Band 17: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der erste Weltkrieg 1914-1918Der Erste Weltkrieg, die Urkatastrophe, steht am Anfang einer Epoche gewaltiger Umwälzungen. In seinem Gefolge ereigneten sich politische und soziale Erschütterungen, die die überkommene bürgerliche Ordnung Europas zerstörten: Mit diesem Niedergang begann der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus und die Stabilisierung des sowjetischen Herrschaftssystems.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2002Versäulte Katastrophe
Wolfgang J. Mommsens Handbuch über den Ersten Weltkrieg
Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. XXXIX und 188 Seiten, 30,- Euro.
Es war der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan, der 1979 - eher beiläufig, in einem Buch über die russisch-französische Annäherung in der Bismarckzeit - den Ersten Weltkrieg als "Urkatastrophe" des inzwischen vergangenen 20. Jahrhunderts bezeichnete. Von Andreas Hillgruber aufgegriffen und in die deutsche Forschung eingeführt, hat sich dieser Topos hierzulande rasch durchgesetzt - jetzt auch bei Wolfgang J. Mommsen, der damit allerdings sehr eigenwillig umgeht. Im Laufe seiner Darstellung des Krieges verengt sich nämlich das Drama auf die "Urkatastrophe Europas", um schließlich im Titel als "Urkatastrophe Deutschlands" zu enden.
Das ist kein Zufall. Einmal erscheint das Buch als Band 17 der Neuauflage des inzwischen legendären "Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte"; und dann hat sich sein Autor zeitlebens vornehmlich mit der deutschen Geschichte dieser Epoche beschäftigt, also mit dem Kaiserreich und einigen seiner prominenten "Insassen", allen voran Max Weber. Schade nur, daß Mommsen dabei die Forschungszeichen der Zeit nicht erkannt beziehungsweise falsch gedeutet hat. Denn das Buch ist eine hausbackene Darstellung der politischen, militärischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands im Ersten Weltkrieg.
Daß Mommsen dem - für sich genommen - banalen Befund Rechnung trägt, wonach der Krieg "nicht nur zu weitreichenden gesellschaftlichen Umschichtungen und Verwerfungen, sondern auch zu tiefgreifenden Veränderungen der deutschen und europäischen Kultur" geführt hat, ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Das entsprechende Kapitel über die "deutsche Gesellschaft im Kriege" bleibt indessen weit hinter den Erwartungen, aber auch hinter dem zurück, was inzwischen als Standard gilt, wenn man in den Themen Gesellschaft, Kultur und Mentalität die hervorragenden Erklärungsmerkmale für den "Aufstieg und Untergang des Deutschen Kaiserreichs" sehen und zugleich eine tragfähige Begründung für die These liefern will, wonach die Karriere Hitlers hier ihren Ursprung habe.
Welche Aussagekraft besitzt hingegen jenes Standardbekenntnis, das Mommsen eingangs seiner Darstellung wie den Hut an der Garderobe abgibt? Danach haben, neben anderen Faktoren, vor allem die "Versäulung der intellektuellen und kulturellen Eliten" sowie "die Entstehung eines aggressiven rassischen Nationalismus, der mit einem virulenten Antisemitismus einherging", dem Aufstieg des Nationalsozialismus den "Weg bereitet". Diese in den siebziger Jahren populäre These läßt sich in solcher Verkürzung längst nicht mehr halten. Das ahnt wohl auch Mommsen, und so macht er sich nicht einmal die Mühe, sie einzulösen.
Der "Gebhardt" wendet sich traditionell vor allem an Lehrer, Schüler und Studenten, und die wiederum erwarten, heute mehr denn je, einen kompetenten Überblick über die auch für Fachleute kaum mehr überschaubare, ungewöhnlich vielseitige Forschungslandschaft. Der Band gibt seinem Leser gleich zwei nach Themen gegliederte, im übrigen aber unkommentierte, insgesamt 30 Seiten umfassende Bibliographien in die Hand. Ein achtseitiger Bericht des Autors über "Forschungsstand und Kontroversen in der Forschung" verdient diesen Namen kaum.
Die letzte Auflage des "Gebhardt" erschien vor 30 Jahren. Autor dieses Bandes - wie übrigens auch der folgenden bis hin zum abschließenden über die Teilung Deutschlands - war Karl Dietrich Erdmann. Gewiß wird man aus heutiger Sicht bei seiner Darstellung des Ersten Weltkrieges eine gewisse Schwerpunktsetzung auf die Diplomatie- und Militärgeschichte feststellen können. Dafür war und ist der Band gerade in dieser entscheidenden Hinsicht grundsolide und durchweg zuverlässig. Von der Neuauflage läßt sich das nicht sagen. Zwar übt sich Mommsen, der lange Zeit zu den Vorreitern der Kritik an dieser Art der Geschichtsschreibung zählte, jetzt selbst in moderner Diplomatiegeschichte. Gelingen aber will ihm das nicht.
Welchen Erklärungswert hat eine Darstellung des Kriegsausbruchs 1914, die lapidar feststellt, daß nach der Kriegserklärung an Rußland, "auch" eine solche an Frankreich "erging"? Kein Wort von der in französischen Augen unerhörten Anfrage des 31. Juli, Deutschland im Falle der Neutralität die "Festungen Toul und Verdun" als "Pfand" zu überlassen; kein Hinweis auf die aus deutscher Sicht hochproblematische Antwort Frankreichs, das zu tun, "was seine Interessen geböten". Wie war das zu verstehen? Hatte die Reichsleitung mit ihrer Anfrage eine solche Auskunft provoziert? Übernahm sie damit den entscheidenden Teil der Verantwortung für das Weitere? Wer Antworten auf solche Fragen sucht, die seit jenen dramatischen Tagen im Vordergrund des politischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses stehen, sollte seinen alten Erdmann-"Gebhardt" nicht entsorgen.
GREGOR SCHÖLLGEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfgang J. Mommsens Handbuch über den Ersten Weltkrieg
Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. XXXIX und 188 Seiten, 30,- Euro.
Es war der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan, der 1979 - eher beiläufig, in einem Buch über die russisch-französische Annäherung in der Bismarckzeit - den Ersten Weltkrieg als "Urkatastrophe" des inzwischen vergangenen 20. Jahrhunderts bezeichnete. Von Andreas Hillgruber aufgegriffen und in die deutsche Forschung eingeführt, hat sich dieser Topos hierzulande rasch durchgesetzt - jetzt auch bei Wolfgang J. Mommsen, der damit allerdings sehr eigenwillig umgeht. Im Laufe seiner Darstellung des Krieges verengt sich nämlich das Drama auf die "Urkatastrophe Europas", um schließlich im Titel als "Urkatastrophe Deutschlands" zu enden.
Das ist kein Zufall. Einmal erscheint das Buch als Band 17 der Neuauflage des inzwischen legendären "Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte"; und dann hat sich sein Autor zeitlebens vornehmlich mit der deutschen Geschichte dieser Epoche beschäftigt, also mit dem Kaiserreich und einigen seiner prominenten "Insassen", allen voran Max Weber. Schade nur, daß Mommsen dabei die Forschungszeichen der Zeit nicht erkannt beziehungsweise falsch gedeutet hat. Denn das Buch ist eine hausbackene Darstellung der politischen, militärischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands im Ersten Weltkrieg.
Daß Mommsen dem - für sich genommen - banalen Befund Rechnung trägt, wonach der Krieg "nicht nur zu weitreichenden gesellschaftlichen Umschichtungen und Verwerfungen, sondern auch zu tiefgreifenden Veränderungen der deutschen und europäischen Kultur" geführt hat, ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Das entsprechende Kapitel über die "deutsche Gesellschaft im Kriege" bleibt indessen weit hinter den Erwartungen, aber auch hinter dem zurück, was inzwischen als Standard gilt, wenn man in den Themen Gesellschaft, Kultur und Mentalität die hervorragenden Erklärungsmerkmale für den "Aufstieg und Untergang des Deutschen Kaiserreichs" sehen und zugleich eine tragfähige Begründung für die These liefern will, wonach die Karriere Hitlers hier ihren Ursprung habe.
Welche Aussagekraft besitzt hingegen jenes Standardbekenntnis, das Mommsen eingangs seiner Darstellung wie den Hut an der Garderobe abgibt? Danach haben, neben anderen Faktoren, vor allem die "Versäulung der intellektuellen und kulturellen Eliten" sowie "die Entstehung eines aggressiven rassischen Nationalismus, der mit einem virulenten Antisemitismus einherging", dem Aufstieg des Nationalsozialismus den "Weg bereitet". Diese in den siebziger Jahren populäre These läßt sich in solcher Verkürzung längst nicht mehr halten. Das ahnt wohl auch Mommsen, und so macht er sich nicht einmal die Mühe, sie einzulösen.
Der "Gebhardt" wendet sich traditionell vor allem an Lehrer, Schüler und Studenten, und die wiederum erwarten, heute mehr denn je, einen kompetenten Überblick über die auch für Fachleute kaum mehr überschaubare, ungewöhnlich vielseitige Forschungslandschaft. Der Band gibt seinem Leser gleich zwei nach Themen gegliederte, im übrigen aber unkommentierte, insgesamt 30 Seiten umfassende Bibliographien in die Hand. Ein achtseitiger Bericht des Autors über "Forschungsstand und Kontroversen in der Forschung" verdient diesen Namen kaum.
Die letzte Auflage des "Gebhardt" erschien vor 30 Jahren. Autor dieses Bandes - wie übrigens auch der folgenden bis hin zum abschließenden über die Teilung Deutschlands - war Karl Dietrich Erdmann. Gewiß wird man aus heutiger Sicht bei seiner Darstellung des Ersten Weltkrieges eine gewisse Schwerpunktsetzung auf die Diplomatie- und Militärgeschichte feststellen können. Dafür war und ist der Band gerade in dieser entscheidenden Hinsicht grundsolide und durchweg zuverlässig. Von der Neuauflage läßt sich das nicht sagen. Zwar übt sich Mommsen, der lange Zeit zu den Vorreitern der Kritik an dieser Art der Geschichtsschreibung zählte, jetzt selbst in moderner Diplomatiegeschichte. Gelingen aber will ihm das nicht.
Welchen Erklärungswert hat eine Darstellung des Kriegsausbruchs 1914, die lapidar feststellt, daß nach der Kriegserklärung an Rußland, "auch" eine solche an Frankreich "erging"? Kein Wort von der in französischen Augen unerhörten Anfrage des 31. Juli, Deutschland im Falle der Neutralität die "Festungen Toul und Verdun" als "Pfand" zu überlassen; kein Hinweis auf die aus deutscher Sicht hochproblematische Antwort Frankreichs, das zu tun, "was seine Interessen geböten". Wie war das zu verstehen? Hatte die Reichsleitung mit ihrer Anfrage eine solche Auskunft provoziert? Übernahm sie damit den entscheidenden Teil der Verantwortung für das Weitere? Wer Antworten auf solche Fragen sucht, die seit jenen dramatischen Tagen im Vordergrund des politischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses stehen, sollte seinen alten Erdmann-"Gebhardt" nicht entsorgen.
GREGOR SCHÖLLGEN
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Seit der 'Gebhardt', das "traditionsreichste Handbuch der deutschen Geschichte" zum letzten Mal von Grund auf überarbeitet wurde, "schreibt sich Geschichte anders und heißt historische Sozialwissenschaft", schreibt Rezensent Thomas Thiemeyer einleitend. Und so begrüßt er das Erscheinen des neuen Gebhardt, der wie Thiemeyer lobend anmerkt, mit dem alten nur noch den Namen gemeinsam hat. Nicht mehr vier, sondern 24 Bände soll der neue Gebhardt umfassen und davon sind jetzt zwei neu erschienen. Wolfgang Mommsen folge in seinem Band zum Ersten Weltkrieg jedoch eher der "klassischen Geschichtsschreibung". Dabei hätte Mommsen mehr auf das "Charakteristische am Ersten Weltkrieg" eingehen können, findet der Rezensent, nämlich auf "das Leben in den Kriegsgräben". Diese Schwäche geht nach Ansicht des Rezensenten einher mit dem allgemeinen Versäumnis des neuen Gebhardts: Fotos und Karten fehlen. Insgesamt jedoch findet Thiemeyer die Bände gelungen, da sie sowohl "profunde Analysen" liefern, als auch immer wieder die Forschung miteinbeziehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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