Ich bin die Lektüre dieses Romans recht blauäugig angegangen und habe sie mit der Erwartungshaltung begonnen, ein klassisches Jugendbuch mit leichtem Fantasy Einschlag vor mir zu haben. Und gerade der Beginn des Romans schien diese Erwartungen zu bestätigen.
Jones erzählt die Geschichte aus der
Perspektive von Polly Whittacker und bedient sich dabei vornehmlich zahlreicher Rückblenden, die mit…mehrIch bin die Lektüre dieses Romans recht blauäugig angegangen und habe sie mit der Erwartungshaltung begonnen, ein klassisches Jugendbuch mit leichtem Fantasy Einschlag vor mir zu haben. Und gerade der Beginn des Romans schien diese Erwartungen zu bestätigen.
Jones erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Polly Whittacker und bedient sich dabei vornehmlich zahlreicher Rückblenden, die mit der zehnjährigen Polly beginnen und schließlich in der Gegenwart münden.
Die ersten Seiten sind dabei altersgerecht gestaltet und beschreiben die Welt aus der Sicht eines Kindes. Die Beschreibungen der Umwelt und der anderen Figuren erschöpft sich dabei in einer Reduzierung auf einfache äußerliche Aspekte und Gefühle (baumlang oder unheimlich sind dabei beliebte Beschreibungen). Auch strotzen die Briefe von Polly nur so vor Rechtschreib- und Grammatikfehlern.
Allerdings dauert es nicht lange, bis Diana Wynne Jones uns zeigt, was für eine Schriftstellerin in ihr steckt. Mit zunehmendem Alter und mit jeder gewonnenen Erfahrung ihrer Protagonistin werden Jones Beschreibungen immer ausgefeilter und differenzierter. Neben einer zunehmenden Sicherheit in Rechtschreibungs- und Grammatikfragen ist Polly auch dazu in der Lage, Menschen differenzierter betrachten zu können und so werden beispielsweise aus früher unheimlichen Figuren ganz gewöhnliche Figuren – und umgekehrt.
Dieser Prozess vollzieht sich dabei so lautlos und natürlich, dass dem Leser gar nicht bewusst ist, was für großartige schriftstellerische Fähigkeiten dafür von Nöten sind. Ganz großes Kino!
Trotz der kindlichen Protagonistin und dem zu Beginn noch recht einfachen Schreibstil ist dieser Roman nur bedingt als klassisches Jugendbuch geeignet.
Dies liegt zum einen daran, dass die Geschichte verwoben ist mit unzähligen literarischen und musikalischen Anspielungen, die weitestgehend ohne Erklärung bleiben und die sich der Leser erst selbst erschließen muss.
Des Weiteren bedarf auch das Verhältnis von Polly zu einigen Erwachsenen einer kritischen Betrachtung. Natürlich stellt sich zunächst einmal ein ungutes Gefühl ein, wenn ein junges Mädchen auf einen wildfremden Mann trifft und mit ihm eine Freundschaft beginnt, zumal sich beide des öfteren ohne weitere Aufsicht treffen – ein Umstand, der auch von einigen Figuren des Romans kritisch angesprochen wird.
Jedoch benimmt sich Tom Lynn zumindest in dieser Hinsicht vorbildlich und hält immer den gebotenen Abstand – nicht einmal andeutungsweise würde man auf die Idee kommen, ein wie auch immer geartetes sexuelles Interesse an ihr zu vermuten.
Kritischer ist der Aspekt, dass Tom mithilfe von Büchern Einfluss auf sie nimmt. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, legt er sein Schicksal in ihre Hände und versucht sie in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Dass dies letztlich nicht so stark ins Gewicht fällt, liegt daran, dass es sich bei Polly um eine starke und selbstständige Figur handelt. Entgegen des Titels des Romans handelt es sich bei dem Roman nämlich nicht um die Geschichte des Tom Lynn, sondern um die Geschichte der Polly Whittacker.
Im Grunde genommen handelt es sich um eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, in der Wynne Jones das Erwachsenwerden einer jungen Frau schildert. Allen Widrigkeiten und Einflussnahme Versuchen zum Trotz entwickelt sie sich zu einer starken und selbstbewussten Persönlichkeit, die es gar nicht nötig hat, sich von einem Mann retten zu lassen oder das zu tun, was ihr manipulatives Umfeld von ihr verlangt. Dass ihr dies gelingt, ist dabei alles andere als selbstverständlich. Ihre Eltern sind alle andere als ein Vorzeigepaar. Während ihr Vater vor jeglicher Verantwortung flieht, beschränkt sich ihre Mutter darauf, ihrem Umfeld (inklusive Polly), die Schuld an ihrem (vermeintlichen) Unglück zu geben.
Letzten Endes ist es auch völlig bedeutungslos, ob Tom Lynn wirklich existiert oder nicht. Es geht nicht um die Geschehnisse des Romans selbst, sondern darum, was für eine Macht die eigene Vorstellungskraft hat und was für eine Bedeutung Geschichten in unser aller Leben haben. Jones zeigt auf, dass Literatur nicht nur Trost und einen Zufluchtsort bietet, sondern auch darüber hinaus die Stütze darstellt, mit deren Hilfe man sich aus jeder Lebenslage herausziehen kann.
Fazit
Die verborgene Geschichte des Tom Lynn von Diana Wynne Jones ist kein Buch für Kinder, dafür aber ein faszinierendes Buch über den Zauber der Kindheit, des Lesens und das Erwachsenwerden. Die vielen Anspielungen und der zu Beginn noch recht eigenwillige Schreibstil machen den Einstieg sicherlich nicht leicht. Wer sich darauf allerdings einlässt, wird mit einer großartigen Geschichte belohnt, die uns daran erinnert, warum wir Literatur lieben.