Anlaß für dieses Buch war die Vergabe des Ehrendoktortitels in Philosophie an Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt, die der Marburger Philosoph Peter Janich ausführlich begründet. Der Vorsitzende der allgemeine Gesellschaft für Philosophie Carl Friedrich Gethmann führt in das Thema ein, indem er die Vernunft in der Politik als Alternative zur Politik als heroischer Tat (Carl Schmitt) oder als Ausdruck der Kulturzugehörigkeit in den Grenzen der Weltreligionen (Samuel P. Huntington) stark macht. Er begründet, warum Politik (erst recht seit dem 11. September 2001) ohne alle religiösen oder weltanschaulichen Vorgaben nur durch aufgeklärte Vernunft auf universellen Wissenschaften und Menschenrechten bestehen muss. Im Zentrum des Bandes zeigt Helmut Schmidt an sechs Beispielen seines politischen Lebens, wo teils in ausführlichen Entscheidungsprozessen, teils unter Zeitdruck gehandelt wurde, dass am Ende, nach vernünftiger Abwägung, immer das persönliche Gewissen des Politikers den Ausschlag für Entscheidungen gibt. Weder Religionen noch Philosophien noch Wissenschaften können ihm diese Verantwortlichkeit abnehmen, auch wenn er selbst stets in den Grenzen und Vorgaben der parlamentarischen Demokratie zu sehen und zu beurteilen ist. Was ist zu tun?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2008Es geht nicht um Motive und Gesinnungen
Helmut Schmidt schützt die Politik vor deutschen Unarten
Dass Politik keine Arena der Gesinnung, sondern eine Arena der praktischen Vernunft ist - diese seit Kant reflektierte Unterscheidung zwischen Politik und Moral verdient es, immer wieder neu in Erinnerung gerufen zu werden. Denn jedes ideologische Interesse lebt von der Verwischung ebenjener Unterscheidung. Helmut Schmidt rief das ins Gedächtnis, als er im vergangenen Jahr die philosophische Ehrendoktorwürde der Marburger Philipps-Universität erhielt (F.A.Z. vom 3. März 2007). Die Rede, die der Altbundeskanzler seinerzeit in der Alten Aula hielt, liegt nun auch in Buchform vor, zusammen mit der Begründung der Ehrenpromotion durch Peter Janich und der Laudatio Carl Friedrich Gethmanns.
Der Philosoph Janich würdigt Schmidt als einen "Aufklärer außerhalb des akademischen Betriebs", der gleichwohl mit seinen Einlassungen zu Kant ("Maximen politischen Handelns", 1981) kontroverse Kommentare der institutionellen Kant-Forschung provoziert habe. "Verehrter Herr Schmidt, damit sind Sie, nach den herrschenden Regeln der Zunft, selbst zum Kant-Forscher avanciert. Eine List der Vernunft hat im Versuch, Ihnen die Rolle des Philosophen abzusprechen, Ihnen ebendiese zuerkannt. Ich darf annehmen, dass Sie es mit Fassung tragen." In Schmidt erkenne man den Philosophen im Politiker, zitiert Janich aus der Promotionsurkunde. "Sein unermüdliches Plädoyer für Vernunft und Verantwortung im Handeln lassen, wo die akademische Philosophie theoretisch bleibt, Philosophie für die Menschen praktisch werden."
Schmidt selbst war gebeten worden, zum Anlass seiner Ehrenpromotion die Marburger Christian-Wolff-Vorlesung zu halten. Der Altbundeskanzler stellte sie unter das Thema "Gewissen und Verantwortung des Politikers" und absolvierte die akademische Pflicht an seinem Ehrentag im gewohnt coolen Schmidt-Sound. Anhand von sechs Extremsituationen, in die er selbst als Politiker involviert war - von der Hamburger Sturmflut bis zur Geiselnahme und Ermordung Hanns Martin Schleyers durch die RAF -, erläutert Schmidt die Angewiesenheit des Politikers auf dessen persönliches Gewissen in eben all solchen Fällen, wo "weder das Grundgesetz noch die Bibel eine Richtlinie" geben. Mit Blick auf seine Maßnahmen gegen den RAF-Terrorismus sagt Schmidt: "Wenn ich heute dreißig Jahre später an den Herbst 1977 zurückdenke, so glaube ich nicht, dass wir damals falsch gehandelt haben. Gleichwohl weiß ich, dass wir Mitschuld tragen am Tode zweier deutscher Diplomaten in Stockholm und am Tode Hanns Martin Schleyers."
Ausdrücklich warnt Schmidt davor, Absichten und Gesinnungen in Anschlag zu bringen, wenn damit von der Verantwortung des Politikers abgelenkt werden soll, die demokratischen Standards zu erfüllen. "Eine gute Absicht allein oder eine lautere Gesinnung, sie allein können ihn von seiner Verantwortung nicht entlasten. Deshalb habe ich übrigens Max Webers Wort von der Notwendigkeit der Verantwortungsethik im Gegensatz zur Gesinnungsethik immer als gültig empfunden." Was das etwa für die aktuelle Frage nach dem Umgang mit der Linkspartei bedeutet - soll man ihre Vertreter einem Gesinnungstest unterziehen, oder reicht Verfassungstreue? -, wäre heute eine Nachfrage wert.
Schmidt selbst ist, was die faktische Rolle von Motiven und Gesinnungen im politischen Prozess angeht, gänzlich illusionslos. "Wir alle wissen ganz gewiss, dass viele aus Motiven ihrer Gesinnung in die Politik gehen und keineswegs aus Vernunftgründen. Und wir müssen ebenso einräumen, dass manche politische Entscheidung aus der Gesinnung entspringt und nicht aus rationaler Abwägung. Und hoffentlich täuschen wir uns alle nicht darüber, dass ein großer Anteil der wählenden Bürger und Bürgerinnen ihre politische Wahlentscheidung vornehmlich aus Motiven der Gesinnung treffen oder aus Regungen ihrer gegenwärtigen psychischen Stimmung und nicht aus Gründen der Vernunft. So ist es." So ist es in der Praxis. Aber, so legt Schmidt nahe, als Ausweis für lupenreine Demokratie taugen Motive und Gesinnungen keineswegs.
Scharf wendet sich der Geehrte gegen die vorschnelle Rede vom faulen Kompromiss. "Gesetzgebung und Entscheidung durch eine Parlamentsmehrheit setzt bei den vielen Einzelnen die Fähigkeit und den Willen zum Kompromiss voraus! Ohne Kompromiss kann kein Konsensus einer Mehrheit zustande kommen. (Das muss man den Deutschen ins Stammbuch schreiben; die immer gleich vom faulen Kompromiss reden.) Wer den Kompromiss prinzipiell nicht kann, prinzipiell nicht will, der ist zu demokratischer Gesetzgebung nicht zu gebrauchen."
So verteidigt Schmidt eine demokratische Würde des Kompromisses, die der deutschen Unart zuwiderläuft, in politischen Aushandlungsprozessen tendenziell faule Kompromisse zu sehen und am liebsten jeden Abgeordneten auf seine Motive hin durchleuchten zu wollen. Demokratietheoretisch kann es, versteht man Schmidt richtig, gerade nicht darum gehen, Widerspruchsfreiheit als höchstes Gut anzusehen: "Mit dem Kompromiss (ist) oft ein Verlust an Stringenz und an Konsequenz des politischen Handelns verknüpft. Solchen Verlust muss der demokratische Abgeordnete bereitwillig in Kauf nehmen." Eine Lektion, die sich hierzulande nicht von selbst lernt. Aber von wem würde man sie lieber annehmen als von Helmut Schmidt?
CHRISTIAN GEYER.
Helmut Schmidt, Peter Janich, Carl Friedrich Gethmann: "Die Verantwortung des Politikers". Wilhelm Fink Verlag, München 2008. 77 S., 3 Abb., br., 9,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helmut Schmidt schützt die Politik vor deutschen Unarten
Dass Politik keine Arena der Gesinnung, sondern eine Arena der praktischen Vernunft ist - diese seit Kant reflektierte Unterscheidung zwischen Politik und Moral verdient es, immer wieder neu in Erinnerung gerufen zu werden. Denn jedes ideologische Interesse lebt von der Verwischung ebenjener Unterscheidung. Helmut Schmidt rief das ins Gedächtnis, als er im vergangenen Jahr die philosophische Ehrendoktorwürde der Marburger Philipps-Universität erhielt (F.A.Z. vom 3. März 2007). Die Rede, die der Altbundeskanzler seinerzeit in der Alten Aula hielt, liegt nun auch in Buchform vor, zusammen mit der Begründung der Ehrenpromotion durch Peter Janich und der Laudatio Carl Friedrich Gethmanns.
Der Philosoph Janich würdigt Schmidt als einen "Aufklärer außerhalb des akademischen Betriebs", der gleichwohl mit seinen Einlassungen zu Kant ("Maximen politischen Handelns", 1981) kontroverse Kommentare der institutionellen Kant-Forschung provoziert habe. "Verehrter Herr Schmidt, damit sind Sie, nach den herrschenden Regeln der Zunft, selbst zum Kant-Forscher avanciert. Eine List der Vernunft hat im Versuch, Ihnen die Rolle des Philosophen abzusprechen, Ihnen ebendiese zuerkannt. Ich darf annehmen, dass Sie es mit Fassung tragen." In Schmidt erkenne man den Philosophen im Politiker, zitiert Janich aus der Promotionsurkunde. "Sein unermüdliches Plädoyer für Vernunft und Verantwortung im Handeln lassen, wo die akademische Philosophie theoretisch bleibt, Philosophie für die Menschen praktisch werden."
Schmidt selbst war gebeten worden, zum Anlass seiner Ehrenpromotion die Marburger Christian-Wolff-Vorlesung zu halten. Der Altbundeskanzler stellte sie unter das Thema "Gewissen und Verantwortung des Politikers" und absolvierte die akademische Pflicht an seinem Ehrentag im gewohnt coolen Schmidt-Sound. Anhand von sechs Extremsituationen, in die er selbst als Politiker involviert war - von der Hamburger Sturmflut bis zur Geiselnahme und Ermordung Hanns Martin Schleyers durch die RAF -, erläutert Schmidt die Angewiesenheit des Politikers auf dessen persönliches Gewissen in eben all solchen Fällen, wo "weder das Grundgesetz noch die Bibel eine Richtlinie" geben. Mit Blick auf seine Maßnahmen gegen den RAF-Terrorismus sagt Schmidt: "Wenn ich heute dreißig Jahre später an den Herbst 1977 zurückdenke, so glaube ich nicht, dass wir damals falsch gehandelt haben. Gleichwohl weiß ich, dass wir Mitschuld tragen am Tode zweier deutscher Diplomaten in Stockholm und am Tode Hanns Martin Schleyers."
Ausdrücklich warnt Schmidt davor, Absichten und Gesinnungen in Anschlag zu bringen, wenn damit von der Verantwortung des Politikers abgelenkt werden soll, die demokratischen Standards zu erfüllen. "Eine gute Absicht allein oder eine lautere Gesinnung, sie allein können ihn von seiner Verantwortung nicht entlasten. Deshalb habe ich übrigens Max Webers Wort von der Notwendigkeit der Verantwortungsethik im Gegensatz zur Gesinnungsethik immer als gültig empfunden." Was das etwa für die aktuelle Frage nach dem Umgang mit der Linkspartei bedeutet - soll man ihre Vertreter einem Gesinnungstest unterziehen, oder reicht Verfassungstreue? -, wäre heute eine Nachfrage wert.
Schmidt selbst ist, was die faktische Rolle von Motiven und Gesinnungen im politischen Prozess angeht, gänzlich illusionslos. "Wir alle wissen ganz gewiss, dass viele aus Motiven ihrer Gesinnung in die Politik gehen und keineswegs aus Vernunftgründen. Und wir müssen ebenso einräumen, dass manche politische Entscheidung aus der Gesinnung entspringt und nicht aus rationaler Abwägung. Und hoffentlich täuschen wir uns alle nicht darüber, dass ein großer Anteil der wählenden Bürger und Bürgerinnen ihre politische Wahlentscheidung vornehmlich aus Motiven der Gesinnung treffen oder aus Regungen ihrer gegenwärtigen psychischen Stimmung und nicht aus Gründen der Vernunft. So ist es." So ist es in der Praxis. Aber, so legt Schmidt nahe, als Ausweis für lupenreine Demokratie taugen Motive und Gesinnungen keineswegs.
Scharf wendet sich der Geehrte gegen die vorschnelle Rede vom faulen Kompromiss. "Gesetzgebung und Entscheidung durch eine Parlamentsmehrheit setzt bei den vielen Einzelnen die Fähigkeit und den Willen zum Kompromiss voraus! Ohne Kompromiss kann kein Konsensus einer Mehrheit zustande kommen. (Das muss man den Deutschen ins Stammbuch schreiben; die immer gleich vom faulen Kompromiss reden.) Wer den Kompromiss prinzipiell nicht kann, prinzipiell nicht will, der ist zu demokratischer Gesetzgebung nicht zu gebrauchen."
So verteidigt Schmidt eine demokratische Würde des Kompromisses, die der deutschen Unart zuwiderläuft, in politischen Aushandlungsprozessen tendenziell faule Kompromisse zu sehen und am liebsten jeden Abgeordneten auf seine Motive hin durchleuchten zu wollen. Demokratietheoretisch kann es, versteht man Schmidt richtig, gerade nicht darum gehen, Widerspruchsfreiheit als höchstes Gut anzusehen: "Mit dem Kompromiss (ist) oft ein Verlust an Stringenz und an Konsequenz des politischen Handelns verknüpft. Solchen Verlust muss der demokratische Abgeordnete bereitwillig in Kauf nehmen." Eine Lektion, die sich hierzulande nicht von selbst lernt. Aber von wem würde man sie lieber annehmen als von Helmut Schmidt?
CHRISTIAN GEYER.
Helmut Schmidt, Peter Janich, Carl Friedrich Gethmann: "Die Verantwortung des Politikers". Wilhelm Fink Verlag, München 2008. 77 S., 3 Abb., br., 9,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gern liest Christian Geyer, was der Altbundeskanzler zu sagen hat, auch wenn es sich um demokratietheoretische Lektionen über den Wert des Kompromisses handelt, wie in der hier festgehaltenen Vorlesung zu Helmut Schmidts Marburger Ehrenpromotion. Der enthaltenen Laudatio von Peter Janich möchte Geyer gerne beipflichten und mit ihm den Philosophen im Politiker Schmidt sehen. Gelegenheit dazu bieten die im "coolen Schmidt-Sound" gehaltenen Erinnerungen an persönliches Gewissen einfordernde Extremsituationen der Ära Schmidt. In der Warnung vor dem Verlust demokratischer Standards zugunsten von Gesinnung klingt für Geyer die Illusionslosigkeit des Realisten Schmidt immer mit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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