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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2008

Die Stadt, der Prägestock unseres Lebens

Gewöhnlich sind uns Klassiker in Ehren entrückt. Alexander Mitscherlichs Buch "Die Unwirtlichkeit unserer Städte", dessen Titel in den allgemeinen Sprachgebrauch überging, ist zweifellos ein Klassiker. Aber einer, der bis heute noch jede Menge Zündstoff enthält.

Alexander Mitscherlichs "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" gehört zur Architektur Deutschlands wie der Häuserkampf zur Studentenrevolte. Schon der Titel dieses Essays, der 1965 erschien und zweihunderttausendmal verkauft wurde, ist genial: Mitscherlich (1908 bis 1982) hätte sein Buch auch "Die Hässlichkeit unserer Städte" nennen, hätte Kälte oder Anonymität voranstellen können. Doch er wählte das seinerzeit schon antiquierte Wort Unwirtlichkeit und machte damit sofort klar, worum es ging: um die Befindlichkeit der Städter. Wie ein Hotelier gegenüber seinen zahlenden Gästen, so die Assoziation, sind Städtebauer verpflichtet, die Bewohner sich heimisch fühlen zu lassen. Folgerichtig wagte Mitscherlich sogar das durch nationalsozialistischen Missbrauch anrüchig gewordene Wort Heimat.

"Die Kunst, zu Hause zu sein" hieß 1963 eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks, an der er mitwirkte und deren Texte sein Buch weiterführte. Hier wie da forderte der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Städtebau als "Markierungen der Identität eines Ortes". Doch Stadtplaner und Bauherren sähen statt mündiger Bürger nur noch ein "wohnungsheischendes Abstraktum". Als Kronzeugen standen ihm die wieder aufgebauten Städte vor Augen, die - von Münster oder Freudenstadt abgesehen - getreu Le Corbusiers "Charta von Athen" unter dem Primat der Verkehrsgerechtigkeit Arbeiten, Wohnen und Konsumieren entmischt hatten. "Machen nicht unsere Städte, wenn man nicht in ihnen zwischen Büro, Selbstbedienungsladen, Friseur und Wohnung funktioniert, sondern sie betrachtet, als spaziere man in der Fremde umher - machen sie dann nicht depressiv?"

Unsere Städte waren von verheerten zu verheerenden Orten geworden. "Da sie", so Mitscherlich, "aus harter Materie bestehen, wirken sie wie Prägestöcke; wir müssen uns ihnen anpassen." Als Folge dieser Anpassung an die "Stadtwüsten und Einfamilienhausweiden" sagte er einen kollektiven Wandel vom mündigen Bürger zum "augenblicksbezogenen Triebwesen" voraus. "Man pferche den Angestellten hinter die uniformierten Glasfassaden der Hochhäuser, dann auch noch in die uniformierte Monotonie des Wohnblocks, und man hat einen Zustand geschaffen, der jede Planung für eine demokratische Freiheit illusorisch macht." Nur die gestaltete, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Frei- und Privatraum ausgleichende, unentmischte Stadt erzeuge, wessen die neue Massengesellschaft bedürfe: "mehr Intellektualität und bewußtseinskontrollierten Umgang mit der Triebnatur".

Trotz Mitscherlichs farbigen Vergleichen mit historischen Städten war er weit entfernt vom Konservatismus beispielsweise seines Zeitgenossen Wolf Jobst Siedler, der 1964 in seinem Bestseller "Die gemordete Stadt" die Rückkehr zur alten Stadtstruktur forderte. Mitscherlich propagierte im Gegenteil einen modernen aufgeklärten Städtebau, der statt "geplanter Slums, die man gemeinhin sozialen Wohnungsbau nennt, kühn in die Höhe konstruierte, melodisch statt monoton komponierte" Quartiere schaffen müsse.

Die Wurzel allen Übels sah Mitscherlich im Privateigentum an Grund und Boden samt dem resultierenden Spekulantentum. "Der Autor ist sich im klaren, dass ein Volksaufstand zu befürchten wäre, wenn eine starke Gruppe seine These von der Neuordnung der Besitzverhältnisse an Grund und Boden sich zu eigen machte." Als drei Jahre später Hausbesetzungen die Städter aufschreckten und keine Studentendemonstration ohne Parolen gegen Spekulantentum auskam, verwirklichte sich, was Mitscherlichs Untertitel "Anstiftung zum Unfrieden" gefordert hatte.

So sieht es auch die Soziologin Marianne Rodenstein in ihrem Kommentar zur Neuausgabe: "Seine radikal-kritische Diktion hat mich beim Wiederlesen an die Diskussion in den soziologischen Seminaren erinnert, die ich ab 1965 erlebt habe. (Mitscherlich) traf den Zeitgeist der Studentenbewegung." Das Buch, so Rodenstein, befeuerte nicht nur die studentischen Rebellen, sondern auch die Wissenschaft. Ihm verdankt die Stadtsoziologie ihr universitäres Dasein. All dies aber hinderte nicht das Wachstum der "krebsartigen Tochtergeschwülste": Erst in den siebziger Jahre entstanden Monstrositäten wie München-Perlach, West-Berlins Gropiusstadt, Bremens Neue Vahr und die Frankfurter Nordweststadt. An Letzterer war Mitscherlich beteiligt, nun ein (in einem Wohnhochhaus in Frankfurt-Hoechst lebender) gefragter Berater. Sein Resümee 1980: "Es bedurfte eines längeren Anlaufs, bis ich begriffen hatte, daß die Einladungen Alibifunktionen hatten. Ich war für Schachzüge vorgemerkt."

Dass Mitscherlich unter dem Lorbeer, mit dem ihn Baukonzerne und Bauämter überschütteten, bis zum Stand der Wirkungslosigkeit begraben wurde, merkt als zweiter Kommentator der Architekt Nikolaus Hirsch an. Laut ihm sind infolge des heutigen Standortwettbewerbs "die Städte nicht mehr unwirtlich, sondern identitätsstiftend". Diese Identität diene indessen "in erster Linie den neuen urbanen Eliten als Ort der Inszenierung". Mitscherlichs Forderungen, schließt Nikolaus Hirsch, sind längst Standardformeln aller Architekten. "Doch Papier ist geduldig. Die Realität sieht anders aus. Die suburbane Soße breitet sich weiter aus."

Blickt man auf die enorme Ellenbogenstärke der neuen urbanen Eliten, kommt einem Alexander Mitscherlichs Wort vom "augenblicksbezogenen Triebwesen" in den Sinn. So gesehen, behielt er recht - und ist er gescheitert, aber glorreich: Fast fünfzig Jahre nach Mitscherlich verkündete Aaron Betsky, Leiter der elften Architekturbiennale, vor vier Tagen der internationalen Öffentlichkeit, die Daseinsfrage heutigen Bauens laute: "Wie schafft es Architektur, dass der Mensch in der Welt zu Hause ist?"

DIETER BARTETZKO

Alexander Mitscherlich: "Die Unwirtlichkeit unserer Städte". Anstiftung zum Unfrieden. Mit Beiträgen von Marianne Rodenstein und Nikolaus Hirsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 214 S., geb., 15,- [Euro].

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