Ein Spiegelkabinett aus Begierde und Verrat, eine Liebe, die über den Tod hinausgeht, eine Welt aus Verhören und mitgeschnittenen Telefonaten - Ismail Kadares Roman »Die Verbannte« kann keine Figur verlassen, ohne Schuld auf sich zu laden.
Auf der Premierenfeier seines neuesten Stücks wird der Autor Rudian Stefa von einer jungen Frau um eine Widmung gebeten. Ihre Freundin könne leider nicht kommen, sei aber eine große Bewundererin. Der Dramatiker kommt der Bitte nach, kurz darauf treffen sie sich wieder, sie beginnen eine Affäre. Einen kurzen, heftigen Streit später ist es die Ermittlungskommission, die ihn treffen möchte. Nach und nach erkennt Rudian Stefa das politische Ausmaß seiner Widmung und die tragische Reichweite seiner Affäre.
Ismail Kadare ist einer der größten europäischen Erzähler unserer Zeit. In seinem Roman zeigt er eindrucksvoll auf, wie autoritäre Herrschaft alle zwischenmenschlichen Beziehungen deformiert: tiefgreifend, substantiell, bis über den Tod hinaus. Liebe und Schuld, Begierde und Verrat gehen so unweigerlich eine grausame Verbindung ein.
Auf der Premierenfeier seines neuesten Stücks wird der Autor Rudian Stefa von einer jungen Frau um eine Widmung gebeten. Ihre Freundin könne leider nicht kommen, sei aber eine große Bewundererin. Der Dramatiker kommt der Bitte nach, kurz darauf treffen sie sich wieder, sie beginnen eine Affäre. Einen kurzen, heftigen Streit später ist es die Ermittlungskommission, die ihn treffen möchte. Nach und nach erkennt Rudian Stefa das politische Ausmaß seiner Widmung und die tragische Reichweite seiner Affäre.
Ismail Kadare ist einer der größten europäischen Erzähler unserer Zeit. In seinem Roman zeigt er eindrucksvoll auf, wie autoritäre Herrschaft alle zwischenmenschlichen Beziehungen deformiert: tiefgreifend, substantiell, bis über den Tod hinaus. Liebe und Schuld, Begierde und Verrat gehen so unweigerlich eine grausame Verbindung ein.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2017Halt’s Maul, Leiche
Tirana, die verbotene Stadt: Der große albanische Autor Ismail Kadare erzählt in seinem
Roman „Die Verbannte“ von den letzten Jahren der Herrschaft Enver Hoxhas
VON THOMAS STEINFELD
Nicht von der Liebe handelt die Geschichte, in der Orpheus in die Unterwelt zieht, um Eurydike ins Leben zurückzuholen. Sie handelt vielmehr vom Tod. Die Liebe zwischen den Gatten lässt nur den Fall entstehen, anhand dessen erkundet wird, wie endlich das Leben und wie unwiderruflich der Tod tatsächlich sei. Schwer zu ertragen scheint den Griechen dieser Gedanke zu sein, so quälend, dass sie jeden ihrer großen Helden ins Reich der Schatten schicken: Theseus, Herakles und Odysseus. Lebendige Menschen sind diese drei Heroen. Sie statten dem Hades lediglich einen Besuch ab. Eurydike hingegen ist gestorben. Sie muss aus der Unterwelt herausgeholt werden. Und als Orpheus an dieser Aufgabe scheitert, aus eigenem Verschulden, bleibt er allein auf der Erde zurück, sitzt auf einem Stein und singt traurige Lieder, so dass er bald einem Toten unter den Lebenden gleicht.
Dass der im Original 2009 erschienene Roman „Die Verbannte“ des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare, eine Variation auf die Geschichte von Orpheus und Eurydike in die späten Jahre des Diktators Enver Hoxha sein muss, bemerkt auch ein aufmerksamer Leser vermutlich erst gegen Ende dieses Werkes. Dass dieser Roman von einer Wanderung durch eine Art Unterwelt erzählt, ist hingegen von vornherein offenbar. Der Held, ein erfolgreicher Dramatiker mit Namen Rudian Stefa, wird zu einem Gespräch ins Haus des Parteikomitees geladen. Den Grund kennt er nicht, aber er befürchtet Schlimmes. Vielleicht hat er die Regeln für die Herstellung von Theaterstücken im sozialistischen Realismus verletzt, weil er im zweiten Akt seines jüngsten Werkes einen Geist auftreten ließ. Vielleicht wurde er von einer Geliebten denunziert, nachdem er ihren Kopf im Streit gegen ein Bücherregal stieß. So beunruhigt ist er, dass er redet und redet, während die ihn verhörenden Genossen mehr oder minder stumm bleiben.
Rudian Stefa ist kein angenehmer Mensch und vermutlich ein schlechter, dafür aber anmaßender Schriftsteller. Völlig auf sich selbst bezogen, scheint er den größten Teil seiner Tage damit zu verbringen, sich auszudenken, was andere Menschen (und vor allem die Ermittler des kommunistischen Staates) über ihn denken, wie sie auf ihn reagieren, wie er damit umzugehen habe, wenn sich dieser oder jener Verdacht bestätigte – und dann kommt er zu dem Schluss: „Wir leben in verschiedenen Welten“.
Als für alle Beteiligten real und vom Zwang zur Interpretation befreit erscheinen nicht viele Dinge in diesem Buch: der vietnamesische Kaffee im Hotel Dajit, mitsamt seinen Spitzeln und Wanzen, die Schaukästen vor dem Theater, in dem keine Plakate für Rudian Stefas Stücke mehr hängen, die herausfallenden Bücher in dem Regal, gegen das er den Kopf seiner Geliebten gestoßen hatte. Diese heißt „Migena“ (ein Anagramm für „Enigma“). Sie kommt und geht, von unklaren, aber irgendwie komplizenhaften Interessen getrieben, und bringt die Geschichte dadurch in Gang, dass sie ein Buch für eine Freundin namens „Linda B.“ signieren lässt.
Ein Wanderer in einem Totenreich ist dieser Rudian Stefa, und so, wie er als ein Schemen durch das Buch geht, dessen Konturen durch einen schäbigen kleinen Materialismus, vor allem aber durch die Logik des Verdachts zusammengehalten werden, so scheint es auch dem Land und seinem Führer Enver Hoxha zu gehen.
Dieser tritt am Ende des kleinen Romans auf, als kranker Mann, der seine wässrigen Augen auf die junge Braut eines seiner Funktionäre geworfen hat. Die Unterwelt, so scheint es, hat alle Wirklichkeit in sich aufgenommen. Sie besteht fort, als der Führer längst gestorben ist und seine Statue auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana niedergerissen wird: „Jetzt befand sich der Kopf des Denkmals direkt unter seinem Fenster. Im Schädel klaffte ein Riss, dahinter gähnend dunkle Leere. Verschwinde, erniedrigtes Abbild, murmelte er vor sich hin. Das Geheul der Menge wogte herauf. Im rechten Auge der Statue, dunkel, übergroß und unnatürlich, schienen Tränen zu stehen.“
Ein Orpheus ist dieser Dramatiker, ein Hades das ganze Land und insbesondere die Kupferminen, in denen Rudian Stefas jüngstes Stück spielen soll, die aber wiederum nur eine Metapher des Unglücks bilden für die versiegende (oder nie vorhanden gewesene) Schöpferkraft des Schriftstellers. Doch wenn sich der Orpheus der griechischen Mythologie nur einmal nach seiner hinter ihm gehenden Gattin umschaut und sie damit endgültig in die Unterwelt befördert, so ist dieser Orpheus eine Figur, die sich unablässig umblickt, nach allen Seiten, und der sich deswegen alles und jedes in Schatten verwandelt.
Das Ende des kommunistischen Staates klärt diese Verhältnisse nicht, im Gegenteil. Zwar scheint dann deutlich zu sein, wer „Linda B.“ war: eben die Verbannte, die der deutschen Übersetzung des Buches den Titel liefert, einer von Tausenden missliebigen Menschen, die das Regime an entlegene Orte hatte deportieren lassen, oft mit den Familien. Aber auch die Verbannte ist nur ein Schemen, eine durch die Neugier des Schriftstellers lebendig gewordene Erinnerung, für deren Verlässlichkeit es keine Gewähr gibt, auch wenn sie, mit großem Nachdruck, auf ihrer Wahrhaftigkeit insistiert.
Dieser Roman ist ein kleines, bitteres Buch. Aber es wiegt gedanklich schwer, und zwar auch, weil es sich fernhält von den Idealismen der Vergangenheitsbewältigung. Es gibt keine Erinnerung ohne Interesse, lehrt dieses Werk, und es gibt keine Moral ohne falsche Gewissheiten. „Halt’s Maul, Leiche“ wird dem Geist zugerufen, den Rudian Stefa in seinem miserablen Drama wider die Regeln des sozialistischen Theaters auftreten lässt. Der Satz könnte als Motto über dem Buch stehen. Denn selbstverständlich reden die Leichen, dem antiken Mythos von den stummen Geistern zum Trotz. Sie reden sogar in einem fort. Und will man sie nicht reden hören, aus dem elementaren Grund, dass man wissen möchte, wie es sich mit dem Tod lebt?
Ismail Kadare: Die Verbannte. Roman.Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 210 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Es gibt keine Erinnerung ohne
Interesse und keine Moral
ohne falsche Gewissheiten
Ismail Kadare, Jahrgang 1936
Foto: GALI TIBBON/AFP
Kadares Held ist ein Orpheus, ein Hades das ganze Land: Eine Büste des gestürzten Diktators auf einer Dorfstraße, südlich von Tirana.
Foto: Martin Pope/ddp images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Tirana, die verbotene Stadt: Der große albanische Autor Ismail Kadare erzählt in seinem
Roman „Die Verbannte“ von den letzten Jahren der Herrschaft Enver Hoxhas
VON THOMAS STEINFELD
Nicht von der Liebe handelt die Geschichte, in der Orpheus in die Unterwelt zieht, um Eurydike ins Leben zurückzuholen. Sie handelt vielmehr vom Tod. Die Liebe zwischen den Gatten lässt nur den Fall entstehen, anhand dessen erkundet wird, wie endlich das Leben und wie unwiderruflich der Tod tatsächlich sei. Schwer zu ertragen scheint den Griechen dieser Gedanke zu sein, so quälend, dass sie jeden ihrer großen Helden ins Reich der Schatten schicken: Theseus, Herakles und Odysseus. Lebendige Menschen sind diese drei Heroen. Sie statten dem Hades lediglich einen Besuch ab. Eurydike hingegen ist gestorben. Sie muss aus der Unterwelt herausgeholt werden. Und als Orpheus an dieser Aufgabe scheitert, aus eigenem Verschulden, bleibt er allein auf der Erde zurück, sitzt auf einem Stein und singt traurige Lieder, so dass er bald einem Toten unter den Lebenden gleicht.
Dass der im Original 2009 erschienene Roman „Die Verbannte“ des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare, eine Variation auf die Geschichte von Orpheus und Eurydike in die späten Jahre des Diktators Enver Hoxha sein muss, bemerkt auch ein aufmerksamer Leser vermutlich erst gegen Ende dieses Werkes. Dass dieser Roman von einer Wanderung durch eine Art Unterwelt erzählt, ist hingegen von vornherein offenbar. Der Held, ein erfolgreicher Dramatiker mit Namen Rudian Stefa, wird zu einem Gespräch ins Haus des Parteikomitees geladen. Den Grund kennt er nicht, aber er befürchtet Schlimmes. Vielleicht hat er die Regeln für die Herstellung von Theaterstücken im sozialistischen Realismus verletzt, weil er im zweiten Akt seines jüngsten Werkes einen Geist auftreten ließ. Vielleicht wurde er von einer Geliebten denunziert, nachdem er ihren Kopf im Streit gegen ein Bücherregal stieß. So beunruhigt ist er, dass er redet und redet, während die ihn verhörenden Genossen mehr oder minder stumm bleiben.
Rudian Stefa ist kein angenehmer Mensch und vermutlich ein schlechter, dafür aber anmaßender Schriftsteller. Völlig auf sich selbst bezogen, scheint er den größten Teil seiner Tage damit zu verbringen, sich auszudenken, was andere Menschen (und vor allem die Ermittler des kommunistischen Staates) über ihn denken, wie sie auf ihn reagieren, wie er damit umzugehen habe, wenn sich dieser oder jener Verdacht bestätigte – und dann kommt er zu dem Schluss: „Wir leben in verschiedenen Welten“.
Als für alle Beteiligten real und vom Zwang zur Interpretation befreit erscheinen nicht viele Dinge in diesem Buch: der vietnamesische Kaffee im Hotel Dajit, mitsamt seinen Spitzeln und Wanzen, die Schaukästen vor dem Theater, in dem keine Plakate für Rudian Stefas Stücke mehr hängen, die herausfallenden Bücher in dem Regal, gegen das er den Kopf seiner Geliebten gestoßen hatte. Diese heißt „Migena“ (ein Anagramm für „Enigma“). Sie kommt und geht, von unklaren, aber irgendwie komplizenhaften Interessen getrieben, und bringt die Geschichte dadurch in Gang, dass sie ein Buch für eine Freundin namens „Linda B.“ signieren lässt.
Ein Wanderer in einem Totenreich ist dieser Rudian Stefa, und so, wie er als ein Schemen durch das Buch geht, dessen Konturen durch einen schäbigen kleinen Materialismus, vor allem aber durch die Logik des Verdachts zusammengehalten werden, so scheint es auch dem Land und seinem Führer Enver Hoxha zu gehen.
Dieser tritt am Ende des kleinen Romans auf, als kranker Mann, der seine wässrigen Augen auf die junge Braut eines seiner Funktionäre geworfen hat. Die Unterwelt, so scheint es, hat alle Wirklichkeit in sich aufgenommen. Sie besteht fort, als der Führer längst gestorben ist und seine Statue auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana niedergerissen wird: „Jetzt befand sich der Kopf des Denkmals direkt unter seinem Fenster. Im Schädel klaffte ein Riss, dahinter gähnend dunkle Leere. Verschwinde, erniedrigtes Abbild, murmelte er vor sich hin. Das Geheul der Menge wogte herauf. Im rechten Auge der Statue, dunkel, übergroß und unnatürlich, schienen Tränen zu stehen.“
Ein Orpheus ist dieser Dramatiker, ein Hades das ganze Land und insbesondere die Kupferminen, in denen Rudian Stefas jüngstes Stück spielen soll, die aber wiederum nur eine Metapher des Unglücks bilden für die versiegende (oder nie vorhanden gewesene) Schöpferkraft des Schriftstellers. Doch wenn sich der Orpheus der griechischen Mythologie nur einmal nach seiner hinter ihm gehenden Gattin umschaut und sie damit endgültig in die Unterwelt befördert, so ist dieser Orpheus eine Figur, die sich unablässig umblickt, nach allen Seiten, und der sich deswegen alles und jedes in Schatten verwandelt.
Das Ende des kommunistischen Staates klärt diese Verhältnisse nicht, im Gegenteil. Zwar scheint dann deutlich zu sein, wer „Linda B.“ war: eben die Verbannte, die der deutschen Übersetzung des Buches den Titel liefert, einer von Tausenden missliebigen Menschen, die das Regime an entlegene Orte hatte deportieren lassen, oft mit den Familien. Aber auch die Verbannte ist nur ein Schemen, eine durch die Neugier des Schriftstellers lebendig gewordene Erinnerung, für deren Verlässlichkeit es keine Gewähr gibt, auch wenn sie, mit großem Nachdruck, auf ihrer Wahrhaftigkeit insistiert.
Dieser Roman ist ein kleines, bitteres Buch. Aber es wiegt gedanklich schwer, und zwar auch, weil es sich fernhält von den Idealismen der Vergangenheitsbewältigung. Es gibt keine Erinnerung ohne Interesse, lehrt dieses Werk, und es gibt keine Moral ohne falsche Gewissheiten. „Halt’s Maul, Leiche“ wird dem Geist zugerufen, den Rudian Stefa in seinem miserablen Drama wider die Regeln des sozialistischen Theaters auftreten lässt. Der Satz könnte als Motto über dem Buch stehen. Denn selbstverständlich reden die Leichen, dem antiken Mythos von den stummen Geistern zum Trotz. Sie reden sogar in einem fort. Und will man sie nicht reden hören, aus dem elementaren Grund, dass man wissen möchte, wie es sich mit dem Tod lebt?
Ismail Kadare: Die Verbannte. Roman.Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 210 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Es gibt keine Erinnerung ohne
Interesse und keine Moral
ohne falsche Gewissheiten
Ismail Kadare, Jahrgang 1936
Foto: GALI TIBBON/AFP
Kadares Held ist ein Orpheus, ein Hades das ganze Land: Eine Büste des gestürzten Diktators auf einer Dorfstraße, südlich von Tirana.
Foto: Martin Pope/ddp images
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2017Orpheus in Albanien
Ismail Kadares Roman "Die Verbannte" ist eine große Parabel auf das Verhältnis von Diktatur und Kunst.
Der paranoide albanische Diktator Enver Hoxha, der in seinem Land 200 000 Bunker bauen ließ und damit nicht nur die heimische Betonindustrie überforderte, starb 1985. Die Ära seiner Herrschaft war ein grausames politisches Absurdistan - eine Zeit, die in Albanien nur schleppend vergeht. Die Archive des Geheimdienstes wurden erst 2015 zugänglich gemacht.
So wundert es nicht, dass der bedeutendste Schriftsteller des Landes, der einundachtzigjährige Ismail Kadare, sich auch in seinen neueren Werken mit den Schrecken der kommunistischen Ära befasst, etwa im Roman "Die Verbannte". Der erschien im Original 2009 und ist als aktuellstes von Kadares Büchern nun auf Deutsch zu lesen, in gewohnt geschmeidiger Übersetzung von Joachim Röhm.
Ein Schriftsteller steht im Mittelpunkt, der Dramatiker Rudian Stefa. Schon auf der ersten Seite machen ihm Panikattacken zu schaffen. Stefa ist vorgeladen beim Parteikomitee, nachdem er schon mehrfach wegen seines "überschäumenden Temperaments" Selbstkritik üben musste. Unterwegs grübelt er, welche Verfehlung er sich zuschulden kommen ließ. Wurde er von seiner letzten Geliebten denunziert, der rätselhaften Migena, deren Name bereits ein Anagramm auf "Enigma" ist? Oder hat er mit seinem neuen, noch nicht genehmigten Stück Anstoß erregt? Darin lässt er einen ermordeten Partisanen als Geist auftreten. Sind solche Gespenster mit den Maßgaben des sozialistischen Realismus zu vereinbaren?
Der Roman führt in die vordigitalen Zeiten der Überwachung, als noch ganz klassisch Wanzen unter Kaffeehaustischen klebten und jeder Mitbürger ein analoger Spitzel sein konnte - in Albanien soll es jeder Vierte gewesen sein. Der Kaffee stammt aus Vietnam, im Radio ist unaufhörlich die Rede von einer sechsstündigen Ansprache Fidel Castros über die Stärkung des sozialistischen Theaters. Kadare zeigt seine Kunst des unprätentiösen Erzählens in der Erzeugung einer bedrohlichen Atmosphäre und vor allem in den Dialogen zwischen dem Schriftsteller und dem Ermittler.
Dieser ist kein Scherge, wie er im Buch steht, sondern ein zurückhaltender, höflicher, ja respektvoller Mann, der sich darüber zu freuen scheint, dass er bei dieser Gelegenheit Bekanntschaft mit einem angesehenen Autor machen darf: "Meine Kollegen werden mich beneiden." Er lässt Stefa ins Leere laufen, bis der diese Zurückhaltung kaum noch aushält und sich um Kopf und Kragen zu reden beginnt. Später erst stellt sich heraus, dass der Schriftsteller aus ganz anderem Grund als erwartet hergebeten wurde. Bei einer Toten wurde ein von ihm signiertes Buch gefunden. Das ist heikel, weil die junge Frau Selbstmord begangen hat und die Partei hinter Freitoden prinzipiell feindselige Motive vermutet.
Diese Linda B. ist die Verbannte des Buches. Sie und ihre Familie gehören zu den zahlreichen Verfemten und Internierten des Landes. Wenn sie ihre abgelegenen Aufenthaltsbereiche verlassen, drohen harte Strafen: "Am meisten riskierte, wer sich in die Hauptstadt wagte: Darauf stand lebenslange Haft oder sogar die Todesstrafe." Kaum erstaunlich, dass die unerreichbare Metropole Tirana für Linda B. zum schimärischen Sehnsuchtsort wurde. Sie träumte von Spaziergängen in der Stadt, und sie träumte vom Schriftsteller Rudian Stefa, den sie nicht nur verehrte, sondern aus der Ferne zu lieben begann, als wäre er der Repräsentant von allem, was die entbehrte Stadt verheißt: ihr Mann in Tirana. Diese Liebe steigerte sich noch, als ihre beste Freundin - keine andere als Migena - ihr das von ihm signierte Buch mitbrachte. Ohne dass Rudian Stefa etwas davon ahnte, wirkte Migena als Mittelsperson zwischen ihm und der Verbannten.
Es ist eine labyrinthische Geschichte, die sich aus den Gesprächen mit Migena und dem Ermittler allmählich entwickelt, überblendet mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike, so dass sich Rudian Stefa in die Rolle des Hadesgängers versetzt sieht, der mit seiner Kunst den Zerberus einzuschläfern und die "Minister der Hölle" zu erweichen versucht, um eine Tote wieder an die Oberwelt zu führen. Verwirrende und ambivalente Gefühle sind zusätzlich im Spiel, wenn sich eine der beiden Freundinnen mit der Liebe infiziert, deren Botin sie nur sein sollte.
"Die Verbannte" ist ein schattendunkles Werk. Es geht Kadare aber nicht darum, nachträglich Mut gegen die untergegangene Diktatur zu zeigen. Deshalb entwirft er seine Hauptfigur nicht als heroischen Schriftsteller, sondern als eher unsympathischen Charakter, aufbrausend, egozentrisch, bei aller Skepsis willfährig gegenüber der übermächtigen Diktatur und offenbar nur mit begrenztem Talent ausgestattet. Die Einblicke in seine realsozialistische Dramatikerwerkstatt sind jedenfalls nicht ohne Komik.
Natürlich ist auch ein großer europäischer Schriftsteller wie Ismael Kadare nicht ohne Verstrickungen durch die Zeiten der Diktatur gekommen. Kein albanischer Autor durfte ins Ausland reisen, nur Kadare; keiner durfte einen Hauch von Kritik äußern, nur Kadare. Die Vorwürfe, er sei mehr ein Günstling als ein Gegner Enver Hodschas gewesen, musste er sich deshalb immer wieder anhören, vor allem von Seiten der Emigranten. Zweifellos hatte Kadare ein privilegiertes Verhältnis zur Macht, das ihm allerdings ermöglichte, künstlerische Ziele zu verfolgen, die andere hinter Gitter oder in ein einsames Grab gebracht hätten.
Am Ende dieses Romans, der im Stil eines klassischen Realismus beginnt, später aber immer mehr traumhafte und phantasmagorische Sequenzen aufnimmt, bekommt schließlich auch der Diktator selbst einen Auftritt. Genüsslich schlürft er seinen Kaffee und lässt sich vom prominentesten Psychiater des Landes von den Albträumen und Depressionen der Funktionäre, Ministergattinnen und Künstler berichten. Es wurden schon Verschwörungen durch solche Traumforschungen aufgedeckt - ein Motiv, das als Reminiszenz auf Kadares großen Roman "Der Palast der Träume" zu verstehen ist. "Die Verbannte" ist frei von apologetischen Tendenzen. Es ehrt Kadare, dass er den Schriftsteller in dessen ganzer Fragwürdigkeit zeigt und den Internierten des Regimes in Gestalt der Linda B. ein anrührendes literarisches Denkmal setzt.
WOLFGANG SCHNEIDER
Ismail Kadare: "Die Verbannte". Roman.
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 210 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ismail Kadares Roman "Die Verbannte" ist eine große Parabel auf das Verhältnis von Diktatur und Kunst.
Der paranoide albanische Diktator Enver Hoxha, der in seinem Land 200 000 Bunker bauen ließ und damit nicht nur die heimische Betonindustrie überforderte, starb 1985. Die Ära seiner Herrschaft war ein grausames politisches Absurdistan - eine Zeit, die in Albanien nur schleppend vergeht. Die Archive des Geheimdienstes wurden erst 2015 zugänglich gemacht.
So wundert es nicht, dass der bedeutendste Schriftsteller des Landes, der einundachtzigjährige Ismail Kadare, sich auch in seinen neueren Werken mit den Schrecken der kommunistischen Ära befasst, etwa im Roman "Die Verbannte". Der erschien im Original 2009 und ist als aktuellstes von Kadares Büchern nun auf Deutsch zu lesen, in gewohnt geschmeidiger Übersetzung von Joachim Röhm.
Ein Schriftsteller steht im Mittelpunkt, der Dramatiker Rudian Stefa. Schon auf der ersten Seite machen ihm Panikattacken zu schaffen. Stefa ist vorgeladen beim Parteikomitee, nachdem er schon mehrfach wegen seines "überschäumenden Temperaments" Selbstkritik üben musste. Unterwegs grübelt er, welche Verfehlung er sich zuschulden kommen ließ. Wurde er von seiner letzten Geliebten denunziert, der rätselhaften Migena, deren Name bereits ein Anagramm auf "Enigma" ist? Oder hat er mit seinem neuen, noch nicht genehmigten Stück Anstoß erregt? Darin lässt er einen ermordeten Partisanen als Geist auftreten. Sind solche Gespenster mit den Maßgaben des sozialistischen Realismus zu vereinbaren?
Der Roman führt in die vordigitalen Zeiten der Überwachung, als noch ganz klassisch Wanzen unter Kaffeehaustischen klebten und jeder Mitbürger ein analoger Spitzel sein konnte - in Albanien soll es jeder Vierte gewesen sein. Der Kaffee stammt aus Vietnam, im Radio ist unaufhörlich die Rede von einer sechsstündigen Ansprache Fidel Castros über die Stärkung des sozialistischen Theaters. Kadare zeigt seine Kunst des unprätentiösen Erzählens in der Erzeugung einer bedrohlichen Atmosphäre und vor allem in den Dialogen zwischen dem Schriftsteller und dem Ermittler.
Dieser ist kein Scherge, wie er im Buch steht, sondern ein zurückhaltender, höflicher, ja respektvoller Mann, der sich darüber zu freuen scheint, dass er bei dieser Gelegenheit Bekanntschaft mit einem angesehenen Autor machen darf: "Meine Kollegen werden mich beneiden." Er lässt Stefa ins Leere laufen, bis der diese Zurückhaltung kaum noch aushält und sich um Kopf und Kragen zu reden beginnt. Später erst stellt sich heraus, dass der Schriftsteller aus ganz anderem Grund als erwartet hergebeten wurde. Bei einer Toten wurde ein von ihm signiertes Buch gefunden. Das ist heikel, weil die junge Frau Selbstmord begangen hat und die Partei hinter Freitoden prinzipiell feindselige Motive vermutet.
Diese Linda B. ist die Verbannte des Buches. Sie und ihre Familie gehören zu den zahlreichen Verfemten und Internierten des Landes. Wenn sie ihre abgelegenen Aufenthaltsbereiche verlassen, drohen harte Strafen: "Am meisten riskierte, wer sich in die Hauptstadt wagte: Darauf stand lebenslange Haft oder sogar die Todesstrafe." Kaum erstaunlich, dass die unerreichbare Metropole Tirana für Linda B. zum schimärischen Sehnsuchtsort wurde. Sie träumte von Spaziergängen in der Stadt, und sie träumte vom Schriftsteller Rudian Stefa, den sie nicht nur verehrte, sondern aus der Ferne zu lieben begann, als wäre er der Repräsentant von allem, was die entbehrte Stadt verheißt: ihr Mann in Tirana. Diese Liebe steigerte sich noch, als ihre beste Freundin - keine andere als Migena - ihr das von ihm signierte Buch mitbrachte. Ohne dass Rudian Stefa etwas davon ahnte, wirkte Migena als Mittelsperson zwischen ihm und der Verbannten.
Es ist eine labyrinthische Geschichte, die sich aus den Gesprächen mit Migena und dem Ermittler allmählich entwickelt, überblendet mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike, so dass sich Rudian Stefa in die Rolle des Hadesgängers versetzt sieht, der mit seiner Kunst den Zerberus einzuschläfern und die "Minister der Hölle" zu erweichen versucht, um eine Tote wieder an die Oberwelt zu führen. Verwirrende und ambivalente Gefühle sind zusätzlich im Spiel, wenn sich eine der beiden Freundinnen mit der Liebe infiziert, deren Botin sie nur sein sollte.
"Die Verbannte" ist ein schattendunkles Werk. Es geht Kadare aber nicht darum, nachträglich Mut gegen die untergegangene Diktatur zu zeigen. Deshalb entwirft er seine Hauptfigur nicht als heroischen Schriftsteller, sondern als eher unsympathischen Charakter, aufbrausend, egozentrisch, bei aller Skepsis willfährig gegenüber der übermächtigen Diktatur und offenbar nur mit begrenztem Talent ausgestattet. Die Einblicke in seine realsozialistische Dramatikerwerkstatt sind jedenfalls nicht ohne Komik.
Natürlich ist auch ein großer europäischer Schriftsteller wie Ismael Kadare nicht ohne Verstrickungen durch die Zeiten der Diktatur gekommen. Kein albanischer Autor durfte ins Ausland reisen, nur Kadare; keiner durfte einen Hauch von Kritik äußern, nur Kadare. Die Vorwürfe, er sei mehr ein Günstling als ein Gegner Enver Hodschas gewesen, musste er sich deshalb immer wieder anhören, vor allem von Seiten der Emigranten. Zweifellos hatte Kadare ein privilegiertes Verhältnis zur Macht, das ihm allerdings ermöglichte, künstlerische Ziele zu verfolgen, die andere hinter Gitter oder in ein einsames Grab gebracht hätten.
Am Ende dieses Romans, der im Stil eines klassischen Realismus beginnt, später aber immer mehr traumhafte und phantasmagorische Sequenzen aufnimmt, bekommt schließlich auch der Diktator selbst einen Auftritt. Genüsslich schlürft er seinen Kaffee und lässt sich vom prominentesten Psychiater des Landes von den Albträumen und Depressionen der Funktionäre, Ministergattinnen und Künstler berichten. Es wurden schon Verschwörungen durch solche Traumforschungen aufgedeckt - ein Motiv, das als Reminiszenz auf Kadares großen Roman "Der Palast der Träume" zu verstehen ist. "Die Verbannte" ist frei von apologetischen Tendenzen. Es ehrt Kadare, dass er den Schriftsteller in dessen ganzer Fragwürdigkeit zeigt und den Internierten des Regimes in Gestalt der Linda B. ein anrührendes literarisches Denkmal setzt.
WOLFGANG SCHNEIDER
Ismail Kadare: "Die Verbannte". Roman.
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 210 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ismail Kadare hat mit 'Die Verbannte' einen intensiven und besonders traurigen Roman über die Lebensfeindlichkeit einer Diktatur geschrieben. Jürg Scheuzger NZZ am Sonntag 20170827