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Von den Vertreibungen aus dem Sudetenland und dem Berlin des Jahres 2002: Reinhard Jirgl, der große Chronist deutscher Vergangenheit und Gegenwart, erzählt die Geschichte von vier Frauen aus der Kleinstadt Komotau, die nach dem Zweiten Weltkrieg übrig geblieben sind: die siebzigjährige Johanna, deren Töchter Hanna und Maria und die siebzehnjährige Enkelin Anna. Eine Familiensaga von Heimatlosen, die der Verlust bis heute nicht los lässt.

Produktbeschreibung
Von den Vertreibungen aus dem Sudetenland und dem Berlin des Jahres 2002: Reinhard Jirgl, der große Chronist deutscher Vergangenheit und Gegenwart, erzählt die Geschichte von vier Frauen aus der Kleinstadt Komotau, die nach dem Zweiten Weltkrieg übrig geblieben sind: die siebzigjährige Johanna, deren Töchter Hanna und Maria und die siebzehnjährige Enkelin Anna. Eine Familiensaga von Heimatlosen, die der Verlust bis heute nicht los lässt.
Autorenporträt
Reinhard Jirgl wurde 1953 in Berlin (DDR) geboren. Ausbildung zum Elektromechaniker, Studium der Elektronik, Hochschulingenieur. Seit 1978 Arbeit an einem Berliner Theater.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003

Heimat, das ist eine wundgeriebene Ferse
Fern von Komotau: Reinhard Jirgl besucht die Vertriebenen / Von Tilman Spreckelsen

Dreißig Minuten bleibt den Frauen, ihre Habe zusammenzuraffen, "höchstens acht Kilo Gepäck pro Person", tönt es metallisch aus dem Lautsprecherwagen. Dann muß der Zug bestiegen sein, der die Deutschstämmigen "heim ins Reich" bringt, freilich ganz anders, als sie diese Parole ein paar Jahre lang verstanden haben. Denn nicht ihre Siedlungen im tschechischen Sudetenland gehören fortan zum Reich, sondern die deutsche Minderheit muß sich auf den Weg in den Westen und Norden machen: aus dem Städtchen Komotau nach München, wo die Flüchtlinge nicht bleiben dürfen, nach Dresden, Leipzig und Magdeburg, schließlich in ein Nest in der Altmark - die verlorene Heimat fest im Blick, aber ohne die Hoffnung, bald wiederkehren zu dürfen. Und wenn sich eine entwurzelte Familie nach allen Entbehrungen und Gefahren in der Fremde halbwegs vollständig wiederfindet, ist das schon ein ganz unerwartetes Glück.

Als vor einem Jahr aus Anlaß von Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" nach dem Niederschlag gefragt wurde, den die Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa in der Belletristik gefunden hat, wurden einige Autoren genannt: Siegfried Lenz, Horst Bienek oder Arno Schmidt, und Walter Kempowski nannte sich vorsichtshalber selbst. Reinhard Jirgls Name fiel nicht; eher beiläufig sind die Spuren, die das Schicksal der Vertriebenen in seinem Werk hinterlassen hat, etwa in dem Roman "Abschied von den Feinden".

In Jirgls neuem Buch "Die Unvollendeten" ist dies anders: Der Roman erzählt die Geschichte einer sudetendeutschen Familie über sechs Jahrzehnte. Die Handlung setzt im Sommer 1945 mit der Vertreibung aus Komotau ein und endet in der Gegenwart. Drei der vier Flüchtlinge, die Großmutter Johanna mit ihren beiden Töchtern Hanna und Maria, sind vor der Wiedervereinigung gestorben, einzig Hannas Tochter Anna führt in Berlin das Leben einer verbitterten Greisin und ist ihrem Sohn längst entfremdet. Der unternimmt es, die Familiengeschichte niederzuschreiben, mit wütend zusammengebissenen Zähnen und, trotz aller Kränkungen, die ihm die eigene Familie zugefügt hat, mit nüchternem Mitgefühl. Der 1953 Geborene trägt zusammen, was ihm Mutter, Großmutter, Großtante und Urgroßmutter erzählt haben, um endlich zu verstehen, wie sie so geworden sind: im Umgang mit Fremden demütig, obrigkeitshörig und übertrieben korrekt, in der Familie starrsinnig, stolz, unduldsam, im Innersten schließlich ohne Hoffnung auf persönliches Glück.   

Diese Leidensgeschichte erzählt im ersten Teil von Pogromen und Kriegserinnerungen, von Schikanen durch Behörden und Soldaten, von eifernden Rächern und, ganz selten, von Menschen, die sich an der Gewalt nicht beteiligen, sondern lieber wegsehen. Der zweite Teil schildert die Nachkriegszeit in einem kleinen ostdeutschen Dorf nahe der Zonengrenze. Trotz aller Anfeindungen, mit denen die Flüchtlinge im Umgang mit ihren Nachbarn rechnen müssen, ergreift der Erzähler keineswegs Partei für die Neuankömmlinge, die gerade weil ihnen fortwährend und oft sogar unbeabsichtigt Unrecht widerfährt, starrsinnig am Rechtsgedanken festhalten. In der von überlebenswichtigen Gaunereien bestimmten Nachkriegszeit weigern sie sich, "Unrecht-Gut" entgegenzunehmen, und lernen erst spät, sich notdürftig auf dem Schwarzmarkt zu versorgen: "Sobald Obrigkeit verlorengeht, mochte Hanna sich sagen, muß ich=selbst & zumindest für-mich=allein die Obrigkeits-Werte bewahren." Der Erzähler findet dafür ein Bild: Sie hamstere keine materiellen Güter, sondern Charakter.

Jirgls Sprache der fingierten Mündlichkeit betont fortwährend das Subjektive dieser Erinnerungen, und die oft unvermittelten Perspektivwechsel des Textes entfalten ein Panorama der unversöhnlichen Anschauungen der Ereignisse. Gleichzeitig erweist sich Jirgl dabei als ungemein stilsicherer Autor, der ruhige, deutlich am Erzählgestus einer älteren Generation geschulte Passagen mit Haßtiraden oder verzweifelten Ausbrüchen mischt. Manchmal liest sich das wie der junge Arno Schmidt, wenn der Erzähler beispielsweise gerade "matten Schrittes" in "flaches Traumgepfütz getaumelt" ist oder eine junge Vertriebene sich über die rückwärtsgewandte Sehnsucht ihrer Familie erregt: "Heimat: das ist nichts als 1 wundgeriebene Ferse." Glücklicherweise läßt diese auffällige Verwandtschaft Jirgl keineswegs als Epigonen erscheinen, nicht zuletzt wegen seiner ebenso auffälligen Weiterentwicklung der sprachlichen Innovationen Schmidts, etwa in der präzisen Positionierung von Ausrufungs- und Fragezeichen am Wortanfang, um die Satzmelodie zu markieren: So erwidert etwa die greise Johanna auf die Nachricht, der Papst habe wieder eine Marienerscheinung gehabt, "hellsichtig und anarchen": "Ein Mann in !seinem !Alter sollte sich Was !schämen." Unverkennbar ist aber auch, daß Jirgl in seinem jüngsten Roman manche Manierismen, manche wenig einleuchtenden speziellen Schreibweisen seiner früheren Texte zugunsten einer ökonomischeren Privatorthographie aufgegeben hat, ohne daß sein Stil Einbußen an Schärfe, Präzision oder mitreißendem Gestus erlitten hätte - "Die Unvollendeten" ist ein in avantgardistischer Manier verfaßter Roman, der dennoch keinerlei Barriere zwischen sich und dem Leser errichtet und in seiner immensen Lesbarkeit schon beinahe wieder volkstümlich ist.

Besonderen Fleiß wendet Jirgl auf die floskellose Schilderung von Naturerscheinungen, etwa auf den ersten Eindruck, den die ratlosen Vertriebenen von dem Dorf gewinnen, in dem sie künftig leben sollen: "Als sie dort 1trafen, regnete der April in grauen Fäden auf endlos scheinende schwarz dahingebreitete Erde herab, die bei jedem Schritt an den Schuhn in Batzen kleben blieb, in Pflugfurchen glänzend schäumiges Wasser. Und den Horizont entlang, wie von dunklem Fettstift geschmiert, Kiefernwälder als seis der Trauerrand um die Kondolenzkarte für ein tischflaches Land -. Nun waren auch die Berge des Erzgebirges endgültig im-Krieg geblieben."

Dies ist der Punkt, um den besonders Hannas Denken kreist: Was immer sie unternimmt, soll einer Revision der Vertreibung dienen, und ihre Stärke und Schwäche wurzelt in einer Haltung, die innerlich die Reisekoffer nie ausgepackt hat, die den Aufenthalt fern des Sudetenlandes nur als bedeutungsloses Provisorium ansehen kann. So läßt sich vieles ertragen, was sonst unerträglich wäre, und wie das Exil ein Übermaß an Kraft mobilisieren kann, führt Jirgl an dieser Figur in großer Eindringlichkeit vor. Gleichzeitig aber zeigt er, wie sehr Hanna durch diesen Willen zum provisorischen Leben verwundbar wird, und dies um so mehr, je weiter die Zeit fortschreitet, ohne daß die mittlerweile Fünfzigjährige ihrem Ziel näher kommt.

Später erzählt Anna von den ersten Jahren nach der Vertreibung, vom eisernen Willen ihrer Mutter, die Rückkehr als unverrückbares Ziel der Familie zu bewahren, auch wenn Johanna und Maria daran zweifeln und Anna dagegen immer deutlicher protestiert: "Und ?was dieser ganze Summs mit dem Wieder-zurück-in-die-Heimat überhaupt ?sollte. Immer wenn ich sie gefragt hab, !warum um-Allesinderwelt sie bloß wieder ?zurückwollte nach Komotau, dort war doch Alles=anders geworden: keine Verwandten od Bekannten mehr, nur Fremdeleute, die uns bestimmt nicht gut waren -: Da hat sie geantwortet, daß sie Ihm Das geschworen hat. Am !Grab bei ihrer !Ehre geschworen. Mehr hat sie nie gesagt." Annas Sohn Reiner ist der Erzähler des dritten Teils. Er wächst bei Hanna auf, bis seine Mutter den Elfjährigen zu sich und ihrem windigen Gatten nach Berlin holt. Das Paar trennt sich nach einigen Jahren unter elenden Bedingungen. Nach der Scheidung müssen sie weiterhin in einer gemeinsamen Wohnung leben, und während Anna ihren kommunistischen Exmann mit lautem West-Fernsehen quält, verbringt der ganze Tage mit seiner neuen Freundin im Bett. Aus Reiner wird ein Zahnarzt, der seinen Beruf haßt, schließlich nach der Wende ein Buchhändler, der sich nicht auf das Wirtschaften unter den neuen Bedingungen versteht. Er wettert gallig gegen die Spaßgesellschaft im allgemeinen und die glatten Texte erfolgreicher Jungautoren im besonderen, er entfremdet sich seiner Freundin, die mit dem Publikumsgeschmack längst ihren Frieden geschlossen hat, und landet am Ende mit einem offenbar unheilbaren Krebsleiden im Krankenhaus.

Während er auf seine Entlassung wartet, ruft er sich die Schicksale der drei überlebenden Flüchtlingsfrauen in Erinnerung: Marias Lebenslust, die durch die Ablehnung der Umgebung in Resignation umschlägt, Hannas Strenge, die den Jungen immerhin vor allem Mitläufertum bewahrt, Annas lebenslanger Kampf gegen die sudetendeutschen Wurzeln, der sie schließlich in allem anderen scheitern läßt: "In den Resten von Familien-Leben gebärdete sie sich fortan wie 1 Abbruchunternehmer, & was mit eigenen Händen nicht zu erhalten war, das wenigstens sollte durch eigene Hände . . . fallen."

Exil, das belegt Jirgls Roman auf jeder Seite mit grimmiger Anteilnahme, ist ein Lebenszustand, den man nicht mehr los wird, selbst wenn die Jahre am neuen Ort die in der Heimat verbrachten bei weitem übersteigen. Und diese Erfahrung pflanzt sich fort, auch wenn man, wie Reiner, den langen Zug über die Grenze selbst gar nicht mitgemacht hat, aber das Stigma der Vertreibung an den älteren Verwandten und an sich selbst wahrnimmt: "!Ihr mit eurem Blöden=Zwang, !bloßja!nicht !aufzufallen (brüllte ich, als ich sie wieder einmal besuchte, in die beiden aschfahlen Gesichter -; sie hielten wie=immer still, warteten, bis mein Jähzorn verraucht war.) Im-Grund brüllte ich gegen mich selber, gegen Das, was ich in=mir wußte von dieser ver!fluchten Bescheidenheit . . . die ich von diesen Flüchtlingen geerbt hatte wie nen seelischen Buckel."

Reinhard Jirgl: "Die Unvollendeten". Roman. Hanser Verlag, München 2003. 256 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein "in avantgardistischer Manier" verfasster Roman, schreibt Rezensent Tilman Spreckelsen, der ihn ob seiner guten Lesbarkeit schon beinahe wieder volkstümlich findet. Auch bescheinigt er dieser Leidensgeschichte einer sudetendeutschen Familie von ihrer Vertreibung 1945 bis in die unmittelbare Gegenwart "grimmige Anteilnahme auf jeder Seite", wobei man über den Grad dieses Grimms beim Rezensenten gelegentlich Irritation heraus zu hören meint. Sein besonderes Augenmerk gilt Reinhard Jirgls Sprache, deren "fingierte Mündlichkeit" Spreckelsens Beschreibung zufolge sie Subjektivität der Erinnerungen seiner Protagonisten entfaltet. Gleichzeitig erweise sich Jirgl als ungemein stilsicherer Autor, der ruhige Passagen mit mit Hasstiraden mische. Manchmal liest sich das für den Rezensenten auch "wie der junge Arno Schmidt" und trotzdem nicht epigonal. Auch zeigt er sich zufrieden, dass Manierismen früherer Jirgl-Romane zugunsten einer "ökonomischeren Privatorthografie" aufgegeben wurden.

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