Als Suleima im Wartezimmer eines Psychologen Nassim, einen Arzt und Schriftsteller, kennenlernt, entspinnt sich zwischen den beiden eine Amour Fou, die viele Jahre andauert. Als in Syrien der Krieg ausbricht, flieht Nassim nach Deutschland und lässt nichts mehr von sich hören. Doch eines Tages erreicht Suleima ein Manuskript ihres Freundes. Bei der Lektüre stellt sie fest, dass Nassim eine Geschichte erzählt, die sehr viel mit ihrer eigenen zu tun hat. Salma, die Protagonistin aus Nassims Manuskript, erzählt von dem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter, vom frühen Tod des Vaters und den Schwierigkeiten, mit Eltern aufzuwachsen, die unterschiedlichen Religionen angehören, in einer Familie, die von der Diktatur zermalmt wurde.
Für Suleima wird die Lektüre von Nassims Manuskript zu einer Reise zu sich selbst, in magischen Traumbildern arbeitet sie ihre eigene Vergangenheit auf, beginnt ihre Geschichte zu begreifen und macht sich schließlich auf die Suche nach der Frau, die ihr Schicksal teilt.
Das eindringliche Zeugnis einer von gesellschaftlichen und politischen Wirren beschädigten Biografie, die das Schicksal einer ganzen Generation wiederspiegelt, erzählt in einer kraftvollen und poetischen Sprache von einer der wichtigsten Stimmen der arabischen Gegenwartsliteratur.
Für Suleima wird die Lektüre von Nassims Manuskript zu einer Reise zu sich selbst, in magischen Traumbildern arbeitet sie ihre eigene Vergangenheit auf, beginnt ihre Geschichte zu begreifen und macht sich schließlich auf die Suche nach der Frau, die ihr Schicksal teilt.
Das eindringliche Zeugnis einer von gesellschaftlichen und politischen Wirren beschädigten Biografie, die das Schicksal einer ganzen Generation wiederspiegelt, erzählt in einer kraftvollen und poetischen Sprache von einer der wichtigsten Stimmen der arabischen Gegenwartsliteratur.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Verlorene
Heimat
Dima Wannous und Nather Henafe Alali:
Syrische Exilliteratur aus London und Berlin
VON MORITZ BAUMSTIEGER
Erst einmal eine halbe Xanax. Unter die Zunge damit, so dass sich die Tablette schneller auflöst. Damit der Tranquilizer schneller wirkt, damit die bedrückenden Gefühle schneller verdunsten, so wie es Kamil geraten hat, der Psychiater. Sulaima, eine junge Frau aus Damaskus, macht es nicht anders als viele der Kämpfer an den Fronten, die ihr Heimatland Syrien zerschneiden: Um diesen Krieg auch geistig irgendwie zu überstehen, schluckt sie Psychopharmaka. Während die, die töten, sich oft mit Aufputschmitteln wie Captagon zudröhnen, nimmt Sulaima Tabletten, um sich zu betäuben. Denn nur eines ist im Syrien von heute in noch größerem Überfluss vorhanden als der Tod: die Angst.
Dass die im Roman der Schriftstellerin Dima Wannous eine zentrale Rolle spielt, verrät schon der Titel: „Die Verängstigten“ dürfte das bisher anspruchsvollste Werk eines neu entstehenden Genres sein, das bald ein eigenes Regalbrett in Buchhandlungen und Stadtbibliotheken füllen kann: Syrische Exilliteratur, verfasst von jungen Autoren, die in den vergangenen Jahren vor der Katastrophe in ihrer Heimat wegrannten und nun irgendwo in Europa dem verlorenen Zuhause hinterher schreiben.
Dima Wannous, die 1982 geborene Tochter des 1997 verstorbenen Dramatikers Saadallah Wannous, floh erst nach Beirut, später zog sie nach London weiter, wo sie heute wohnt und arbeitet. Erst im Ausland habe sie gemerkt, dass sie ihr Leben lang an einer Depression gelitten habe, sagt sie kürzlich in einem Interview – einer Depression, die große Teile syrische Gesellschaft befallen habe und deren Auslöser auch ohne Psychologie-Studium zu ermitteln ist: die nun schon fast fünfzig Jahre andauernde Diktatur des Assad-Clans.
Während Wannous diesen Ursache/Wirkungszusammenhang in Gesprächen relativ direkt benennt, geht sie in „Die Verängstigten“ deutlich komplexer vor: Die Xanax-schluckende Sulaima lernt in den frühen Tagen des Arabischen Frühlings den Arzt und Schriftsteller Nassim kennen – im Wartezimmer des Psychiaters, Angststörungen sind im Damaskus von Dima Wannous so weit verbreitet wie wohl Erkältungen in ihrer neuen Heimat London. Mit dem von Schreibkrisen und Kommunikationsstörungen geplagten Mann entwickelt Sulaima eine Liebesbeziehung, die jäh endet. Nassim flüchtet sich ins Ausland, als die Ahnung eines Arabischen Frühling in Syrien in einem tiefsten Bürgerkriegswinter mündet.
In der leeren Wohnung des Gegangenen findet Sulaima ein Romanfragment, dessen Hauptfigur Salma nicht nur fast den selben Namen wie sie trägt. Die Biografien der beiden Frauen sind sich auch in vielen Aspekten ähnlich, die Männer, die in ihnen vorkommen, sind entweder tot oder gerade am Sterben, wenn sie körperlich noch fit sind, sind sie mental schwach, gebrochen oder feige. In anderen Punkten gehen die Geschichten der beiden Frauen auseinander. Während Sulaima, die Hauptfigur des Romans von Wannous Sunnitin ist, ist Salma, die Hauptfigur des Romans von Wannous’ Romanfigur Nassim Alawitin – also Mitglied derselben Minderheit wie der Assad-Clan.
Diese Anlage bietet Wannous die Möglichkeit, sich historische Schlenker und Ausflüge in die verschiedensten Milieus der syrischen Gesellschaft zu erlauben, wenn sie die beiden Frauen als Einzelfiguren betrachtet – und dennoch letztlich von der Diktatur als Kollektiverfahrung eines Volkes erzählen zu können, wenn sie deren Schicksale verwebt. Dieser Aufbau verlangt dem Leser Aufmerksamkeit ab, macht eine nuancierte Darstellung der syrischen Tragödie aber vielleicht erst möglich. Ihre Protagonistin jedenfalls lässt Wannous einen Satz über das Roman-Fragment ihres verschwundenen Liebhabers sagen, der vielleicht auch für „Die Verängstigten“ selbst gilt: „Mir ist der Ton seines Romans aufgefallen“, bemerkt Sulaima. Es seien Tagebucheinträge, verfasst in einem einmal mehr, einmal weniger saloppen Reportagestil. „Als hätte er aus Unfähigkeit, einen Roman über die Revolution zu schreiben, die Form eines Tagebuchs gewählt, um dieses Unvermögen vor sich selbst zu rechtfertigen“.
Wie schwer es wohl ist, Geschichte, die gerade erst geschrieben wird, auf eine vielschichtige Weise aufzuschreiben, zeigt etwa der Vergleich mit einem anderen Roman, der jetzt neben dem von Wannous im neuen Regalbrett für syrische Exilliteratur zu stehen kommen wird. Der 1989 in Ostsyrien geborene und nun in Berlin lebende Nather Henafe Alali erzählt in „Raum ohne Fenster“ die Kriegs- und Fluchterfahrung zweier junger Menschen aus Damaskus.
Hayat, Mitte 20, verliert in einem von Assads Truppen belagerten Rebellenviertel ihren Mann Salim im Granatenhagel, als sie mit dem zweiten Kind schwanger ist. Und obwohl Salim ein Verlassen der Heimat immer als Verrat gebrandmarkt hat, entschließt sich Hayat, den unsicheren Weg nach Europa anzutreten. Auf dem trifft sie schließlich Aziz wieder, den besten Freund, der ihren sterbenden Mann zu einer Ambulanz geschleppt hat, ihn dann aber dort zurücklassen musste.
Alali, der in Syrien einst Zahnmedizin studierte, vom Regime verhaftet wurde und von seiner Familie wieder freigekauft werden musste, hat wie Wannous wohl einiges Selbsterlebte in dem Roman eingearbeitet – etwa Geschichten von Verhaftungen und Folter. Und er beginnt seine Adaption der syrischen Tragödie am selben Punkt wie Wannous – der Angst: „Die Rückständigkeit unserer Gesellschaft rührt von dieser Obrigkeitsangst her, von der sie infiziert war“, sagt Aziz zu seinem da noch lebenden Freund, als beide noch von revolutionärer Hoffnung erfüllt sind und über die Generationen vor sich sprechen, die von der Diktatur gebrochen wurden. „Sind wir nicht Opfer ihrer Angst, Salim?“ In der Folge breitet Alali zwei Kriegsschicksale aus, die einerseits von einzigartiger Grausamkeit sind, die andererseits aber Hunderttausende Syrer in den vergangenen Jahren durchleben mussten: Bomben- und Belagerungskrieg, Flucht in andere Landesteile, der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer, nur um dann zunächst im Matsch an einem Grenzübergang auf dem Balkan hängen zu bleiben und dann in der deutschen Asylbürokratie.
Die Schilderung Alalis ist in ihrer Drastik oft beklemmend, auch wenn einige Wortstanzen, die sich die deutsche Übersetzung eingeschlichen haben, dem Text an manchen Stellen die Kraft nehmen. In seiner Linearität verpasst „Raum ohne Fenster“ aber viele der Chancen, die der Roman „Die Verängstigten“ genutzt hat: Während Dima Wannous die syrische Gesellschaft seziert und die oft widersprüchlichen Beziehungen zwischen Tätern und Opfern in ein und denselben Familien ausleuchtet, ist die Frage nach Gut und Böse bei Alali eindeutig entschieden. Einer Geschichte aus der Perspektive von jungen Menschen aus Rebellengebieten ist das kaum vorzuwerfen, für Ambivalenzen ist wenig Platz im Alltag von Menschen, gegen die eine Diktatur einen Vernichtungskrieg führt. Doch gerade, weil Wannous einen weniger direkten Zugang zum selben Thema gewählt hat, scheint sie tiefer in deren Kern eindringen zu können: die Angst, gegen die irgendwann nicht einmal mehr ein ganzes Xanax hilft.
Nather Henafe Alali:
Raum ohne Fenster. Roman. Aus dem Arabischen von Rafael Sánchez Nitzl. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2018.
224 Seiten, 20 Euro.
Dima Wannous: Die Verängstigten. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Blessing Verlag, München 2018. 256 Seiten, 20 Euro.
Eine vertikale
Pflanzenstütze, 1987. Das Gerüst sorgt für ausreichend Luft, Wasser und Dünger und ist beliebig
erweiterbar.
Hundegeschirr, 1995. Das Geschirr funktioniert wie
ein Rucksack,
so dass der Hund Gegenstände
transportieren kann.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Heimat
Dima Wannous und Nather Henafe Alali:
Syrische Exilliteratur aus London und Berlin
VON MORITZ BAUMSTIEGER
Erst einmal eine halbe Xanax. Unter die Zunge damit, so dass sich die Tablette schneller auflöst. Damit der Tranquilizer schneller wirkt, damit die bedrückenden Gefühle schneller verdunsten, so wie es Kamil geraten hat, der Psychiater. Sulaima, eine junge Frau aus Damaskus, macht es nicht anders als viele der Kämpfer an den Fronten, die ihr Heimatland Syrien zerschneiden: Um diesen Krieg auch geistig irgendwie zu überstehen, schluckt sie Psychopharmaka. Während die, die töten, sich oft mit Aufputschmitteln wie Captagon zudröhnen, nimmt Sulaima Tabletten, um sich zu betäuben. Denn nur eines ist im Syrien von heute in noch größerem Überfluss vorhanden als der Tod: die Angst.
Dass die im Roman der Schriftstellerin Dima Wannous eine zentrale Rolle spielt, verrät schon der Titel: „Die Verängstigten“ dürfte das bisher anspruchsvollste Werk eines neu entstehenden Genres sein, das bald ein eigenes Regalbrett in Buchhandlungen und Stadtbibliotheken füllen kann: Syrische Exilliteratur, verfasst von jungen Autoren, die in den vergangenen Jahren vor der Katastrophe in ihrer Heimat wegrannten und nun irgendwo in Europa dem verlorenen Zuhause hinterher schreiben.
Dima Wannous, die 1982 geborene Tochter des 1997 verstorbenen Dramatikers Saadallah Wannous, floh erst nach Beirut, später zog sie nach London weiter, wo sie heute wohnt und arbeitet. Erst im Ausland habe sie gemerkt, dass sie ihr Leben lang an einer Depression gelitten habe, sagt sie kürzlich in einem Interview – einer Depression, die große Teile syrische Gesellschaft befallen habe und deren Auslöser auch ohne Psychologie-Studium zu ermitteln ist: die nun schon fast fünfzig Jahre andauernde Diktatur des Assad-Clans.
Während Wannous diesen Ursache/Wirkungszusammenhang in Gesprächen relativ direkt benennt, geht sie in „Die Verängstigten“ deutlich komplexer vor: Die Xanax-schluckende Sulaima lernt in den frühen Tagen des Arabischen Frühlings den Arzt und Schriftsteller Nassim kennen – im Wartezimmer des Psychiaters, Angststörungen sind im Damaskus von Dima Wannous so weit verbreitet wie wohl Erkältungen in ihrer neuen Heimat London. Mit dem von Schreibkrisen und Kommunikationsstörungen geplagten Mann entwickelt Sulaima eine Liebesbeziehung, die jäh endet. Nassim flüchtet sich ins Ausland, als die Ahnung eines Arabischen Frühling in Syrien in einem tiefsten Bürgerkriegswinter mündet.
In der leeren Wohnung des Gegangenen findet Sulaima ein Romanfragment, dessen Hauptfigur Salma nicht nur fast den selben Namen wie sie trägt. Die Biografien der beiden Frauen sind sich auch in vielen Aspekten ähnlich, die Männer, die in ihnen vorkommen, sind entweder tot oder gerade am Sterben, wenn sie körperlich noch fit sind, sind sie mental schwach, gebrochen oder feige. In anderen Punkten gehen die Geschichten der beiden Frauen auseinander. Während Sulaima, die Hauptfigur des Romans von Wannous Sunnitin ist, ist Salma, die Hauptfigur des Romans von Wannous’ Romanfigur Nassim Alawitin – also Mitglied derselben Minderheit wie der Assad-Clan.
Diese Anlage bietet Wannous die Möglichkeit, sich historische Schlenker und Ausflüge in die verschiedensten Milieus der syrischen Gesellschaft zu erlauben, wenn sie die beiden Frauen als Einzelfiguren betrachtet – und dennoch letztlich von der Diktatur als Kollektiverfahrung eines Volkes erzählen zu können, wenn sie deren Schicksale verwebt. Dieser Aufbau verlangt dem Leser Aufmerksamkeit ab, macht eine nuancierte Darstellung der syrischen Tragödie aber vielleicht erst möglich. Ihre Protagonistin jedenfalls lässt Wannous einen Satz über das Roman-Fragment ihres verschwundenen Liebhabers sagen, der vielleicht auch für „Die Verängstigten“ selbst gilt: „Mir ist der Ton seines Romans aufgefallen“, bemerkt Sulaima. Es seien Tagebucheinträge, verfasst in einem einmal mehr, einmal weniger saloppen Reportagestil. „Als hätte er aus Unfähigkeit, einen Roman über die Revolution zu schreiben, die Form eines Tagebuchs gewählt, um dieses Unvermögen vor sich selbst zu rechtfertigen“.
Wie schwer es wohl ist, Geschichte, die gerade erst geschrieben wird, auf eine vielschichtige Weise aufzuschreiben, zeigt etwa der Vergleich mit einem anderen Roman, der jetzt neben dem von Wannous im neuen Regalbrett für syrische Exilliteratur zu stehen kommen wird. Der 1989 in Ostsyrien geborene und nun in Berlin lebende Nather Henafe Alali erzählt in „Raum ohne Fenster“ die Kriegs- und Fluchterfahrung zweier junger Menschen aus Damaskus.
Hayat, Mitte 20, verliert in einem von Assads Truppen belagerten Rebellenviertel ihren Mann Salim im Granatenhagel, als sie mit dem zweiten Kind schwanger ist. Und obwohl Salim ein Verlassen der Heimat immer als Verrat gebrandmarkt hat, entschließt sich Hayat, den unsicheren Weg nach Europa anzutreten. Auf dem trifft sie schließlich Aziz wieder, den besten Freund, der ihren sterbenden Mann zu einer Ambulanz geschleppt hat, ihn dann aber dort zurücklassen musste.
Alali, der in Syrien einst Zahnmedizin studierte, vom Regime verhaftet wurde und von seiner Familie wieder freigekauft werden musste, hat wie Wannous wohl einiges Selbsterlebte in dem Roman eingearbeitet – etwa Geschichten von Verhaftungen und Folter. Und er beginnt seine Adaption der syrischen Tragödie am selben Punkt wie Wannous – der Angst: „Die Rückständigkeit unserer Gesellschaft rührt von dieser Obrigkeitsangst her, von der sie infiziert war“, sagt Aziz zu seinem da noch lebenden Freund, als beide noch von revolutionärer Hoffnung erfüllt sind und über die Generationen vor sich sprechen, die von der Diktatur gebrochen wurden. „Sind wir nicht Opfer ihrer Angst, Salim?“ In der Folge breitet Alali zwei Kriegsschicksale aus, die einerseits von einzigartiger Grausamkeit sind, die andererseits aber Hunderttausende Syrer in den vergangenen Jahren durchleben mussten: Bomben- und Belagerungskrieg, Flucht in andere Landesteile, der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer, nur um dann zunächst im Matsch an einem Grenzübergang auf dem Balkan hängen zu bleiben und dann in der deutschen Asylbürokratie.
Die Schilderung Alalis ist in ihrer Drastik oft beklemmend, auch wenn einige Wortstanzen, die sich die deutsche Übersetzung eingeschlichen haben, dem Text an manchen Stellen die Kraft nehmen. In seiner Linearität verpasst „Raum ohne Fenster“ aber viele der Chancen, die der Roman „Die Verängstigten“ genutzt hat: Während Dima Wannous die syrische Gesellschaft seziert und die oft widersprüchlichen Beziehungen zwischen Tätern und Opfern in ein und denselben Familien ausleuchtet, ist die Frage nach Gut und Böse bei Alali eindeutig entschieden. Einer Geschichte aus der Perspektive von jungen Menschen aus Rebellengebieten ist das kaum vorzuwerfen, für Ambivalenzen ist wenig Platz im Alltag von Menschen, gegen die eine Diktatur einen Vernichtungskrieg führt. Doch gerade, weil Wannous einen weniger direkten Zugang zum selben Thema gewählt hat, scheint sie tiefer in deren Kern eindringen zu können: die Angst, gegen die irgendwann nicht einmal mehr ein ganzes Xanax hilft.
Nather Henafe Alali:
Raum ohne Fenster. Roman. Aus dem Arabischen von Rafael Sánchez Nitzl. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2018.
224 Seiten, 20 Euro.
Dima Wannous: Die Verängstigten. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Blessing Verlag, München 2018. 256 Seiten, 20 Euro.
Eine vertikale
Pflanzenstütze, 1987. Das Gerüst sorgt für ausreichend Luft, Wasser und Dünger und ist beliebig
erweiterbar.
Hundegeschirr, 1995. Das Geschirr funktioniert wie
ein Rucksack,
so dass der Hund Gegenstände
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Kersten Knipp übernimmt eine Formulierung der Übersetzerin Larissa Bender, wenn er schreibt: Die Hauptprotagonistin dieses Romans sei die "Angst selbst", die alles durchdringende Angst, in welcher die Syrer seit vielen Jahren unter der Herrschaft der Assads leben oder vielleicht muss man sogar sagen: verlernen zu leben. Leben würde schließlich bedeuten, ein Individuum zu sein, mit einer individuellen Biografie, einer Identität, doch genau diese scheint eine der Figuren verloren zu haben, erklärt Knipp. Nach tagelanger Folter findet der Schriftsteller Nassim Unterschlupf in Deutschland. In der Zwischenzeit hat er einen Roman geschrieben. Die Geschichte darin ist jedoch nicht seine eigene, lesen wir, sondern die von Suleima, der Ich-Erzählerin - einer Frau, die Nassim während seiner Zeit in Therapie kennengelernt und die ihm ihr Leben und das ihrer Familie erzählt hat. Durch diese Dopplung werden interessante Fragen aufgeworfen zur Angst, zur Authentizität und wie beide miteinander in Verbindung stehen. Es ist ein aufwühlender, packender, "großartig" Roman, den Dima Wannous geschrieben hat, lobt der begeisterte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2018Angst ist ihr ständiger Begleiter
Dima Wannous erzählt in ihrem Roman "Die Verängstigten" die Geschichte einer Verstoßung in Syrien
In dem neuen Roman von Dima Wannous geht eine Angst um, wie sie Menschen, die in Westeuropa groß geworden sind, wohl nicht kennen. Eine Angst, die das Leben vom Anfang bis zum Ende so tiefgreifend durchzieht, dass sie jede Persönlichkeit prägt und jeden Einzelnen eher früher als später dazu zwingt, sich zu entscheiden. Nicht nur heute, sagte Dima Wannous erst vor kurzem in einem Gespräch am Telefon, lebten dreiundzwanzig Millionen Syrer in Angst. Seit vierzig Jahren, seit die Familie Assad das Land regiert, bestimme sie ihr Leben.
Um dieses Leben dreht sich "Die Verängstigten". Dima Wannous, 1982 in Damaskus geboren, hat Syrien verlassen, als der Krieg ausbrach, sie lebte sechs Jahre lang in Beirut und zog 2017 nach London weiter. Sie stammt aus einer alawitischen Familie, gehört also jener religiösen Minderheit an, zu der auch die Assads gehören und unter der sich besonders viele Anhänger seines Regimes finden. Außer ihrer Mutter unterstützt auch die Familie von Dima Wannous den Diktator Baschar al Assad. Als die Revolution ausbrach, haben sie Wannous verstoßen. Eine Tante und deren Ehemann schickten ihr Drohbriefe. An der Mittelmeerküste, die überwiegend von Alawiten bewohnt wird, sei sie zur Persona non grata erklärt worden, sagt Wannous. Damaskus darf sie nicht mehr betreten.
Ganz ähnlich ergeht es auch der Ich-Erzählerin Sulaima im Roman. Auch sie bekommt Hassbriefe von ihren Verwandten und flieht nach Beirut. Überhaupt erinnert vieles im Buch an das Leben der Autorin, die sich wenig Mühe gegeben hat, die Spuren ihrer Biographie zu verwischen. In Literatur verwandelt hat sie sie trotzdem, und zwar nicht nur durch die mise en abyme, mit der sie Sulaimas Leben ausleuchtet. Denn die junge Frau lernt im Wartezimmer ihres Damaszener Psychologen, der in diesen Kriegstagen gut besucht ist, den Schriftsteller Nassim kennen - einen verschrobenen Zeitgenossen, der Todesanzeigen sammelt und sich selbst ohrfeigt, wenn er nicht weiter weiß. Die beiden werden ein Paar. Doch Nassim flieht nach Deutschland, und statt sie zu fragen, ob sie mitkommen möchte, hinterlässt er ihr sein letztes Manuskript, in dem sich Sulaima bald selbst erkennt: Es erzählt von einer Jugend in Assads Syrien, die ihrer eigenen zum Verwechseln ähnlich ist.
Diese Kapitel, in denen Sulaima sich ins Manuskript vertieft und dem Leser dabei quasi einen Blick über ihre Schulter gestattet, bilden den interessanten Kern des Buches. Sie geben Einblick in eine Gesellschaft, die bis in ihre kleinsten Teile derart von Misstrauen zersetzt ist, dass das Mädchen nicht mal auf dem großelterlichen Sofa sicher ist. Der Großvater macht ihr Vorwürfe, die eigentlich nicht ihr, sondern ihrem Vater gelten, der es als Alawit gewagt hatte, eine Sunnitin zu heiraten. Und der deswegen nach Damaskus zog. "Ich wurde ständig getadelt für eine Sünde, die ich nicht begangen hatte, die Sünde, die eigene Herkunft hinter sich gelassen zu haben und sich über sie zu erheben."
Auch die Schule ist ein Ort, an dem das Mädchen früh lernt, dass es sich von der Tochter des Parlamentspräsidenten widerspruchslos ohrfeigen lassen muss. Dass es sich vor der "Klassenverantwortlichen" in Acht zu nehmen hat, deren Aufgabe es ist, jedes Fehlverhalten der anderen in einem Heft festzuhalten: "War das Heft der Verantwortlichen voll, hatte sie ihre Position verteidigt und ihren Titel verdient. Dieses Heft zu führen, war nichts anderes als eine Übung im Verleumden." Sulaima lernt so von klein auf, was Sippenhaft bedeutet und was Privilegien sind - beides Dinge, die Assads Syrien entscheidend prägen.
In ihrem Roman geht Dima Wannous aber noch weiter. Sie nutzt ihre Tiefenbohrungen in die Gesellschaft, um die Wirkungen dieser alles bedrückenden Atmosphäre auf den Einzelnen zu untersuchen. Allen voran auf Sulaima, ihr literarisches Alter Ego, das nicht zufällig als gespaltene Persönlichkeit erscheint. In einem schmerzhaften, von Panikattacken, Xanax-Tabletten und Therapiestunden begleiteten Prozess exerziert Sulaima stellvertretend durch, was es bedeutet, in einer Angst zu leben, die so umfassend ist, dass sie sich letztlich selbst reproduziert. Als "Angst vor der Angst" wird das Gefühl im Roman mehrfach beschrieben. Als eine Angst, die sich auf nichts anderes mehr beziehen muss als auf sich selbst.
Die immense Unsicherheit, die Sulaima dadurch auszeichnet, übersetzt Dima Wannous in einen Stil, der von Fragen durchzogen ist, von Wiederholungen und Wehklagen, die die Lektüre zuweilen anstrengend machen, das zutiefst Destabilisierende der syrischen Diktatur aber treffend spiegeln. Manche Anspielungen auf die syrische Geschichte, auf das Massaker von Hama beispielsweise, das arabischen Lesern ein Begriff, dessen Tragweite dem deutschen Publikum aber kaum bekannt sein dürfte, hat die deutsche Übersetzerin Larissa Bender in ihrem knappen Nachwort dankenswerterweise aufgegriffen.
In Syrien ist "Die Verängstigten" natürlich verboten. Auch in Abu Dhabi kam es nicht durch die Zensur, was angesichts der psychologischen Wracks, die im Roman die syrische Gesellschaft unter Assad bilden, kaum überrascht. Umso erstaunlicher war es, dass es das Buch im vergangenen Frühjahr trotzdem auf die Shortlist des "International Prize for Arabic Fiction" geschafft hat. Denn diese auch als "Arab Booker Prize" bekannte Auszeichnung, die mit 50 000 Dollar dotiert ist, wird von Abu Dhabi finanziert und organisiert - was zu der kuriosen Situation führte, dass bei einer Veranstaltung aller Shortlist-Autoren in Abu Dhabi mit Dima Wannous eine Schriftstellerin auf der Bühne saß, deren Buch vor Ort gar nicht zu haben war.
Den Preis hat sie am Ende nicht bekommen. Ihrem Renommee in der Region hat das aber nicht geschadet, eher im Gegenteil. Erst kürzlich ist in Beirut die zweite Auflage ihres Romans erschienen. Das ist hier nicht jedem vergönnt.
LENA BOPP
Dima Wannous:
"Die Verängstigten".
Roman.
Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Blessing Verlag, München 2018. 254 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dima Wannous erzählt in ihrem Roman "Die Verängstigten" die Geschichte einer Verstoßung in Syrien
In dem neuen Roman von Dima Wannous geht eine Angst um, wie sie Menschen, die in Westeuropa groß geworden sind, wohl nicht kennen. Eine Angst, die das Leben vom Anfang bis zum Ende so tiefgreifend durchzieht, dass sie jede Persönlichkeit prägt und jeden Einzelnen eher früher als später dazu zwingt, sich zu entscheiden. Nicht nur heute, sagte Dima Wannous erst vor kurzem in einem Gespräch am Telefon, lebten dreiundzwanzig Millionen Syrer in Angst. Seit vierzig Jahren, seit die Familie Assad das Land regiert, bestimme sie ihr Leben.
Um dieses Leben dreht sich "Die Verängstigten". Dima Wannous, 1982 in Damaskus geboren, hat Syrien verlassen, als der Krieg ausbrach, sie lebte sechs Jahre lang in Beirut und zog 2017 nach London weiter. Sie stammt aus einer alawitischen Familie, gehört also jener religiösen Minderheit an, zu der auch die Assads gehören und unter der sich besonders viele Anhänger seines Regimes finden. Außer ihrer Mutter unterstützt auch die Familie von Dima Wannous den Diktator Baschar al Assad. Als die Revolution ausbrach, haben sie Wannous verstoßen. Eine Tante und deren Ehemann schickten ihr Drohbriefe. An der Mittelmeerküste, die überwiegend von Alawiten bewohnt wird, sei sie zur Persona non grata erklärt worden, sagt Wannous. Damaskus darf sie nicht mehr betreten.
Ganz ähnlich ergeht es auch der Ich-Erzählerin Sulaima im Roman. Auch sie bekommt Hassbriefe von ihren Verwandten und flieht nach Beirut. Überhaupt erinnert vieles im Buch an das Leben der Autorin, die sich wenig Mühe gegeben hat, die Spuren ihrer Biographie zu verwischen. In Literatur verwandelt hat sie sie trotzdem, und zwar nicht nur durch die mise en abyme, mit der sie Sulaimas Leben ausleuchtet. Denn die junge Frau lernt im Wartezimmer ihres Damaszener Psychologen, der in diesen Kriegstagen gut besucht ist, den Schriftsteller Nassim kennen - einen verschrobenen Zeitgenossen, der Todesanzeigen sammelt und sich selbst ohrfeigt, wenn er nicht weiter weiß. Die beiden werden ein Paar. Doch Nassim flieht nach Deutschland, und statt sie zu fragen, ob sie mitkommen möchte, hinterlässt er ihr sein letztes Manuskript, in dem sich Sulaima bald selbst erkennt: Es erzählt von einer Jugend in Assads Syrien, die ihrer eigenen zum Verwechseln ähnlich ist.
Diese Kapitel, in denen Sulaima sich ins Manuskript vertieft und dem Leser dabei quasi einen Blick über ihre Schulter gestattet, bilden den interessanten Kern des Buches. Sie geben Einblick in eine Gesellschaft, die bis in ihre kleinsten Teile derart von Misstrauen zersetzt ist, dass das Mädchen nicht mal auf dem großelterlichen Sofa sicher ist. Der Großvater macht ihr Vorwürfe, die eigentlich nicht ihr, sondern ihrem Vater gelten, der es als Alawit gewagt hatte, eine Sunnitin zu heiraten. Und der deswegen nach Damaskus zog. "Ich wurde ständig getadelt für eine Sünde, die ich nicht begangen hatte, die Sünde, die eigene Herkunft hinter sich gelassen zu haben und sich über sie zu erheben."
Auch die Schule ist ein Ort, an dem das Mädchen früh lernt, dass es sich von der Tochter des Parlamentspräsidenten widerspruchslos ohrfeigen lassen muss. Dass es sich vor der "Klassenverantwortlichen" in Acht zu nehmen hat, deren Aufgabe es ist, jedes Fehlverhalten der anderen in einem Heft festzuhalten: "War das Heft der Verantwortlichen voll, hatte sie ihre Position verteidigt und ihren Titel verdient. Dieses Heft zu führen, war nichts anderes als eine Übung im Verleumden." Sulaima lernt so von klein auf, was Sippenhaft bedeutet und was Privilegien sind - beides Dinge, die Assads Syrien entscheidend prägen.
In ihrem Roman geht Dima Wannous aber noch weiter. Sie nutzt ihre Tiefenbohrungen in die Gesellschaft, um die Wirkungen dieser alles bedrückenden Atmosphäre auf den Einzelnen zu untersuchen. Allen voran auf Sulaima, ihr literarisches Alter Ego, das nicht zufällig als gespaltene Persönlichkeit erscheint. In einem schmerzhaften, von Panikattacken, Xanax-Tabletten und Therapiestunden begleiteten Prozess exerziert Sulaima stellvertretend durch, was es bedeutet, in einer Angst zu leben, die so umfassend ist, dass sie sich letztlich selbst reproduziert. Als "Angst vor der Angst" wird das Gefühl im Roman mehrfach beschrieben. Als eine Angst, die sich auf nichts anderes mehr beziehen muss als auf sich selbst.
Die immense Unsicherheit, die Sulaima dadurch auszeichnet, übersetzt Dima Wannous in einen Stil, der von Fragen durchzogen ist, von Wiederholungen und Wehklagen, die die Lektüre zuweilen anstrengend machen, das zutiefst Destabilisierende der syrischen Diktatur aber treffend spiegeln. Manche Anspielungen auf die syrische Geschichte, auf das Massaker von Hama beispielsweise, das arabischen Lesern ein Begriff, dessen Tragweite dem deutschen Publikum aber kaum bekannt sein dürfte, hat die deutsche Übersetzerin Larissa Bender in ihrem knappen Nachwort dankenswerterweise aufgegriffen.
In Syrien ist "Die Verängstigten" natürlich verboten. Auch in Abu Dhabi kam es nicht durch die Zensur, was angesichts der psychologischen Wracks, die im Roman die syrische Gesellschaft unter Assad bilden, kaum überrascht. Umso erstaunlicher war es, dass es das Buch im vergangenen Frühjahr trotzdem auf die Shortlist des "International Prize for Arabic Fiction" geschafft hat. Denn diese auch als "Arab Booker Prize" bekannte Auszeichnung, die mit 50 000 Dollar dotiert ist, wird von Abu Dhabi finanziert und organisiert - was zu der kuriosen Situation führte, dass bei einer Veranstaltung aller Shortlist-Autoren in Abu Dhabi mit Dima Wannous eine Schriftstellerin auf der Bühne saß, deren Buch vor Ort gar nicht zu haben war.
Den Preis hat sie am Ende nicht bekommen. Ihrem Renommee in der Region hat das aber nicht geschadet, eher im Gegenteil. Erst kürzlich ist in Beirut die zweite Auflage ihres Romans erschienen. Das ist hier nicht jedem vergönnt.
LENA BOPP
Dima Wannous:
"Die Verängstigten".
Roman.
Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Blessing Verlag, München 2018. 254 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das bisher anspruchsvollste Werk eines neu entstehenden Genres, das bald ein eigenes Regalbrett in Buchhandlungen und Stadtbibliotheken füllen kann: Syrische Exilliteratur von jungen Autoren [...].« Süddeutsche Zeitung