Im Botanischen Garten von Palermo hängt eine Leiche im Baum. Der Botaniker Lorenzo La Marca entdeckt sie und identifiziert sie als die seines Freundes und ehemaligen Arbeitskollegen Raffaele. Selbstmord? Mord? Lorenzo wird zum Detektiv. Die kriminalistische Handlung bildet den roten Faden der Geschichte. Daneben stehen ironische Betrachtungen über Palermo mit seinen Straßen und Plätzen, mit seiner Geschichte, seiner Küche, seiner teils bürgerlichen, teils mafiosen Gesellschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.1999Mein Freund, der Film
Santo Piazzeses Verbrechen in der Via Medina-Sidonia
"Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia" geben der Postmoderne einen neuen Stammbaum. Santo Piazzeses in Palermo spielender Krimi nimmt sich nicht ernst. Und das liegt zum großen Teil an seinem zitationswütigen Erzähler. Wir haben es mit einem klassischen Helden der jüngsten Literaturepoche zu tun. Lorenzo La Marca respektiert das Leben so wenig wie seinen Beruf. Seine Bibliothek zählt mehrere tausend Bücher. Und wenn er nicht gerade in ihnen liest, dann schaut der Biochemiker sich alte Filme an oder entspannt sich bei klassischen Soundtracks. Die eigene Existenz betrachtet er mit der ironischen Distanz eines eingefleischten Cineasten.
Für jemanden, der so gelangweilt wie Piazzeses Protagonist mit seinem Lehrauftrag umgeht, ist ein mysteriöser Tod in nächster Nähe ein gefundenes Fressen. Lorenzo macht sich an die Entwirrung der Fäden, die zum gewaltsamen Ende seines alten Freundes Raffaele führten, und scheut kein Klischee. Nicht nur unser Freizeitdetektiv, sondern auch der Leser fühlt sich auf Schritt und Tritt an große Leinwandmomente erinnert. Die forensische Expertin ist durch "eine vage Ähnlichkeit mit Fanny Ardant" gesegnet, nennt sich aber Michelle, nach dem Beatles-Ohrwurm.
Bei der Verlobten des Opfers aus Iowa hatte Lorenzo "eins jener strammen Mädchen aus diesen amerikanischen Idiotenfilmen" erwartet, trifft aber auf ein Wesen, dem er sich am liebsten mit "Der Name ist Bond" vorstellen würde. Da Michelle von ihrem fülligen Gatten nur ab und zu bei unserm Helden Zuflucht sucht, zieht die trauernde Schönheit aus dem Mittleren Westen zu ihm und leistet moralische Unterstützung, während Lorenzo vom Toten hinterlassene Disketten durchforstet, überfallen wird und mit einem Foto seines Instituts, das er vom ersten bis zum letzten Mann verdächtigt, bei möglichen Zeugen die Runde macht.
Weder ein Schlag auf den Hinterkopf noch die zweite oder dritte Leiche können ihn von seiner Abenteuerlust kurieren. Lorenzo kennt keine Angst. Für derart unvermittelte Gefühle ist seine satirische Ader zu kräftig ausgebildet. Blödelnd, albernd, Sprüche klopfend, wurschtelt er sich durch seine eigene Geschichte, die mehr und mehr den Eindruck macht, sie sei der beste seiner Witze. Als die Amerikanerin eine seiner Aufschneidereien mit Skepsis quittiert, bemerkt der Erzähler: "Wie sollte ich ihr klarmachen, daß zur Tat zu schreiten statt hohle Phrasen zu dreschen das unverzeihlichste Vergehen ist, das ein Sizilianer einem anderen zum Vorwurf machen kann?"
Damit nimmt Gestalt an, was man schon lange ahnte. Der Roman ist nichts als eine sizilianische Arabeske, die uns ein Eingeborener an einer Bar in Palermo erzählt. Seine Zuhörer redet er grandios im Plural an und läßt keine Gelegenheit aus, sich selber in das rechte Licht zu rücken. Wir erfahren auch, welche Jugendeindrücke einen geborenen Schwätzer in seinem Element bestärken konnten. Zynisch blickt Lorenzo auf seine Achtundsechziger-Vergangenheit zurück. Doch rekrutiert er aus dem Umkreis der einstigen Sit-in-Kameraden fast sein ganzes fiktionales Personal. Kein Wunder: Die Kampfgenossen teilen mit ihm die Gedankenschwere und die Tatenarmut. In Krisen mit Handlungsbedarf verlangten die Getreuen erst nach politischen Analysen, "bevor sie sich schließlich in Gang setzten". Freuds "Psychopathologie des Alltags" mag für sie "wie ein Comic-Heft" gewesen sein, doch der Umsturz der Verhältnisse war ein Buch mit sieben Siegeln.
Sizilianische Übertreibungslust geht mit dem enttäuschten Utopiebedürfnis der Studentenbewegung in Piazzeses erstem Roman, dem Buch eines Fünfzigjährigen, eine phantastische Synthese ein. Aus der Analyse der Gewaltverhältnisse ist die Rekonstruktion des Tathergangs geworden. Das Experiment mit unbürgerlichen Lebensformen hat sich auf die Erfindung von kriminellen Motiven beschränkt. Und die klassenkämpferische Rhetorik ist auf ein selbstpersiflierendes Beiseiteflaxen geschrumpft.
Ein sizilianischer Exkommunist, so das Fazit der Lektüre, ist der ideale Autor des postmodernen Kriminalromans: Er glaubt an nichts, fürchtet niemand, kennt alles und redet wie ein Buch. Es sei denn, es ist Montag: "Am Wochenanfang fühle ich mich immer, als hätte mir jemand den Stecker rausgezogen. Das sind die letzten Nachwirkungen der achtundsechziger Jahre." Der Erzähler selbst enthüllt sich als Projektor mit Gedächtnis, der zu viele verheißungsvolle Filme abgespult hat.
Die Folge ist, daß sich die von Marx zurechtgerückte Welt nach der Logik des Objektivs wieder von den Füßen auf den Kopf stellt: Was ist, ist nur eine Fußnote zu dem, was dank Hollywood zu sein scheint. "Ein langes Schweigen auf beiden Seiten folgte", heißt es, als La Marca den Mörder mit seiner Tat konfrontiert: "Der Film war zu Ende." Wo kein Film ist, da ist bei Piazzese auch keine Geschichte. Aber solange der Streifen läuft, kann man sich bei ihm wie im richtigen Kino köstlich amüsieren. INGEBORG HARMS
Santo Piazzese: "Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Monika Lustig. DuMont Buchverlag, Köln 1998. 372 S., geb., 42,- DM.
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Santo Piazzeses Verbrechen in der Via Medina-Sidonia
"Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia" geben der Postmoderne einen neuen Stammbaum. Santo Piazzeses in Palermo spielender Krimi nimmt sich nicht ernst. Und das liegt zum großen Teil an seinem zitationswütigen Erzähler. Wir haben es mit einem klassischen Helden der jüngsten Literaturepoche zu tun. Lorenzo La Marca respektiert das Leben so wenig wie seinen Beruf. Seine Bibliothek zählt mehrere tausend Bücher. Und wenn er nicht gerade in ihnen liest, dann schaut der Biochemiker sich alte Filme an oder entspannt sich bei klassischen Soundtracks. Die eigene Existenz betrachtet er mit der ironischen Distanz eines eingefleischten Cineasten.
Für jemanden, der so gelangweilt wie Piazzeses Protagonist mit seinem Lehrauftrag umgeht, ist ein mysteriöser Tod in nächster Nähe ein gefundenes Fressen. Lorenzo macht sich an die Entwirrung der Fäden, die zum gewaltsamen Ende seines alten Freundes Raffaele führten, und scheut kein Klischee. Nicht nur unser Freizeitdetektiv, sondern auch der Leser fühlt sich auf Schritt und Tritt an große Leinwandmomente erinnert. Die forensische Expertin ist durch "eine vage Ähnlichkeit mit Fanny Ardant" gesegnet, nennt sich aber Michelle, nach dem Beatles-Ohrwurm.
Bei der Verlobten des Opfers aus Iowa hatte Lorenzo "eins jener strammen Mädchen aus diesen amerikanischen Idiotenfilmen" erwartet, trifft aber auf ein Wesen, dem er sich am liebsten mit "Der Name ist Bond" vorstellen würde. Da Michelle von ihrem fülligen Gatten nur ab und zu bei unserm Helden Zuflucht sucht, zieht die trauernde Schönheit aus dem Mittleren Westen zu ihm und leistet moralische Unterstützung, während Lorenzo vom Toten hinterlassene Disketten durchforstet, überfallen wird und mit einem Foto seines Instituts, das er vom ersten bis zum letzten Mann verdächtigt, bei möglichen Zeugen die Runde macht.
Weder ein Schlag auf den Hinterkopf noch die zweite oder dritte Leiche können ihn von seiner Abenteuerlust kurieren. Lorenzo kennt keine Angst. Für derart unvermittelte Gefühle ist seine satirische Ader zu kräftig ausgebildet. Blödelnd, albernd, Sprüche klopfend, wurschtelt er sich durch seine eigene Geschichte, die mehr und mehr den Eindruck macht, sie sei der beste seiner Witze. Als die Amerikanerin eine seiner Aufschneidereien mit Skepsis quittiert, bemerkt der Erzähler: "Wie sollte ich ihr klarmachen, daß zur Tat zu schreiten statt hohle Phrasen zu dreschen das unverzeihlichste Vergehen ist, das ein Sizilianer einem anderen zum Vorwurf machen kann?"
Damit nimmt Gestalt an, was man schon lange ahnte. Der Roman ist nichts als eine sizilianische Arabeske, die uns ein Eingeborener an einer Bar in Palermo erzählt. Seine Zuhörer redet er grandios im Plural an und läßt keine Gelegenheit aus, sich selber in das rechte Licht zu rücken. Wir erfahren auch, welche Jugendeindrücke einen geborenen Schwätzer in seinem Element bestärken konnten. Zynisch blickt Lorenzo auf seine Achtundsechziger-Vergangenheit zurück. Doch rekrutiert er aus dem Umkreis der einstigen Sit-in-Kameraden fast sein ganzes fiktionales Personal. Kein Wunder: Die Kampfgenossen teilen mit ihm die Gedankenschwere und die Tatenarmut. In Krisen mit Handlungsbedarf verlangten die Getreuen erst nach politischen Analysen, "bevor sie sich schließlich in Gang setzten". Freuds "Psychopathologie des Alltags" mag für sie "wie ein Comic-Heft" gewesen sein, doch der Umsturz der Verhältnisse war ein Buch mit sieben Siegeln.
Sizilianische Übertreibungslust geht mit dem enttäuschten Utopiebedürfnis der Studentenbewegung in Piazzeses erstem Roman, dem Buch eines Fünfzigjährigen, eine phantastische Synthese ein. Aus der Analyse der Gewaltverhältnisse ist die Rekonstruktion des Tathergangs geworden. Das Experiment mit unbürgerlichen Lebensformen hat sich auf die Erfindung von kriminellen Motiven beschränkt. Und die klassenkämpferische Rhetorik ist auf ein selbstpersiflierendes Beiseiteflaxen geschrumpft.
Ein sizilianischer Exkommunist, so das Fazit der Lektüre, ist der ideale Autor des postmodernen Kriminalromans: Er glaubt an nichts, fürchtet niemand, kennt alles und redet wie ein Buch. Es sei denn, es ist Montag: "Am Wochenanfang fühle ich mich immer, als hätte mir jemand den Stecker rausgezogen. Das sind die letzten Nachwirkungen der achtundsechziger Jahre." Der Erzähler selbst enthüllt sich als Projektor mit Gedächtnis, der zu viele verheißungsvolle Filme abgespult hat.
Die Folge ist, daß sich die von Marx zurechtgerückte Welt nach der Logik des Objektivs wieder von den Füßen auf den Kopf stellt: Was ist, ist nur eine Fußnote zu dem, was dank Hollywood zu sein scheint. "Ein langes Schweigen auf beiden Seiten folgte", heißt es, als La Marca den Mörder mit seiner Tat konfrontiert: "Der Film war zu Ende." Wo kein Film ist, da ist bei Piazzese auch keine Geschichte. Aber solange der Streifen läuft, kann man sich bei ihm wie im richtigen Kino köstlich amüsieren. INGEBORG HARMS
Santo Piazzese: "Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Monika Lustig. DuMont Buchverlag, Köln 1998. 372 S., geb., 42,- DM.
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