Menschen sprechen - im Gegensatz zu allen anderen bekannten Lebewesen auf diesem Planeten. Generationen von Wissenschaftlern haben sich an diesem bemerkenswerten Faktum abgearbeitet, Spekulationen über die Herkunft der menschlichen Sprache gibt es viele, aber bis heute keine überzeugende Erklärung. Mit Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation gelingt Michael Tomasello ein entscheidender Schritt zur Lösung dieses Rätsels.Gestützt auf reiches empirisches Material aus der Primaten- und Säuglingsforschung und die einflußreichsten Theorien der Sprachphilosophie sowie anhand einer Vielzahl von schlagenden Beispielen aus der menschlichen Alltagskommunikation präsentiert er ein raffiniertes mehrstufiges Modell der Sprachentwicklung in individualgeschichtlicher wie auch artgeschichtlicher Perspektive. Zentrale Gelenkstelle in diesem Modell sind Gesten - Zeigen und Pantomime -, die sich im Zuge der Herausbildung sozialer Kooperation unter Primaten evolutionär entwickelt haben. In diesen Gesten erkennt Tomasello die Urformen der menschlichen Sprache. Um von diesen gestischen Vorformen zu einer komplexen sprachlichen Kommunikation zu gelangen, die dann kulturell kodiert, tradiert und verfeinert werden kann, bedarf es allerdings noch einer weiteren biologisch verankerten, aber exklusiv menschlichen Voraussetzung: einer »psychologischen Infrastruktur geteilter Intentionalität«. Diese sorgt dafür, daß Menschen ihre Wahrnehmungen und Absichten untereinander abstimmen und zum Bezugspunkt ihres gemeinsamen Handelns machen können. Der Mensch spricht, so könnte man sagen, weil er ein genuin soziales Wesen ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2009Mein äffisches Vorleben
Nicht in den Lauten, sondern in den Gesten ist das Geheimnis der Sprache begründet: Aus der besonderen Kooperationsfreudigkeit unserer Gattung erklärt der Verhaltensforscher Michael Tomasello „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation” Von Johan Schloemann
Tiere können nicht sprechen. Bei dieser kinderleichten Einsicht könnte man es doch eigentlich schon belassen, oder? Nein. Jedenfalls dann nicht, wenn man über beides, über die Tiere und das Sprechen, also auch über uns Menschen, mehr herausfinden will.
Es ist nicht bloß Anthropomorphismus, also falsche Vermenschlichung, wenn wir uns die Tiere immer wieder sprechend vorstellen, in der Literatur und der Populärkultur, auf Orwells „Farm der Tiere”, in Kiplings „Dschungelbuch” oder in unzähligen Kinderbüchern, im Comic und im Werbefilm. Aus solchen Imaginationen spricht zum einen ein ganz allgemeines Gefühl des Lebenszusammenhangs mit aller Kreatur, ein Gefühl, das gerade in der zunehmend städtischen Zivilisation der Moderne immer wieder hervorbricht: „An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles”, heißt es in Kafkas „Bericht für eine Akademie”. Zum anderen aber drückt sich in all den Tiergesprächen, mit denen nicht zuletzt die kleinen Kinder unterhalten werden, eine spezifische menschliche Neugier auf Verständigung aus, ein tief verankertes Interesse am Mechanismus der Mitteilung, des Austauschs, der Kommunikation.
Um einerseits dem Anthropomorphismus zu entgehen, um andererseits beim „Tiere können nicht sprechen” nicht stehenzubleiben, hat die biologische Verhaltensforschung der letzten Jahrzehnte die Kommunikation bei Tieren intensiver untersucht. Dabei sind natürlich, die Vögel und die Delphine mögen es verzeihen, die Studien an nichtmenschlichen Primaten und besonders an Menschenaffen von höchstem Interesse – weil dort komplexe Formen der Interaktion und der sozialen Aktivität zu beobachten sind, und weil bei uns Beobachtern stets die Erwartung präsent ist, „mein äffisches Vorleben” (Kafka) könne auf diese Weise besser verständlich werden.
Dieses Verwandtschaftsverhältnis zwischen Mensch und Affe ist ja soeben erst wieder, pünktlich zum laufenden Jubiläumsjahr von Charles Darwin, spektakulär ins Bewusstsein getreten, nämlich durch „Ardi”, den jetzt publizierten Fund eines 4,4 Millionen Jahre alten weiblichen Skeletts von der Art des zum aufrechten Gang fähigen Ardipithecus ramidus. Dieser afrikanische Fossilfund ruft wieder einmal in Erinnerung, dass wir nicht, wie es in der populär immer noch wirksamen Darwin-Diffamierung hieß, von den Menschenaffen, wie wir sie heute in der Natur antreffen, „abstammen”, sondern dass wir mit ihnen gemeinsame Vorfahren haben, was ja etwas ganz anderes ist. „Ardi” liegt zeitlich offenbar schon nach der evolutionsgeschichtlichen Abspaltung des Vormenschen von Schimpansen und Gorillas. Ja, erste Deutungen des physiologischen Befundes besagen, dass dieser uralte Protomensch, dessen Gehirn noch nicht die menschliche Vergrößerung erfahren hatte, gleichwohl schon einer stärker kooperativen Lebensweise nachgegangen sein könnte – die aggressiven Eckzähne, wie sie Menschenaffen aufweisen, haben sich bereits auffällig zurückgebildet.
Wenn also klar ist, klarer noch als zuvor, dass uns Millionen Jahre der Entwicklung von den Menschenaffen trennen, so ist dennoch die Erforschung von deren Kommunikation sehr ergiebig. Sie haben zwar keine Sprache im Sinne eines arbiträren Systems von Symbolen, die durch Konvention Bedeutung tragen; man kann den Affen in noch so vielen Experimenten kein einziges Wort beibringen, das sie fortan selbst zur Benennung einer Sache verwenden würden. Aber sie haben eine ausgeprägte Gestik, sie können offenbar Kommunikationsabsichten des Gegenübers verstehen – was einen guten Teil der Forschung dem Menschenaffen eine rudimentäre „theory of mind” zuschreiben lässt –, und sie haben je nach Art ein Repertoire an Lauten, die spezifische Bedeutung tragen, etwa Rufe, die vor bekannten Gefahren warnen.
Gerade bei der Beobachtung dieser Laute in freier Wildbahn, mit der die Biologen in jüngster Zeit weit vorangekommen sind, zeigt sich allerdings auch eine deutliche Grenze. Während nämlich die Gestik des Gesichts und der Hände bei den Affen eine gewisse Flexibilität aufweist, die sich durch Kommunikationsexperimente mit Menschen noch verbessern lässt, so sind ihre lautlichen Äußerungen hingegen eher starr, also genetisch fixiert. Die kaum variablen Laute der Affen sind von Emotionen ausgelöst – insofern in der Tat Ausdruck der Mensch und Tier gemeinsamen Leidensfähigkeit, wie sie Johann Gottfried Herder in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache” herausgestellt hat. Aber es gibt kein Anzeichen dafür, dass der Affe mit seinem Ruf dem anderen etwas mitteilen oder gar erzählen möchte.
Genau hier setzt der amerikanische Verhaltensforscher Michael Tomasello an, der als Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig arbeitet. Das evolutionäre Potential in Richtung menschlicher Sprache ist nach seiner Analyse nicht in den Lauten, sondern in der Gestik zu finden. Die Laute waren demnach in prähistorischer Zeit für die Sprachentwicklung sekundär; sie haben die Zeigegesten und Gebärden zunächst nur unterstützend begleitet, bis sie sich dann zu konventionalisierten Bedeutungsträgern verselbstständigt haben. Viele Belege für diese Annahme gibt es – die evolutionäre Bedeutung der Gesten haben auch andere Forscher betont –, aber am griffigsten ist die Reise in ein fremdes Land, wo beide Seiten kein einziges Wort der Sprache des jeweils anderen verstehen: Mit Gestik kann ich dort bekanntlich einiges erreichen – mit der ikonischen Nachahmung von Handlungen oder Gegenständen wie „Schlafen” oder „Kaffeetasse” etwa –, mit Worten ohne Gestik hingegen kann ich mich überhaupt nicht verständlich machen.
Die Gesten sind also erst einmal ganz unabhängig von einer konventionellen Sprache mit „echten” Wörtern – auch wenn sie im Umgang der Menschen selbst wieder standardisiert werden können. Und so zeigt sich an der vorsprachlichen Gestik laut Michael Tomasello sowohl das den Primaten gemeinsame Erbe – als auch gerade die menschliche Sonderentwicklung. Dieses humane Extra nun besteht darin, dass die Sprache, dass echter wechselseitiger Austausch nur durch Kooperation entsteht und nur durch Kooperation entstanden sein kann. Gemeinschaftliche Handlungen, gegenseitig nützliche Mitteilsamkeit und ein gemeinsamer Erfahrungs- und Verständnishorizont beim Einsatz von Kommunikation haben die menschliche Kultur und Sprache geformt. Anders ging es nicht.
Diese zentrale und höchst plausible These vertritt Tomasello seit einiger Zeit. Nun aber hat er – nach seinem 2004 auf Deutsch erschienenen Buch „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens” – die Forschungen der letzten Jahre zu einer schlagkräftigen, faszinierenden Synthese gebündelt. Der Clou liegt in einem enggeführten experimentellen Vergleich von Affenkommunikation mit dem Verhalten von Kleinkindern. Das Ergebnis ist, dass Menschenkinder schon nach der sogenannten Neunmonatsrevolution, etwa im Alter von einem Jahr, im Austausch mit Erwachsenen eine „geteilte Intentionalität” entwickeln, die Menschenaffen grundsätzlich abgeht.
Gemeint ist damit, dass die Kleinkinder gestisch kommunizieren, um gemeinsam mit anderen ein Ziel zu erreichen – beispielsweise bei einem Spiel –, und dem Kommunikationspartner zugleich in einem geistigen Rollentausch ebenfalls diese gemeinsame Absicht unterstellen; und dass sie oft auch einfach nur eine Information mitteilen wollen, weil sie gemeinsames Interesse daran voraussetzen. Dazu gehören auch im frühen Alter bereits Auskünfte über räumlich oder zeitlich Abwesendes. Diese „vollständige kooperative Infrastruktur” ist, so Tomasello, „schon ausgebildet, bevor der Spracherwerb ernsthaft beginnt”. Das Gegenargument, dass heutige Kleinkinder – im Unterschied zu den evolutionären Vorstufen – ja schon von Geburt an von den Sprachlauten der Erwachsenen umgeben sind, wodurch der Befund verzerrt werden könnte, läuft ins Leere – denn auch gehörlose Kleinkinder kommunizieren in gleicher Weise mit Zeigegesten und Gebärden.
Diese „beharrlichen Versuche, gemeinsame Aufmerksamkeit und geteiltes Interesse herzustellen” sind also, so unscheinbar sie beim Aufwachsen von Kindern im Vergleich zum ersten Wort erscheinen mögen, eine fundamentale menschliche Besonderheit, die das Wesen unserer Kommunikation aufschlüsselt. Der Vater macht Anstalten, das Haus zu verlassen – das Kleinkind zeigt auf die Wohnungstür. Bedeutung: Papa wird bald durch diese Tür gehen. Das ist eine Feststellung, die Gemeinsamkeit schafft, mit der das Kind nichts für sich „erreicht”. Das Kind hört das Geräusch eines Flugzeugs, das nicht zu sehen ist – es zeigt in die Richtung des Geräuschs und sucht den Blickkontakt. Es will mitteilen: „Toll, was?” und lässt nicht locker, bis seine Begeisterung geteilt wird.
Menschliche Sprache entsteht mithin nicht bloß durch „Abbildung”, indem irgendwie Laute auf Dinge bezogen werden. Auch nicht durch reine Konkurrenz oder reine Angeborenheit. Sie ist gruppenspezifisch, was die Existenz vieler Sprachen innerhalb unserer Spezies erklärt. Sprache ist nur durch Formen der Zusammenarbeit zu erklären, die dem Menschen eigen sind und ihm offenbar in der Evolution zum Vorteil gereichten. Dass er diese Zusammenarbeit dann auf ganz unterschiedliche Weise einsetzen kann, zum Bau von Vernichtungswaffen oder zum Erfinden der Rentenversicherung, das steht auf einem anderen Blatt.
Michael Tomasello
Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 410 Seiten, 39,80 Euro.
„Ardi” und Darwin-Jahr: Unser Verwandtschaftsverhältnis wird uns wieder sehr bewusst
Der Vater packt seine Tasche – und das Kleinkind zeigt auf die Wohnungstür
Wie kleine Kinder, so benutzen auch Menschenaffen ihre Hände zur Kommunikation. Aber ein geteiltes Interesse an der Mitteilung gibt es nur zwischen Menschen. Fotos: Getty, vario-images, Picture Press, Mauritius
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Nicht in den Lauten, sondern in den Gesten ist das Geheimnis der Sprache begründet: Aus der besonderen Kooperationsfreudigkeit unserer Gattung erklärt der Verhaltensforscher Michael Tomasello „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation” Von Johan Schloemann
Tiere können nicht sprechen. Bei dieser kinderleichten Einsicht könnte man es doch eigentlich schon belassen, oder? Nein. Jedenfalls dann nicht, wenn man über beides, über die Tiere und das Sprechen, also auch über uns Menschen, mehr herausfinden will.
Es ist nicht bloß Anthropomorphismus, also falsche Vermenschlichung, wenn wir uns die Tiere immer wieder sprechend vorstellen, in der Literatur und der Populärkultur, auf Orwells „Farm der Tiere”, in Kiplings „Dschungelbuch” oder in unzähligen Kinderbüchern, im Comic und im Werbefilm. Aus solchen Imaginationen spricht zum einen ein ganz allgemeines Gefühl des Lebenszusammenhangs mit aller Kreatur, ein Gefühl, das gerade in der zunehmend städtischen Zivilisation der Moderne immer wieder hervorbricht: „An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles”, heißt es in Kafkas „Bericht für eine Akademie”. Zum anderen aber drückt sich in all den Tiergesprächen, mit denen nicht zuletzt die kleinen Kinder unterhalten werden, eine spezifische menschliche Neugier auf Verständigung aus, ein tief verankertes Interesse am Mechanismus der Mitteilung, des Austauschs, der Kommunikation.
Um einerseits dem Anthropomorphismus zu entgehen, um andererseits beim „Tiere können nicht sprechen” nicht stehenzubleiben, hat die biologische Verhaltensforschung der letzten Jahrzehnte die Kommunikation bei Tieren intensiver untersucht. Dabei sind natürlich, die Vögel und die Delphine mögen es verzeihen, die Studien an nichtmenschlichen Primaten und besonders an Menschenaffen von höchstem Interesse – weil dort komplexe Formen der Interaktion und der sozialen Aktivität zu beobachten sind, und weil bei uns Beobachtern stets die Erwartung präsent ist, „mein äffisches Vorleben” (Kafka) könne auf diese Weise besser verständlich werden.
Dieses Verwandtschaftsverhältnis zwischen Mensch und Affe ist ja soeben erst wieder, pünktlich zum laufenden Jubiläumsjahr von Charles Darwin, spektakulär ins Bewusstsein getreten, nämlich durch „Ardi”, den jetzt publizierten Fund eines 4,4 Millionen Jahre alten weiblichen Skeletts von der Art des zum aufrechten Gang fähigen Ardipithecus ramidus. Dieser afrikanische Fossilfund ruft wieder einmal in Erinnerung, dass wir nicht, wie es in der populär immer noch wirksamen Darwin-Diffamierung hieß, von den Menschenaffen, wie wir sie heute in der Natur antreffen, „abstammen”, sondern dass wir mit ihnen gemeinsame Vorfahren haben, was ja etwas ganz anderes ist. „Ardi” liegt zeitlich offenbar schon nach der evolutionsgeschichtlichen Abspaltung des Vormenschen von Schimpansen und Gorillas. Ja, erste Deutungen des physiologischen Befundes besagen, dass dieser uralte Protomensch, dessen Gehirn noch nicht die menschliche Vergrößerung erfahren hatte, gleichwohl schon einer stärker kooperativen Lebensweise nachgegangen sein könnte – die aggressiven Eckzähne, wie sie Menschenaffen aufweisen, haben sich bereits auffällig zurückgebildet.
Wenn also klar ist, klarer noch als zuvor, dass uns Millionen Jahre der Entwicklung von den Menschenaffen trennen, so ist dennoch die Erforschung von deren Kommunikation sehr ergiebig. Sie haben zwar keine Sprache im Sinne eines arbiträren Systems von Symbolen, die durch Konvention Bedeutung tragen; man kann den Affen in noch so vielen Experimenten kein einziges Wort beibringen, das sie fortan selbst zur Benennung einer Sache verwenden würden. Aber sie haben eine ausgeprägte Gestik, sie können offenbar Kommunikationsabsichten des Gegenübers verstehen – was einen guten Teil der Forschung dem Menschenaffen eine rudimentäre „theory of mind” zuschreiben lässt –, und sie haben je nach Art ein Repertoire an Lauten, die spezifische Bedeutung tragen, etwa Rufe, die vor bekannten Gefahren warnen.
Gerade bei der Beobachtung dieser Laute in freier Wildbahn, mit der die Biologen in jüngster Zeit weit vorangekommen sind, zeigt sich allerdings auch eine deutliche Grenze. Während nämlich die Gestik des Gesichts und der Hände bei den Affen eine gewisse Flexibilität aufweist, die sich durch Kommunikationsexperimente mit Menschen noch verbessern lässt, so sind ihre lautlichen Äußerungen hingegen eher starr, also genetisch fixiert. Die kaum variablen Laute der Affen sind von Emotionen ausgelöst – insofern in der Tat Ausdruck der Mensch und Tier gemeinsamen Leidensfähigkeit, wie sie Johann Gottfried Herder in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache” herausgestellt hat. Aber es gibt kein Anzeichen dafür, dass der Affe mit seinem Ruf dem anderen etwas mitteilen oder gar erzählen möchte.
Genau hier setzt der amerikanische Verhaltensforscher Michael Tomasello an, der als Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig arbeitet. Das evolutionäre Potential in Richtung menschlicher Sprache ist nach seiner Analyse nicht in den Lauten, sondern in der Gestik zu finden. Die Laute waren demnach in prähistorischer Zeit für die Sprachentwicklung sekundär; sie haben die Zeigegesten und Gebärden zunächst nur unterstützend begleitet, bis sie sich dann zu konventionalisierten Bedeutungsträgern verselbstständigt haben. Viele Belege für diese Annahme gibt es – die evolutionäre Bedeutung der Gesten haben auch andere Forscher betont –, aber am griffigsten ist die Reise in ein fremdes Land, wo beide Seiten kein einziges Wort der Sprache des jeweils anderen verstehen: Mit Gestik kann ich dort bekanntlich einiges erreichen – mit der ikonischen Nachahmung von Handlungen oder Gegenständen wie „Schlafen” oder „Kaffeetasse” etwa –, mit Worten ohne Gestik hingegen kann ich mich überhaupt nicht verständlich machen.
Die Gesten sind also erst einmal ganz unabhängig von einer konventionellen Sprache mit „echten” Wörtern – auch wenn sie im Umgang der Menschen selbst wieder standardisiert werden können. Und so zeigt sich an der vorsprachlichen Gestik laut Michael Tomasello sowohl das den Primaten gemeinsame Erbe – als auch gerade die menschliche Sonderentwicklung. Dieses humane Extra nun besteht darin, dass die Sprache, dass echter wechselseitiger Austausch nur durch Kooperation entsteht und nur durch Kooperation entstanden sein kann. Gemeinschaftliche Handlungen, gegenseitig nützliche Mitteilsamkeit und ein gemeinsamer Erfahrungs- und Verständnishorizont beim Einsatz von Kommunikation haben die menschliche Kultur und Sprache geformt. Anders ging es nicht.
Diese zentrale und höchst plausible These vertritt Tomasello seit einiger Zeit. Nun aber hat er – nach seinem 2004 auf Deutsch erschienenen Buch „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens” – die Forschungen der letzten Jahre zu einer schlagkräftigen, faszinierenden Synthese gebündelt. Der Clou liegt in einem enggeführten experimentellen Vergleich von Affenkommunikation mit dem Verhalten von Kleinkindern. Das Ergebnis ist, dass Menschenkinder schon nach der sogenannten Neunmonatsrevolution, etwa im Alter von einem Jahr, im Austausch mit Erwachsenen eine „geteilte Intentionalität” entwickeln, die Menschenaffen grundsätzlich abgeht.
Gemeint ist damit, dass die Kleinkinder gestisch kommunizieren, um gemeinsam mit anderen ein Ziel zu erreichen – beispielsweise bei einem Spiel –, und dem Kommunikationspartner zugleich in einem geistigen Rollentausch ebenfalls diese gemeinsame Absicht unterstellen; und dass sie oft auch einfach nur eine Information mitteilen wollen, weil sie gemeinsames Interesse daran voraussetzen. Dazu gehören auch im frühen Alter bereits Auskünfte über räumlich oder zeitlich Abwesendes. Diese „vollständige kooperative Infrastruktur” ist, so Tomasello, „schon ausgebildet, bevor der Spracherwerb ernsthaft beginnt”. Das Gegenargument, dass heutige Kleinkinder – im Unterschied zu den evolutionären Vorstufen – ja schon von Geburt an von den Sprachlauten der Erwachsenen umgeben sind, wodurch der Befund verzerrt werden könnte, läuft ins Leere – denn auch gehörlose Kleinkinder kommunizieren in gleicher Weise mit Zeigegesten und Gebärden.
Diese „beharrlichen Versuche, gemeinsame Aufmerksamkeit und geteiltes Interesse herzustellen” sind also, so unscheinbar sie beim Aufwachsen von Kindern im Vergleich zum ersten Wort erscheinen mögen, eine fundamentale menschliche Besonderheit, die das Wesen unserer Kommunikation aufschlüsselt. Der Vater macht Anstalten, das Haus zu verlassen – das Kleinkind zeigt auf die Wohnungstür. Bedeutung: Papa wird bald durch diese Tür gehen. Das ist eine Feststellung, die Gemeinsamkeit schafft, mit der das Kind nichts für sich „erreicht”. Das Kind hört das Geräusch eines Flugzeugs, das nicht zu sehen ist – es zeigt in die Richtung des Geräuschs und sucht den Blickkontakt. Es will mitteilen: „Toll, was?” und lässt nicht locker, bis seine Begeisterung geteilt wird.
Menschliche Sprache entsteht mithin nicht bloß durch „Abbildung”, indem irgendwie Laute auf Dinge bezogen werden. Auch nicht durch reine Konkurrenz oder reine Angeborenheit. Sie ist gruppenspezifisch, was die Existenz vieler Sprachen innerhalb unserer Spezies erklärt. Sprache ist nur durch Formen der Zusammenarbeit zu erklären, die dem Menschen eigen sind und ihm offenbar in der Evolution zum Vorteil gereichten. Dass er diese Zusammenarbeit dann auf ganz unterschiedliche Weise einsetzen kann, zum Bau von Vernichtungswaffen oder zum Erfinden der Rentenversicherung, das steht auf einem anderen Blatt.
Michael Tomasello
Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 410 Seiten, 39,80 Euro.
„Ardi” und Darwin-Jahr: Unser Verwandtschaftsverhältnis wird uns wieder sehr bewusst
Der Vater packt seine Tasche – und das Kleinkind zeigt auf die Wohnungstür
Wie kleine Kinder, so benutzen auch Menschenaffen ihre Hände zur Kommunikation. Aber ein geteiltes Interesse an der Mitteilung gibt es nur zwischen Menschen. Fotos: Getty, vario-images, Picture Press, Mauritius
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2009Zeigende Tiere
Michael Tomasellos Buch über die "Ursprünge der menschlichen Kommunikation" widmeten wir bereits eine ausführliche Besprechung, als die englische Originalausgabe erschien (F.A.Z. vom 15. Januar). Nun liegt das Buch auch auf Deutsch vor. Der Leiter der Abteilung für Vergleichende und Entwicklungspsychologie am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie modifiziert darin seine vor einigen Jahren entworfene Theorie, nach der die Sonderstellung des Menschen in seiner exklusiven Fähigkeit zur Wahrnehmung von Intentionen seiner Gattungsgenossen bestehe. Nicht zuletzt seine eigene Arbeitsgruppe hatte inzwischen nachgewiesen, dass dies auch unsere nächsten Verwandten unter den Primaten können. Was nun in Stellung gebracht wird, ist eine tiefverankerte soziale Komponente: Nicht die schlichte Orientierung an erkannten Absichten anderer bringt uns auf den Sonderweg beschleunigter kultureller Evolution, sondern die Fähigkeit, solche Orientierungen untereinander abzustimmen und uns gemeinsam auf Absichten oder Wahrnehmungen zu beziehen. Was wir dabei schon vor Erreichen unseres ersten Lebensjahres verwenden, sind Gesten - insbesondere die Zeigegeste. Und aus Gesten, die bei unseren tierischen Verwandten wesentlich flexibler sind als Lautgebungen, sieht Tomasello schrittweise unser überlegenes Kommunikationsinstrument der Sprache hervorgehen. In die Rekonstruktion dieser Entwicklung von "natürlichen" Gestenbedeutungen zu linguistischen Konventionen und Verkettungen gehen natürlich einige Vermutungen ein."Ein großer Wurf", meinte der Rezensent, und mittlerweile ist für Tomasello auch ganz zu Recht der renommierte Hegel-Preis dazugekommen. (Michael Tomasello: "Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation". Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 410 S., geb., 39,80 [Euro].) hmay
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Tomasellos Buch über die "Ursprünge der menschlichen Kommunikation" widmeten wir bereits eine ausführliche Besprechung, als die englische Originalausgabe erschien (F.A.Z. vom 15. Januar). Nun liegt das Buch auch auf Deutsch vor. Der Leiter der Abteilung für Vergleichende und Entwicklungspsychologie am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie modifiziert darin seine vor einigen Jahren entworfene Theorie, nach der die Sonderstellung des Menschen in seiner exklusiven Fähigkeit zur Wahrnehmung von Intentionen seiner Gattungsgenossen bestehe. Nicht zuletzt seine eigene Arbeitsgruppe hatte inzwischen nachgewiesen, dass dies auch unsere nächsten Verwandten unter den Primaten können. Was nun in Stellung gebracht wird, ist eine tiefverankerte soziale Komponente: Nicht die schlichte Orientierung an erkannten Absichten anderer bringt uns auf den Sonderweg beschleunigter kultureller Evolution, sondern die Fähigkeit, solche Orientierungen untereinander abzustimmen und uns gemeinsam auf Absichten oder Wahrnehmungen zu beziehen. Was wir dabei schon vor Erreichen unseres ersten Lebensjahres verwenden, sind Gesten - insbesondere die Zeigegeste. Und aus Gesten, die bei unseren tierischen Verwandten wesentlich flexibler sind als Lautgebungen, sieht Tomasello schrittweise unser überlegenes Kommunikationsinstrument der Sprache hervorgehen. In die Rekonstruktion dieser Entwicklung von "natürlichen" Gestenbedeutungen zu linguistischen Konventionen und Verkettungen gehen natürlich einige Vermutungen ein."Ein großer Wurf", meinte der Rezensent, und mittlerweile ist für Tomasello auch ganz zu Recht der renommierte Hegel-Preis dazugekommen. (Michael Tomasello: "Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation". Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 410 S., geb., 39,80 [Euro].) hmay
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
So richtig Freude hat die Lektüre dieses Buchs dem Rezensent Volker Sommer nicht gemacht. Zu wenig spielerisch geht es ihm zu in diesem Buch des Anthropologen Michael Tomasello. Konnte Sommer, selbst Professor für evolutionäre Anthropologie in London, bei Frans de Waal oder Jane Goodall mit Vergnügen lernen, was Primaten und Menschen trennt bzw. verbindet, so liest er bei Tomasello zu viel Fachterminologie, Wiederholungen, Zusammenfassungen und Primärliteraturzitate. Nicht zuletzt kann Sommer die im Buch entfalteten Thesen einer kooperativen Basis von Kommunikation, der Zurückführung der Sprache auf Gesten und eines spezifisch menschlichen Wir-Empfindens (im Gegensatz zum Menschenaffen) nicht in allen Punkten nachvollziehen. Dass Tomasello fünfzig Jahre Freilandforschung mit Primaten ignoriert und die gedachte oder Laborsituation vorzieht, kann Sommer zum Beispiel nicht verstehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Tomasello entwirft in seinem Werk eine faszinierende Naturgeschichte der menschlichen Kommunikation und stellt den ehrwürdigen Diskurs über den Ursprung der Sprache auf eine neue Basis. « Jürgen Habermas DIE ZEIT
»Schlüssig und lebendig belegt Tomasello, wie menschliche Kommunikation in diesem Wir-Gefühl gründet, entwicklungsgeschichtlich wie entwicklungspsychologisch.«