Michelle Knight ist 21 Jahre alt, als sie entführt wird; ihr Martyrium wird elf Jahre dauern. Der Schulbusfahrer Ariel Castro hält sie und später zwei weitere Frauen in seinem Haus in Cleveland gefangen, wo er sie psychisch und physisch unvorstellbar misshandelt. Was sie in dieser Zeit an körperlichen und seelischen Qualen durchlitt, beschreibt sie in ihrem Buch. Und was ihr half, diese Zeit zu überleben und nie die Hoffnung aufzugeben, dass sie eines Tages wieder ein normales Leben führen würde.
"Ich verschwand im Jahr 2002, und kaum jemand schien es zu bemerken. Ich war einundzwanzig und Mutter eines kleinen Kindes - und eines Nachmittags ging ich in einen Family Dollar Store, um nach dem Weg zu fragen. Die nächsten elf Jahre verbrachte ich eingesperrt in der Hölle. Diesen Teil meiner Geschichte kennen Sie vielleicht schon. Aber da ist noch viel mehr, das Sie nicht ahnen können." - aus dem Vorwort
"Ich verschwand im Jahr 2002, und kaum jemand schien es zu bemerken. Ich war einundzwanzig und Mutter eines kleinen Kindes - und eines Nachmittags ging ich in einen Family Dollar Store, um nach dem Weg zu fragen. Die nächsten elf Jahre verbrachte ich eingesperrt in der Hölle. Diesen Teil meiner Geschichte kennen Sie vielleicht schon. Aber da ist noch viel mehr, das Sie nicht ahnen können." - aus dem Vorwort
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2014Warum hat keiner etwas gehört oder gesehen?
Michelle Knight, das erste Opfer des Cleveland-Entführers Ariel Castro, hat ihre Memoiren geschrieben
Das inzwischen abgerissene Haus, in dem Ariel Castro drei Mädchen jahrelang gefangen hielt, sie folterte, demütigte, sexuell missbrauchte, sah wie jene schnell zusammengezimmerten amerikanischen Unterkünfte aus, von denen man fürchtet, dass sie den nächsten größeren Sturm nicht überstehen. Es lag an einer mit ein paar Bäumen gesäumten Straße in Cleveland, Ohio, und auf einer Luftaufnahme erkennt man deutlich, dass die Häuser der Nachbarn ziemlich nah an Castros heranrückten. So nah, dass man meint, monströse Verbrechen könnten hier unmöglich unbemerkt bleiben. Doch genau das taten sie. Warum also fiel niemandem etwas auf? Warum blieben die Schreie der Opfer ungehört? Weshalb fand es offenbar niemand merkwürdig, dass Castro irgendwann einige Fenster seines Hauses verbarrikadierte?
Am 23. August 2002 wurde Michelle Knight von Ariel Castro entführt, im Alter von 21 Jahren. Sie war unterwegs zum Sozialamt an diesem Tag, es ging um das Sorgerecht für ihren kleinen Sohn, das sie verloren hatte. Doch Michelle Knight fand die Adresse nicht, also fragte sie in einem Family Dollar Store nach dem Weg. In ihrem gerade erschienenen Buch "Die Unzerbrechliche" schreibt sie: "Als ich schon gehen wollte, hörte ich eine Männerstimme ein paar Meter weiter weg. ,Ich weiß genau, wo das ist.'" Es war die Stimme von Castro. Michelle Knight kannte ihn, sie war mit seiner Tochter Emily befreundet. Sie ließ sich mit dem Versprechen, Hundewelpen streicheln zu dürfen, in sein Haus locken.
",Die Welpen sind da unter der Kommode', sagte er. Ich schaute zu der Stelle, auf die er gezeigt hatte, und dann plötzlich - Peng! - hatte er die Tür zugeschlagen. Er hielt mir seine riesige Hand über Mund und Nase, dann presste er die andere Hand gegen meinen Hinterkopf. ,Ich mach dich kalt, wenn du nochmal schreist!' brüllte er." Die etwa 170 Buchseiten, die nun folgen, erzählen die Geschichte eines elfjährigen Martyriums.
Das Schicksal von Natascha Kampusch kommt einem in den Sinn, ebenso die Tat Josef Fritzls, der seine Tochter 24 Jahre lang in einem Verlies gefangen hielt. Durch die Nachrichten geht gerade ein Fall aus Kalifornien, in dem eine Frau ihrem Entführer zehn Jahre lang ausgeliefert gewesen sein soll.
Michelle Knight durchlitt während ihrer Gefangenschaft Unvorstellbares. Ihr Peiniger legte sie in Ketten, er stellte einen Plastikeimer in ihre Nähe, der als Toilette diente und den er nur selten leerte. Er schlug und vergewaltigte sie tausendfach. Mal bekam sie etwas zu essen, mal bekam sie nichts. "Nachts oder an den Wochenenden kam er manchmal mit etwas mehr Essen. Das konnte alles Mögliche sein, aber meist hatte es schon länger herumgestanden: vertrocknete Pizza zum Beispiel, ranzige Bohnen mit hart gewordenem Reis, warmer, wässriger Joghurt oder abgestandene Tacos." Die ersten Monate schloss Castro die junge Frau in den Keller und versuchte, sie zu brechen, ihr alles zu nehmen, ihre Würde, ihren Stolz.
Michelle Knight durfte sich weder waschen noch duschen. "Wenn ich meine Tage hatte, warf er mir eine Papierserviette auf den Fußboden. Ich versuchte, sie zusammenzurollen und eine Art Tampon daraus zu machen, also hatte ich am ganzen Körper braune Flecken aus getrocknetem Blut. In den Haaren hatte ich so viel von seinem getrockneten Sperma; wenn ich sie anfasste, waren sie hart wie Stein."
Was muss geschehen, damit sich ein Mensch den Tod wünscht? Michelle Knight wünschte ihn sich nicht, sie wollte überleben, ihrem Sohn Joey zuliebe und es waren die Gedanken an ihn, an Erlebnisse wie Joeys erste Schritte, die sie am Leben hielten.
Der als Schulbusfahrer arbeitende Ariel Castro verhielt sich unberechenbar. In einem Moment vergewaltigte er Michelle Knight, um ihr im nächsten Augenblick zu erlauben, auf der Veranda zu sitzen. Er schenkte ihr einen kleinen Hund und brach ihm später in einem Wutanfall das Genick. Einmal sagte er: "Wein doch nicht. Du sollst nicht traurig sein. Ich will, daß du glücklich bist hier mit mir. Wir wollen doch eine richtige Familie sein." Mehrmals wurde Michelle Knight schwanger, jedes Mal starb das Baby, getötet durch Castros Schläge.
Nach außen hin trat Castro, typisch für diese Art Täter, als Saubermann auf, als netter Nachbar, der mit Freunden im Garten grillte und sonntags in die Kirche ging. Drinnen, in seinem zum Hochsicherheitstrakt umfunktionierten Haus, folterte er weiter. Er entführte zwei weitere Frauen, Gina DeJesus und Amanda Berry, die eine Tochter von ihm zur Welt brachte. Am 8. Mai 2013 vergaß Castro beim Verlassen des Hauses eine der Türen richtig zu schließen - und dieses Mal verhallten die Schreie nicht. Die Frauen wurden befreit, Castro wurde verhaftet. Das Urteil: lebenslänglich. Vor Gericht sagte Michelle Knight: "Ich habe elf Jahre in der Hölle zugebracht, und deine Hölle fängt jetzt erst an." Kurze Zeit später fand man den dreiundfünfzig Jahre alten Castro erhängt in seiner Zelle.
MELANIE MÜHL
Michelle Knight mit Michelle Burford: "Die Unzerbrechliche". Elf Jahre in Gefangenschaft. Wie ich überlebte. Aus dem Englischen von Isabelle Lorenz und Bernhard Schmidt. Lübbe Verlag, Köln 2014. 288 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michelle Knight, das erste Opfer des Cleveland-Entführers Ariel Castro, hat ihre Memoiren geschrieben
Das inzwischen abgerissene Haus, in dem Ariel Castro drei Mädchen jahrelang gefangen hielt, sie folterte, demütigte, sexuell missbrauchte, sah wie jene schnell zusammengezimmerten amerikanischen Unterkünfte aus, von denen man fürchtet, dass sie den nächsten größeren Sturm nicht überstehen. Es lag an einer mit ein paar Bäumen gesäumten Straße in Cleveland, Ohio, und auf einer Luftaufnahme erkennt man deutlich, dass die Häuser der Nachbarn ziemlich nah an Castros heranrückten. So nah, dass man meint, monströse Verbrechen könnten hier unmöglich unbemerkt bleiben. Doch genau das taten sie. Warum also fiel niemandem etwas auf? Warum blieben die Schreie der Opfer ungehört? Weshalb fand es offenbar niemand merkwürdig, dass Castro irgendwann einige Fenster seines Hauses verbarrikadierte?
Am 23. August 2002 wurde Michelle Knight von Ariel Castro entführt, im Alter von 21 Jahren. Sie war unterwegs zum Sozialamt an diesem Tag, es ging um das Sorgerecht für ihren kleinen Sohn, das sie verloren hatte. Doch Michelle Knight fand die Adresse nicht, also fragte sie in einem Family Dollar Store nach dem Weg. In ihrem gerade erschienenen Buch "Die Unzerbrechliche" schreibt sie: "Als ich schon gehen wollte, hörte ich eine Männerstimme ein paar Meter weiter weg. ,Ich weiß genau, wo das ist.'" Es war die Stimme von Castro. Michelle Knight kannte ihn, sie war mit seiner Tochter Emily befreundet. Sie ließ sich mit dem Versprechen, Hundewelpen streicheln zu dürfen, in sein Haus locken.
",Die Welpen sind da unter der Kommode', sagte er. Ich schaute zu der Stelle, auf die er gezeigt hatte, und dann plötzlich - Peng! - hatte er die Tür zugeschlagen. Er hielt mir seine riesige Hand über Mund und Nase, dann presste er die andere Hand gegen meinen Hinterkopf. ,Ich mach dich kalt, wenn du nochmal schreist!' brüllte er." Die etwa 170 Buchseiten, die nun folgen, erzählen die Geschichte eines elfjährigen Martyriums.
Das Schicksal von Natascha Kampusch kommt einem in den Sinn, ebenso die Tat Josef Fritzls, der seine Tochter 24 Jahre lang in einem Verlies gefangen hielt. Durch die Nachrichten geht gerade ein Fall aus Kalifornien, in dem eine Frau ihrem Entführer zehn Jahre lang ausgeliefert gewesen sein soll.
Michelle Knight durchlitt während ihrer Gefangenschaft Unvorstellbares. Ihr Peiniger legte sie in Ketten, er stellte einen Plastikeimer in ihre Nähe, der als Toilette diente und den er nur selten leerte. Er schlug und vergewaltigte sie tausendfach. Mal bekam sie etwas zu essen, mal bekam sie nichts. "Nachts oder an den Wochenenden kam er manchmal mit etwas mehr Essen. Das konnte alles Mögliche sein, aber meist hatte es schon länger herumgestanden: vertrocknete Pizza zum Beispiel, ranzige Bohnen mit hart gewordenem Reis, warmer, wässriger Joghurt oder abgestandene Tacos." Die ersten Monate schloss Castro die junge Frau in den Keller und versuchte, sie zu brechen, ihr alles zu nehmen, ihre Würde, ihren Stolz.
Michelle Knight durfte sich weder waschen noch duschen. "Wenn ich meine Tage hatte, warf er mir eine Papierserviette auf den Fußboden. Ich versuchte, sie zusammenzurollen und eine Art Tampon daraus zu machen, also hatte ich am ganzen Körper braune Flecken aus getrocknetem Blut. In den Haaren hatte ich so viel von seinem getrockneten Sperma; wenn ich sie anfasste, waren sie hart wie Stein."
Was muss geschehen, damit sich ein Mensch den Tod wünscht? Michelle Knight wünschte ihn sich nicht, sie wollte überleben, ihrem Sohn Joey zuliebe und es waren die Gedanken an ihn, an Erlebnisse wie Joeys erste Schritte, die sie am Leben hielten.
Der als Schulbusfahrer arbeitende Ariel Castro verhielt sich unberechenbar. In einem Moment vergewaltigte er Michelle Knight, um ihr im nächsten Augenblick zu erlauben, auf der Veranda zu sitzen. Er schenkte ihr einen kleinen Hund und brach ihm später in einem Wutanfall das Genick. Einmal sagte er: "Wein doch nicht. Du sollst nicht traurig sein. Ich will, daß du glücklich bist hier mit mir. Wir wollen doch eine richtige Familie sein." Mehrmals wurde Michelle Knight schwanger, jedes Mal starb das Baby, getötet durch Castros Schläge.
Nach außen hin trat Castro, typisch für diese Art Täter, als Saubermann auf, als netter Nachbar, der mit Freunden im Garten grillte und sonntags in die Kirche ging. Drinnen, in seinem zum Hochsicherheitstrakt umfunktionierten Haus, folterte er weiter. Er entführte zwei weitere Frauen, Gina DeJesus und Amanda Berry, die eine Tochter von ihm zur Welt brachte. Am 8. Mai 2013 vergaß Castro beim Verlassen des Hauses eine der Türen richtig zu schließen - und dieses Mal verhallten die Schreie nicht. Die Frauen wurden befreit, Castro wurde verhaftet. Das Urteil: lebenslänglich. Vor Gericht sagte Michelle Knight: "Ich habe elf Jahre in der Hölle zugebracht, und deine Hölle fängt jetzt erst an." Kurze Zeit später fand man den dreiundfünfzig Jahre alten Castro erhängt in seiner Zelle.
MELANIE MÜHL
Michelle Knight mit Michelle Burford: "Die Unzerbrechliche". Elf Jahre in Gefangenschaft. Wie ich überlebte. Aus dem Englischen von Isabelle Lorenz und Bernhard Schmidt. Lübbe Verlag, Köln 2014. 288 S., geb., 19,99 [Euro].
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"Berührend" Freizeit direkt "Herzzerreißend, schockierend, aber letztlich triumphierend enthüllt Die Unzerbrechliche nun Details von Michelles Geschichte bis hin zu den Gedanken und Gebeten." Süd-Ost Journal "Nichts für schwache Nerven!" Donna