe, dem kühlen Melancholiker Sherlock Holmes, sollte Brown humorvoll beweisen, dass Herzensbildung und Klugheit aus derselben Quelle schöpfen. Aufklärung in des Wortes breitester Bedeutung muss laut Chesterton kein rationalistisches Unterfangen sein; auch Mythen und Märchen sprach er erhellende Kraft zu. Zwar bilden die Detektivgeschichten nicht den Kern eines schwindelerregend vielfältigen Gesamtwerks. Wohl aber hat Chesterton den Blick des Kriminalisten nie verleugnet. Im Verbrechen liege offen zutage, woraus unser ganzes Leben besteht: aus Masken, die wir nicht lüften wollen.
Essayistische Arbeiten und zwei bisher unbekannte Detektivgeschichten versammelt ein Band, der die Lust am Verbergen wie am Enthüllen breit ausfächert. Fast alle Texte sind dank des Verlages und einer bewährten Übersetzertroika zum ersten Mal auf Deutsch zugänglich. Zur Poetologie der Detektivgeschichte äußert Chesterton sich ebenso wie zu berühmten Kollegen. Beides war zur Zeit der Niederschrift zwischen 1898 und 1935 ein apologetisches Vergnügen. Krimis, echauffiert sich der Bücherwurm und Vielschreiber, standen im Ruf, schlichte Kost für schlichtere Gemüter zu sein. Chesterton setzt ein riskantes Bekenntnis dagegen: „Meine Vorliebe gilt dem Sensationsroman, der Detektivgeschichte, der Geschichte über Tod, Raub und geheime Gesellschaften. Ein Roman ohne jeden Tod darin ist für mich noch immer ein Roman ganz ohne Leben“. Auch von moralischer Warte aus trage der Krimi den Sieg über die meisten anderen Gattungen davon. Alle Literatur, „die unser Leben als gefährlich und erschreckend darstellt, ist wahrhaftiger als alle Literatur, die es als zweifelhaft und schwächlich zeigt. Denn das Leben ist ein Kampf und keine Konversation“.
Insofern hat auch Sherlock Holmes, obwohl „zu logisch für das reale Leben“, dazu beigetragen, seine Leser zu wappnen. Chesterton lobt Sir Arthur Conan Doyles „wilde Poesie des Alltäglichen“, sein Vermögen, der eigentlichen Hauptfigur, London, poetischen Reiz abzugewinnen, und den „Zauber von Watsons unerschöpflicher Fähigkeit zum Staunen“. Sherlock Holmes verkörpere zwar „die Vorstellung, die unvernünftige Menschen davon haben, wie purer Verstand zu sein hätte“, sei aber genau darum eine durch und durch poetische Erscheinung. Holmes, ein lieber Kerl mit dem Erscheinungsbild einer Denkmaschine, sei das Produkt seiner eigenen Phantasie.
Unter diesem Blickwinkel verschwimmt die Grenze zwischen den vermeintlichen Antipoden. Sind nicht auch die Kriminellen Erfinder einer zweiten Realität? Auch sie weigern sich, „das Gewohnte als gewöhnlich zu betrachten“. Sie wollen das Vorgefundene, vor allem wenn es sich um fremdes Eigentum oder fremdes Leben handelt, umschaffen. Und im Schnittpunkt von Detektiv und Verbrecher steht der Schriftsteller, der nicht nur beide sich ausdenkt, sondern lebenslang neue Verhältnisse real setzt: So lautet das Chesterton’sche Grundgesetz von der strukturellen Verwandtschaft dreier menschheitsgeschichtlicher Phänotypen.
Kein Plädoyer für die Straffreiheit der Verbrecher ist diesem Beziehungsgefüge zu entnehmen, wohl aber eine gewisse Sympathie für die üblichen Verdächtigen. Chesterton war nicht nur in religiösen Fragen Traditionalist. Er weigerte sich auch, die unter dem falschen Rubrum Fortschritt klassifizierten Weltanschauungen Atheismus und Materialismus gutzuheißen. Er war ein Kritiker jener Globalisierung, die das Kapital in wenige und die Armut in viele Hände schaufelte. Distributismus hieß seine Alternative: Privatunternehmer sah er zu seiner Zeit als Gegner des Privateigentums, zu dessen Rettung der Grundbesitz verteilt werden sollte. Der Widerstand gegen die materialistische Tendenz begünstigte die Sympathie für Besitz- und Wohnungslose, die von der britischen Polizei als prinzipiell verdächtig eingestuft wurden. Die eigene Prominenz bewahrte ihn einmal davor, zum Verhör einbestellt zu werden. Ob ihm, fragt er sich, dergleichen widerfahren wäre als eine „sehr arme Person“, die herumstreunt und oft den Wohnsitz wechselt?
Schließlich ist diesem Buch, das leider arg lässig redigiert wurde, auch die metaphysische Dimension jeder guten Kriminalgeschichte zu entnehmen. Gut nämlich sei diese, wenn sie mysteriös ist, im Laufe aber an Geheimnis einbüßt, sich gewissermaßen lichtet, vom Komplexen zum Einfachen fortschreitet, ehe sie in jenen wahren Augenblick mündet, dessentwegen sie geschrieben worden ist und der dem Leser das völlige Verständnis alles bisher Rätselhaften schenkt – womit Chesterton zugleich den christlichen Lebenslauf beschrieben hätte.
ALEXANDER KISSLER
G. K. CHESTERTON: Die Unschuld des Kriminellen. Hrsg. von Matthias Marx, übersetzt von Boris Greff, Max Herresthal und Matthias Marx. Verlag nova et vetera, Bonn 2010. 206 Seiten, 18 Euro.
Distributismus nannte der
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit einem klaren Urteil über die Sammlung von Essays und Detektivgeschichten G. K. Chestertons "Die Unschuld des Kriminellen" hält sich Alexander Kissler zurück. Kissler fasst einen Essay Chestertons zusammen, in dem dieser sich über das gängige Vorurteil echauffiere, Kriminalgeschichten böten nur platte Unterhaltung. Ebenso bemerkt der Rezensent die Sympathie Chestertons mit der Figur des Verbrechers (wobei er natürlich niemals dessen Straffreiheit fordere). Nach einer Kritik am "arg lässigen" Lektorat des Bandes spricht der Rezensent dann den darin versammelten Geschichten aber "die metaphysische Dimension" von guten Kriminalromanen zu.
© Perlentaucher Medien GmbH
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