Santa Rita, ein unbedeutendes Kaff im Süden Mexikos. In einer Notunterkunft für zentralamerikanische Flüchtlinge auf dem Weg in die USA wird ein Feuer gelegt, dem zahlreiche Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fallen. Irma, genannt La Negra, wird zur Untersuchung des Vorfalls zum lokalen Büro der Nationalkomission für Migration geschickt. Dort sind ihre Nachforschungen wenig willkommen und in einem Klima der Angst ist keiner der Überlebenden bereit, zu den Ereignissen in der Nacht des Anschlags auszusagen - bis auf die zwanzigjährige Yein, die zu Irmas einziger Zeugin wird. Doch in einem Land, wo Zentralamerikaner allenfalls als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden und wo Behörden, Polizei und kriminelle Banden gemeinsam ein zynisches Geschäft betreiben, das noch den letzten Peso aus den Flüchtlingen herausquetscht, kann es tödliche Folgen haben, den Dingen auf den Grund zu gehen.In diesem vielstimmig orchestrierten und schonungslos rauen politischen Roman porträtiert Antonio Ortuño ein menschenverachtendes System, das die Schwächsten ausraubt, vergewaltigt, verbrennt und schließlich in Massengräbern verschwinden lässt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2015Blutiges Migrantengeschäft
Antonio Ortuño verarbeitet ein Massaker in Mexiko
Sie jagen sie wie die Fliegen. Vierzig Menschen sterben bei einem Brandanschlag in Santa Rita, einer Stadt im Süden Mexikos. Sie sind aus Ländern wie Honduras, El Salvador oder Guatemala gekommen, um in den Vereinigten Staaten ein neues, besseres Leben zu beginnen. Mexiko, das sie nur durchqueren wollten, ist ihnen zum Verhängnis geworden. Immer wieder ist die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten Thema in der Literatur, Carlos Fuentes, Roberto Bolaño oder Don Winslow haben darüber geschrieben. Bis zur Grenze schaffen es die Flüchtlinge bei Antonio Ortuño nicht.
"Die Verbrannten" ist der vierte Roman des mexikanischen Autors und der erste, der in Deutschland erschienen ist. Ortuño beschreibt die Hölle. Sie beginnt für die Zentralamerikaner nicht erst mit dem Feuertod in der Unterkunft. Wie Vieh werden sie im Güterwaggon transportiert, die Schlepper bezeichnen das als Reise in der ersten Klasse. Die Frauen werden vergewaltigt, ihre Männer müssen dabei zusehen. Santa Rita ist eine fiktive Stadt, doch was Ortuño erzählt, hat einen realen Hintergrund: Tausende versuchen jeden Tag, die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten zu überwinden. Viele von ihnen stammen aus Zentralamerika.
Sie machen sich auf die gefährliche Reise, um vor der Gewalt der Banden und der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit in ihren Ländern zu fliehen. 2010 wurden im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas zweiundsiebzig Migranten von einer Drogenbande ermordet. Die furchtbare Wirklichkeit ist die Basis für eine Literatur, die vor Blut trieft. "Die Schlepper überschritten die Grenze, weil sie konnten, sie beraubten die Migranten, schlugen und vergewaltigten sie aus demselben Grund, weil keiner sie daran hinderte."
In Santa Rita gibt es für Fälle wie den Anschlag Richtlinien. Es gibt Richtlinien für die Beileidsbekundungen und für die Presseerklärungen, die sich nicht davon beeindrucken lassen, dass in Santa Rita immer mehr Blut fließt. Drei Mal werden die Überlebenden angegriffen, bis kaum einer von ihnen übrig ist. Es ist ein Massaker. Die immer gleiche Presseerklärung der Behörde - ein Dokument der Heuchelei. Die Beamtin Irma, genannt Negra, wird nach Santa Rita geschickt, um die Verwandten der Toten mit Informationsbroschüren ruhigzustellen. Was sie neben ihrer Tochter und ihrem Kollegen vor allem interessiert, ist ihre Badewanne, in der sie sich von den Tagen im Aquarium - wie das Büro in der Nationalkommission für Migration genannt wird - erholt. Irgendwann ist auch das heiße Wasser nicht mehr so angenehm, es erinnert sie an das Feuer.
In Ortuños Roman wird das Grauen von vielen Stimmen erzählt. So führen die inneren Monologe von Negras Ex-Mann den Leser tief in die sadistische Psyche eines Rassisten, der die mexikanische Mittelklasse verkörpern soll. Man weiß von Anfang an, wer die Brandbomben geworfen hat. Auch die Polizei kennt die Täter. Doch aufklären will hier niemand etwas. Dafür profitieren zu viele von dem Geschäft mit den Migranten. "Die Wahrheit ist doch, dass du auf sie herabsiehst, wenn sie verbrennen, schläfst du genauso gut wie wenn nicht." Die Zentralamerikaner sind in Mexiko nichts wert. Doch Negra empfindet Mitleid für Yein, deren Mann bei dem Brand getötet und die vergewaltigt wurde. Yein, die nichts mehr zu verlieren hat, wird zum Racheengel.
Die Brutalität erreicht am Ende ihren grotesken Höhepunkt und erinnert an die Filme von Quentin Tarantino, in denen Rache immer ein Blutbad bedeutet. Die gleichen Gitterstäbe, die zuvor den Migranten den Weg aus dem Feuer versperrt haben, bohren sich durch Körper. Von Menschen bleiben nur blutige Fratzen übrig. Ändern tut das nichts.
Der Schrecken in Mexiko scheint weit weg, doch erinnert er an die Menschen, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken, an die einundsiebzig Toten, die in Österreich in einem Lastwagen gefunden wurden, oder an die wachsende Zahl der Brandanschläge, die auch in Deutschland auf Flüchtlingsunterkünfte verübt werden. Vielleicht ist Mexiko näher, als uns lieb ist. Man sollte "Die Verbrannten" gerade deshalb lesen.
ANA MARIA MICHEL
Antonio Ortuño: "Die Verbrannten". Roman.
Aus dem Spanischen von Nora Haller. Verlag Antje Kunstmann, München 2015. 208 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Antonio Ortuño verarbeitet ein Massaker in Mexiko
Sie jagen sie wie die Fliegen. Vierzig Menschen sterben bei einem Brandanschlag in Santa Rita, einer Stadt im Süden Mexikos. Sie sind aus Ländern wie Honduras, El Salvador oder Guatemala gekommen, um in den Vereinigten Staaten ein neues, besseres Leben zu beginnen. Mexiko, das sie nur durchqueren wollten, ist ihnen zum Verhängnis geworden. Immer wieder ist die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten Thema in der Literatur, Carlos Fuentes, Roberto Bolaño oder Don Winslow haben darüber geschrieben. Bis zur Grenze schaffen es die Flüchtlinge bei Antonio Ortuño nicht.
"Die Verbrannten" ist der vierte Roman des mexikanischen Autors und der erste, der in Deutschland erschienen ist. Ortuño beschreibt die Hölle. Sie beginnt für die Zentralamerikaner nicht erst mit dem Feuertod in der Unterkunft. Wie Vieh werden sie im Güterwaggon transportiert, die Schlepper bezeichnen das als Reise in der ersten Klasse. Die Frauen werden vergewaltigt, ihre Männer müssen dabei zusehen. Santa Rita ist eine fiktive Stadt, doch was Ortuño erzählt, hat einen realen Hintergrund: Tausende versuchen jeden Tag, die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten zu überwinden. Viele von ihnen stammen aus Zentralamerika.
Sie machen sich auf die gefährliche Reise, um vor der Gewalt der Banden und der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit in ihren Ländern zu fliehen. 2010 wurden im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas zweiundsiebzig Migranten von einer Drogenbande ermordet. Die furchtbare Wirklichkeit ist die Basis für eine Literatur, die vor Blut trieft. "Die Schlepper überschritten die Grenze, weil sie konnten, sie beraubten die Migranten, schlugen und vergewaltigten sie aus demselben Grund, weil keiner sie daran hinderte."
In Santa Rita gibt es für Fälle wie den Anschlag Richtlinien. Es gibt Richtlinien für die Beileidsbekundungen und für die Presseerklärungen, die sich nicht davon beeindrucken lassen, dass in Santa Rita immer mehr Blut fließt. Drei Mal werden die Überlebenden angegriffen, bis kaum einer von ihnen übrig ist. Es ist ein Massaker. Die immer gleiche Presseerklärung der Behörde - ein Dokument der Heuchelei. Die Beamtin Irma, genannt Negra, wird nach Santa Rita geschickt, um die Verwandten der Toten mit Informationsbroschüren ruhigzustellen. Was sie neben ihrer Tochter und ihrem Kollegen vor allem interessiert, ist ihre Badewanne, in der sie sich von den Tagen im Aquarium - wie das Büro in der Nationalkommission für Migration genannt wird - erholt. Irgendwann ist auch das heiße Wasser nicht mehr so angenehm, es erinnert sie an das Feuer.
In Ortuños Roman wird das Grauen von vielen Stimmen erzählt. So führen die inneren Monologe von Negras Ex-Mann den Leser tief in die sadistische Psyche eines Rassisten, der die mexikanische Mittelklasse verkörpern soll. Man weiß von Anfang an, wer die Brandbomben geworfen hat. Auch die Polizei kennt die Täter. Doch aufklären will hier niemand etwas. Dafür profitieren zu viele von dem Geschäft mit den Migranten. "Die Wahrheit ist doch, dass du auf sie herabsiehst, wenn sie verbrennen, schläfst du genauso gut wie wenn nicht." Die Zentralamerikaner sind in Mexiko nichts wert. Doch Negra empfindet Mitleid für Yein, deren Mann bei dem Brand getötet und die vergewaltigt wurde. Yein, die nichts mehr zu verlieren hat, wird zum Racheengel.
Die Brutalität erreicht am Ende ihren grotesken Höhepunkt und erinnert an die Filme von Quentin Tarantino, in denen Rache immer ein Blutbad bedeutet. Die gleichen Gitterstäbe, die zuvor den Migranten den Weg aus dem Feuer versperrt haben, bohren sich durch Körper. Von Menschen bleiben nur blutige Fratzen übrig. Ändern tut das nichts.
Der Schrecken in Mexiko scheint weit weg, doch erinnert er an die Menschen, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken, an die einundsiebzig Toten, die in Österreich in einem Lastwagen gefunden wurden, oder an die wachsende Zahl der Brandanschläge, die auch in Deutschland auf Flüchtlingsunterkünfte verübt werden. Vielleicht ist Mexiko näher, als uns lieb ist. Man sollte "Die Verbrannten" gerade deshalb lesen.
ANA MARIA MICHEL
Antonio Ortuño: "Die Verbrannten". Roman.
Aus dem Spanischen von Nora Haller. Verlag Antje Kunstmann, München 2015. 208 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ana Maria Michel befürchtet, dass das Mexiko, das Antonio Ortuño in seinem vierten Roman beschreibt, gar nicht so weit weg ist. Wenn bei Ortuño mexikanische Schlepper ihre "Beute" brutal quälen und ermorden, denkt sie an die Flüchtlinge dieser Welt. Wenn die Behörden bei Ortuño wegsehen, ebenso. Von der Hölle an der Grenze zwischen Mexiko und den USA erzählt der Autor laut Michel vielstimmig und schließlich grotesk splattermäßig à la Tarantino. Lesenswert, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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