Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 11,95 €
  • Broschiertes Buch

Den Krieg als jüdisches Kind in Polen überlebt zu haben - versteckt auf der 'arischen' Seite - bedeutet ein jahrelanges Über-Leben in Angst und Fremdheit, ein ständiges Verdrängen von Trauer, die den Überlebenswillen zu unterhöhlen droht, eine schon automatisierte Wachsamkeit und Selbstbeherrschung. Von den Folgen dieses Überlebens handelt der autobiographische Roman Hanna Kralls. Die Untermieterin, das jüdische Mädchen Marta, das den Krieg in großen, häufig leeren Wohnungen verbracht hat, ist die eine Ich-Erzählerin des Romans. Die andere 'Maria' ist ihr alter ego. Real ist sie die Tochter…mehr

Produktbeschreibung
Den Krieg als jüdisches Kind in Polen überlebt zu haben - versteckt auf der 'arischen' Seite - bedeutet ein jahrelanges Über-Leben in Angst und Fremdheit, ein ständiges Verdrängen von Trauer, die den Überlebenswillen zu unterhöhlen droht, eine schon automatisierte Wachsamkeit und Selbstbeherrschung. Von den Folgen dieses Überlebens handelt der autobiographische Roman Hanna Kralls. Die Untermieterin, das jüdische Mädchen Marta, das den Krieg in großen, häufig leeren Wohnungen verbracht hat, ist die eine Ich-Erzählerin des Romans. Die andere 'Maria' ist ihr alter ego. Real ist sie die Tochter der Familie, die Marta versteckt. In der Phantasie ist sie alles, was die 'Untermieterin' hätte sein können, wenn ihr nicht ein jüdisches Schicksal beschert worden wäre: eine Polin, die in der Tradition der polnischen Gesellschaft verwurzelt ist, die dazugehört. Der Roman Hanna Kralls ist nicht zufällig in der Zeit des intensivierten Nationalgefühls und des allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs durch die Solidarnosc-Bewegung entstanden. Die Ereignisse haben bei der Autorin sowohl die alte Sehnsucht des Dazugehörens wie auch das Gefühl der Fremdheit gegenüber
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2019

Geschossen wird auf alle

Ihr einziger Roman, "Die Untermieterin", gilt als Meilenstein der literarischen Thematisierung der Schoa: Hanna Krall fand dafür Metaphern und Lebenswelten im Gespräch mit Marek Edelmann, dem führenden Kopf des Aufstands im Warschauer Getto.

Von Yfaat Weiss

Die Untermieterin", ein Roman Hanna Kralls, wurde 1982 zur Zeit des Kriegsrechts in Polen verfasst, wo seine Publikation jedoch durch die Zensur verhindert wurde. Er erregte allerdings das Interesse des kleinen polnischen Exilverlags Libella und erschien 1985 erstmals in Paris. Kurz danach fand das Buch den Weg zurück nach Polen und wurde noch im gleichen Jahr im Untergrundverlag Oficyna Literacka in Krakau neu gedruckt. Noch bevor der Roman 1989 offiziell in Polen erscheinen konnte, wurde er mit dem "Untergrund-Preis" der Gewerkschaft Solidarnosc ausgezeichnet und breit rezipiert.

Der semiautobiographische Charakter des Romans ist oft betont worden. Krall, Jahrgang 1935, hütet sich jedoch davor, die eigene Lebensgeschichte in der ersten Person zu schreiben. Versuche, autobiographische Elemente aus ihrer Literarisierung herauszuarbeiten, findet sie befremdlich. Ihre Distanz zum Schreiben in der ersten Person mag verschiedene Gründe haben. "Mein Leben ist die Beschreibung des Lebens anderer", formulierte die für ihre exzellenten Reportagen bekannte Krall in einem Interview. Als sie gefragt wurde, ob jedes Leben es wert sei, beschrieben zu werden, antwortete sie: "Ich hätte keine Lust, jedes Leben zu beschreiben. Da muss etwas sein, das in mir die Frage weckt: Warum? Und dann muss ich auch den Hauch einer Chance sehen, dass die Antwort etwas Überpersönliches enthält."

Wenn bei dem Roman nur eingeschränkt von einer Handlung gesprochen werden kann, so sollen doch kurz ihre Eckpfeiler skizziert werden: Die Untermieterin, Marta, wird als Kind bei polnischen Familien vor den Nazis versteckt. Ihr Vater und einige Verwandte werden in Majdanek ermordet. Andere Verwandte überleben im Ausland. Die Erzählerin, Maria, ist die Tochter einer der polnischen Familien, in deren Wohnungen Marta lebt. Für das Schicksal von Marias Vater, Major Krall, der als fiktiv gekennzeichnet ist, werden verschiedene Varianten präsentiert: Er stirbt im Krieg, wird von den Deutschen gefangen genommen, von der Roten Armee befreit oder im Nachkriegspolen von den kommunistischen Machthabern verfolgt. Nach dem Krieg ist Marta in einem jüdischen Waisenhaus untergebracht. In dieser Zeit, aber auch später, halten Marta und Maria engen Kontakt zueinander.

"Die Untermieterin" ist Hanna Kralls einziger Roman. International bekannt wurde sie bereits 1977 durch die Veröffentlichung ihres Buches zum Aufstand im Warschauer Getto. Auf Deutsch erschien es in der Bundesrepublik unter dem Titel "Schneller als der liebe Gott" und parallel in der DDR unter dem Titel "Dem Herrgott zuvorkommen", bevor es infolge der Zensur ihrer Schriften in Polen und auch in der DDR wieder verboten wurde. Im Zentrum steht Marek Edelmann. Die von ihm, dem letzten überlebenden Kommandeur des Aufstands im Warschauer Getto, entworfenen Kategorien, allen voran seine Unterscheidung zwischen "hell" und "dunkel", übertrug Krall auf ihren Roman "Die Untermieterin" - die Unterscheidung bildet dort gar den ethischen Kern.

In Edelmanns Kosmologie sind die "Hellen" durch ihren erhabenen Tod beschrieben, den Tod mit der Waffe. Die anderen werden dagegen mit einem erbärmlichen, passiv hingenommenen Tod assoziiert. Edelmann scheint seine entworfene Zweiteilung selbst zutiefst zu verabscheuen: Sarkastisch berichtet er von einer Begegnung mit einem amerikanischen Professor, der "einmal am französischen Strand gelandet, 400 oder 500 Meter unter mörderischem Beschuss gelaufen, ohne sich zu ducken oder hinzufallen, er war verwundet worden. Jetzt aber meint er, wenn jemand über einen solchen Strand gelaufen ist, kann er später sagen, der Mensch muss laufen oder der Mensch muss schießen oder ihr gingt wie die Lämmer in den Tod."

Dass Edelmann sich nicht davor scheut, zwischen Tod und Tod, zwischen Sterben und Sterben zu unterscheiden, verwundert nicht. Auf dem Umschlagsplatz im Warschauer Getto sah er 400 000 Menschen passieren, aus denen er diejenigen aussuchte, die für den Widerstand unentbehrlich schienen und die er dann aus der Reihe herausholte. In einem Gespräch mit Hanna Krall scheint es, als möchte er die Ghettobewohner rehabilitieren, als sträube sich in ihm etwas gegen die schicksalhafte Unterscheidung zwischen ihnen und ihm, als müsse er für sie historisch Partei ergreifen: ",Mein Kind', sagt er zu mir", gibt Krall wieder, "du musst das endlich verstehen. Diese Menschen gingen ruhig und würdevoll. Es ist schrecklich, wenn man so ruhig in den Tod geht. Das ist wesentlich schwieriger, als zu schießen."

Das Unterscheiden zwischen Tod und Tod, schreibt Dan Diner, "rührt an ein tief verwurzeltes, ein grundlegendes Gefühl der Ehrfurcht vor dem Tode, nämlich das Empfinden von Pietät". Dennoch seien wir aufgrund unserer Urteilskraft dazu angehalten, Unterscheidungen vorzunehmen und den "Konflikt zwischen Pietät und Reflexivität" auszuhalten.

Ich bin nämlich Pole und bleibe bei den anderen!

Um Urteilskraft in diesem Sinne handelt es sich bei Kralls Roman "Die Untermieterin". Der Auftakt hierzu ist gleich im ersten Kapitel zu finden, in dem die Geschichte von Oskar Staemmler - eine "wunderschöne" Geschichte, wie es ironisierend heißt - geschildert wird. Großvater Staemmler, Justitiar der Jagiellonen-Universität in Krakau, begibt sich "als Anwalt der Universitätsprofessoren mit diesen zusammen in den Raum Nummer 55, wohin die Gestapo sie beordert hatte, die Professoren schickt man nach Sachsenhausen und den Großvater mit; die Familie Staemmler schlägt Krach, der unangenehme Irrtum klärt sich auf, man bittet den Großvater Oskar höflichst um Entschuldigung, woraufhin - passen Sie gut auf! - woraufhin der Großvater sagt, aber meine Herren, ich danke Ihnen höflichst, das muß ein Mißverständnis sein, ich bin nämlich Pole und bleibe bei den anderen. Und Oskar Staemmler, in dessen Familie immer nur deutsch gesprochen wurde, bleibt aus eigener Wahl in Sachsenhausen, von wo er nach Auschwitz geschickt wird, und kehrt nach dem Krieg als Pole, eben als Staemmler, zurück."

Der unüberhörbare und unpassende ironische Ton bleibt zunächst unverständlich, steht er doch diametral zu der würdigen Tat Staemmlers. Doch wird dieser Ton sich im Laufe des Textes als reflexartiger Vorbehalt gegen Vorstellungen von einer vermeintlich freien Wahl erweisen. Schließlich steckt in der Geschichte von Staemmler eine implizite Annahme von Freiwilligkeit, die sich der Kosmologie von einer Schicksalshaftigkeit in Kategorien wie "hell" und "dunkel" entgegenstellt.

Nichts verrät die Kluft zwischen den "Hellen" und den "Dunklen" mehr als die mangelnde Empathie. Es sind die konkurrierenden Erinnerungen und die gegenläufigen Gedächtnisse, die im Roman durch eine Collage von autobiographischen Verweisen und erdichteten Figuren gegeneinander ausgespielt werden. Stellvertretend für Polen steht der Vater der Erzählerin, Major Krall. Sein Tod im Krieg oder seine - in einem anderen Szenario geschilderte - politische Verfolgung verkörpern das Los Polens. Von dem in Majdanek ermordeten Vater der Untermieterin gibt es, anders als bei den unterschiedlich imaginierten Lebensläufen von Major Krall, kein letztes Wort, das als solches dokumentiert ist. "Mein Vater" - an dieser Stelle im Roman in der ersten Person formuliert, obgleich die Sprecherin nicht die Erzählerin ist - habe die letzten Worte "der Decke des Gebäudes anvertraut, das sich gleich neben dem Eingang befindet . . . es ist eine kleine Baracke mit der Nummer ,41' rechts hinter dem Tor".

Die Kosmologie von "hell" und "dunkel", von "Hellen" und "Dunklen" teilt die Welt entlang der Art des Sterbens. Dem hässlichen Tod ist die Untermieterin, versteckt in der großen, dunklen Wohnung der Kralls, entkommen. Hier durfte sie tagsüber unter dem Fensterrand, um von der Straße unbeobachtet zu bleiben, und manchmal in der Dienstkammer, um vor erwarteten und unerwarteten Besuchern versteckt zu sein, an dem Leben der "Hellen" partizipieren.

Verglichen mit anderen, zählt die Geschichte der Untermieterin wenig

Die Geschichte endet aber längst nicht damit, dem "hässlichen" Tod bloß entkommen zu sein. Eigentlich setzt ihre Moral erst in dem Moment ein, als die Bedrohung durch den "hässlichen" Tod aufgehoben ist. Während die ethischen Dilemmata in "Schneller als der liebe Gott" die Jahre der Vernichtung berühren, stellen sie sich im Roman für die Untermieterin erst in der Zeit danach ein. In dem Moment, in dem sie von dem gleichen Tod bedroht ist wie alle anderen, erhält für sie die Kosmologie von "hell" und "dunkel" erstmals Deutungskraft. In einer der bewegendsten Stellen des Romans, am Rande der Ereignisse des polnischen Aufstands von 1944, beschließt die emotional erregte, beinah euphorische Untermieterin, zum ersten Mal ungetarnt und nur von der Erzählerin begleitet auf der Straße spazieren zu gehen. "Es wird wieder geschossen", versucht die Erzählerin sie abzuhalten. "Ach ja, stimmte die Untermieterin zu und in ihrem Gesicht konnte ich deutliche Zeichen von Zufriedenheit beobachten. - Es wird geschossen. Laß uns gehen. Sie nahm meine Hand und zog mich in den Hof des Nachbarhauses. - Es wird geschossen, wiederholte sie. Auf alle . . . - Es ist warm, nicht wahr?, wiederholte die Untermieterin, deren Redefluß nicht aufhörte. Und es ist schrecklich. Es ist für alle schrecklich, nicht wahr?, vergewisserte sie sich fröhlich. Auf alle wird geschossen."

Was bedeutet das Überleben in dem Interieur der anderen? Eigentlich nicht viel. In dem jüdischen Waisenhaus, in dem die Untermieterin nach dem Krieg untergebracht ist und mit einer Handvoll geretteter Kinder lebt, zählt ihre Geschichte, verglichen mit den erschütternden Überlebensgeschichten der anderen, in der Leidenshierarchie wenig. Dennoch gewinnt "Die Untermieterin" durch ihr Überleben in einer Wohnung der anderen eine außergewöhnliche Perspektive. Dieser intime Blick verrät sich durch die forsche Art, mit der im Roman Ironie eingesetzt wird und die weder vor dem polnischen noch vor dem jüdischen Schicksal haltmacht.

Die Aufspaltung der Erzählinstanz in Maria und Marta, in ein "polnisches Ich" und ein "jüdisches Du", ermöglicht es den Lesern, die jeweiligen Blickwinkel zu changieren und sie gegeneinander auszuspielen. Beobachtet und beobachtend, ist "Die Untermieterin" eine Fallstudie über Empathie, die ständig auf eine harte Probe gestellt ist, da die Missverständnisse zwischen beiden Erzählinstanzen nicht aus Unwissenheit und Distanz resultieren, sondern gerade durch die besondere Nähe und Intimität bedingt sind.

Kehren wir zum Schluss zum autobiographischen Stoff des Romans zurück. Insofern er auftaucht und sich aufzwingt, wird er eher widerwillig angetastet. Es ist zwar unvermeidlich, sich ihm anzunähern, aber dennoch soll, soweit es geht, dies hinausgezögert werden. "Nein", wird der Erzählerin in den Mund gelegt, "um die Wohnung kommen wir nicht herum, es muß schließlich zu einer Begegnung zwischen mir, der Tochter des Majors, und der anderen kommen. Je schneller wir diese unerfreuliche Szene hinter uns bringen, desto besser." Auch um den Schrank kommt man nicht herum. "Ein sehr praktischer Schrank", von dem ein Teil der Rückwand herausgenommen worden war, damit sich die Untermieterin beim Auftauchen von Fremden dort verstecken kann.

Ein Schrank wird von Hanna Krall in ihrem einzigen autobiographischen Zeugnis "Spiel für mein Leben" von 1968 zwar erwähnt. Doch auch wenn er an sich der gleiche sein mag, so wandelte er sich in "Die Untermieterin" in ein Abstraktum - und mit ihm auch das Leben der Untermieterin, das beschrieben wird, weil es ganz im Sinne seiner Autorin längst etwas Überpersönliches enthält.

Yfaat Weiss ist Direktorin des "Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur - Simon Dubnow" in Leipzig.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr