Mit diesem Buch versuchen die Autoren die Ereignisse des 17. Juni 1953 in ihrer Gesamtheit zu erschließen und diesem Tag seinen Platz in der deutschen Geschichte zuzuordnen. Die Wirkungsgeschichte des 17. Juni 1953 wird aus verschiendenen Perspektiven betrachtet: vom offiziellen Bild, einschließlch der Geschichtswissenschaft der DDR, über die literarische Auseinandersetzung mit dem 17. Juni und der Rezeption autobiographischer Texte von Spitzenfunktionären der DDR, bis hin zur Erinnerungskultur des 17. Juni in der heutigen Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2004Thesenfreude
Was Historiker zum 17. Juni von Arnulf Baring gelernt haben
Zum fünfzigsten Jahrestag des 17. Juni kamen Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk und Ehrhard Neubert im vergangenen Jahr zu spät. Das war nicht schlimm, es gab genug Neuerscheinungen zum Aufstand, drei davon allein aus ihrer Behörde. Zum 51. Jahrestag haben die drei Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde für die Stasi-Unterlagen ihr Werk über "Die verdrängte Revolution - Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte" (Edition Temmen, Bremen) pünktlich vorgelegt. Im Westen sei der Aufstand "nicht begriffen" worden und im Osten nicht ins Selbstwertgefühl der Bürger eingedrungen, sagte der junge Historiker Kowalczuk, der starke Formulierungen und steile Thesen liebt, jetzt bei der Vorstellung des Bandes in Berlin.
Einer, der den 17. Juni in Kowalczuks Augen "nicht begriffen" hat, obwohl er 1957 als fünfundzwanzig Jahre alter Mann seine Magisterarbeit an der Columbia Universität in New York darüber verfaßte, ist Arnulf Baring. Der findet sich in dem Band als "linker Sozialdemokrat, der er damals war", beschrieben, der "in klassenkämpferischen Theoremen zu denken" schien und aus dem Volksaufstand einen reinen Arbeiteraufstand gemacht habe. Baring habe "die Normenfrage zur zentralen Frage des ,17. Juni' in westlichen Darstellungen" gemacht und "dem Aufstand seine politische und nationale Stoßrichtung bereits in der Ausgabe von 1957" genommen. Er habe sogar "die kommunistische These revitalisiert", der Westen habe in Gestalt des Radiosenders Rias den Aufstand ausgelöst. "Damit einher ging die Deutung, die DDR nicht mehr als Diktatur wahrzunehmen."
Nur die talkshowerfahrensten West-Berliner im Publikum vermochten Kowalczuks temperamentvolle Ausführungen über die "wirkungsmächtigen Umdeutungen" des 17. Juni durch Baring angemessen zu genießen, denn dieser kann geradezu als Vorbild für den Typus des meinungsstarken, thesenfreudigen Historikers gelten, dem Kowalczuk so vollständig entspricht: der Historiker, der mitten in seiner Zeit stehen und mitreden will. Die Mitteilung, daß Baring seine Magisterarbeit 1957 mit einem Mao-Tse-tung-Zitat abschloß, das er 1965 durch eine Bemerkung über die Tendenz zur Evolution statt Revolution ersetzt habe, entzückt jeden, der den erregungsfreudigen Baring in Aktion gesehen hat. Und so humorlos wie die Heißsporne aus der Abteilung Bildung und Forschung hat er nie geschrieben: "Es besteht nach einer kritischen Analyse des Buches von Arnulf Baring, auch eingeordnet im zeithistorischen Kontext seiner Entstehung, kaum ein Zweifel daran, daß der Autor seine politikwissenschaftliche Analyse in die politischen Zusammenhänge seiner Zeit - 1957 und 1965 voneinander abweichend - einbettete und so das historische Ereignis letztlich zum Vehikel seiner politischen Überzeugungen umdeutete", heißt es am Ende des Zeugnisses über den jungen Baring.
Damit wäre allerdings auch der Ehrgeiz von Eisenfeld, Kowalczuk und Neubert angemessen beschrieben. Den 17. Juni - das "Trauma der Machthaber, die zweite Gründung der DDR", wie Marianne Birthler sagte - sehen sie als Fortsetzung der gescheiterten Revolution von 1848 und als Generalprobe für die gelungene friedliche Revolution von 1989 und empfehlen ihn als festen Termin für eine "europäische Erinnerungskultur".
MECHTHILD KÜPPER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was Historiker zum 17. Juni von Arnulf Baring gelernt haben
Zum fünfzigsten Jahrestag des 17. Juni kamen Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk und Ehrhard Neubert im vergangenen Jahr zu spät. Das war nicht schlimm, es gab genug Neuerscheinungen zum Aufstand, drei davon allein aus ihrer Behörde. Zum 51. Jahrestag haben die drei Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde für die Stasi-Unterlagen ihr Werk über "Die verdrängte Revolution - Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte" (Edition Temmen, Bremen) pünktlich vorgelegt. Im Westen sei der Aufstand "nicht begriffen" worden und im Osten nicht ins Selbstwertgefühl der Bürger eingedrungen, sagte der junge Historiker Kowalczuk, der starke Formulierungen und steile Thesen liebt, jetzt bei der Vorstellung des Bandes in Berlin.
Einer, der den 17. Juni in Kowalczuks Augen "nicht begriffen" hat, obwohl er 1957 als fünfundzwanzig Jahre alter Mann seine Magisterarbeit an der Columbia Universität in New York darüber verfaßte, ist Arnulf Baring. Der findet sich in dem Band als "linker Sozialdemokrat, der er damals war", beschrieben, der "in klassenkämpferischen Theoremen zu denken" schien und aus dem Volksaufstand einen reinen Arbeiteraufstand gemacht habe. Baring habe "die Normenfrage zur zentralen Frage des ,17. Juni' in westlichen Darstellungen" gemacht und "dem Aufstand seine politische und nationale Stoßrichtung bereits in der Ausgabe von 1957" genommen. Er habe sogar "die kommunistische These revitalisiert", der Westen habe in Gestalt des Radiosenders Rias den Aufstand ausgelöst. "Damit einher ging die Deutung, die DDR nicht mehr als Diktatur wahrzunehmen."
Nur die talkshowerfahrensten West-Berliner im Publikum vermochten Kowalczuks temperamentvolle Ausführungen über die "wirkungsmächtigen Umdeutungen" des 17. Juni durch Baring angemessen zu genießen, denn dieser kann geradezu als Vorbild für den Typus des meinungsstarken, thesenfreudigen Historikers gelten, dem Kowalczuk so vollständig entspricht: der Historiker, der mitten in seiner Zeit stehen und mitreden will. Die Mitteilung, daß Baring seine Magisterarbeit 1957 mit einem Mao-Tse-tung-Zitat abschloß, das er 1965 durch eine Bemerkung über die Tendenz zur Evolution statt Revolution ersetzt habe, entzückt jeden, der den erregungsfreudigen Baring in Aktion gesehen hat. Und so humorlos wie die Heißsporne aus der Abteilung Bildung und Forschung hat er nie geschrieben: "Es besteht nach einer kritischen Analyse des Buches von Arnulf Baring, auch eingeordnet im zeithistorischen Kontext seiner Entstehung, kaum ein Zweifel daran, daß der Autor seine politikwissenschaftliche Analyse in die politischen Zusammenhänge seiner Zeit - 1957 und 1965 voneinander abweichend - einbettete und so das historische Ereignis letztlich zum Vehikel seiner politischen Überzeugungen umdeutete", heißt es am Ende des Zeugnisses über den jungen Baring.
Damit wäre allerdings auch der Ehrgeiz von Eisenfeld, Kowalczuk und Neubert angemessen beschrieben. Den 17. Juni - das "Trauma der Machthaber, die zweite Gründung der DDR", wie Marianne Birthler sagte - sehen sie als Fortsetzung der gescheiterten Revolution von 1848 und als Generalprobe für die gelungene friedliche Revolution von 1989 und empfehlen ihn als festen Termin für eine "europäische Erinnerungskultur".
MECHTHILD KÜPPER
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2004Noch ’ne Revolution
Man kann nie genug davon haben: Eine historiographische Neudichtung über die Aufstände des 17. Juni
Das Buch über „den Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte”, das in der Wissenschaftlichen Reihe der Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erscheint, verschafft dem Leser ein fremdes Déjà-vu-Gefühl: So wie einst die Bürger der DDR in den Romanen ihrer Schriftsteller zwischen den Zeilen lasen, verfährt man als Leser dieses Buches. Hier tut man es aber nicht, um die Kritik am System aufzuspüren, die sich im Text verbirgt, sondern um die politischen Ansichten der Autoren von den Sachen zu trennen, die sie schildern. Denn die These, die sie aufstellen, ist so unglaubwürdig, dass der Leser eine Weile braucht, um zu begreifen: Sie meinen es ernst.
Die drei Autoren, alle Mitarbeiter der Birthler-Behörde, haben die Rezeptionsgeschichte des 17. Juni verfasst. Sie handeln davon, wie der Aufstand in der DDR wahrgenommen wurde, in der SED wie auch in der Bevölkerung, wie der Westen ihn sah und wie die politisch-historische Interpretation der Ereignisse jenes Tages sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte wandelte. Außerdem werden – von Erhebungen in sowjetischen Zwangsarbeitslagern im Jahr 1953 bis zur Solidarnosc-Bewegung – auch andere Aufstände in den ehemaligen Ostblockländern aufgeführt, obgleich nicht ersichtlich ist, dass sie irgendetwas mit dem 17. Juni zu tun hatten. Dass dies Kapitel den Autoren dennoch wichtig war, hängt mit ihren historischen Grundannahmen zusammen, für die ihnen ihre Rezeptionsgeschichte des 17. Juni als publizistisches Vehikel dient.
Die Autoren betrachten die Umwälzungen des Jahres 1989 als Revolution und das Jahr 1953 als ihren Vorboten. Sie reden von „zwei Revolutionen”. Die Aufstände an jenem Juni-Tag entzündeten sich an den kurz zuvor verschärften Arbeitsnormen in den Betrieben, aber sehr schnell wurden auch allgemeine Forderungen nach mehr staatlicher Liberalität gestellt. Das sehen die Autoren jedoch anders. Am 17. Juni, so glauben sie, habe die Bevölkerung der DDR versucht, sich von der Herrschaft der SED zu befreien und die Vereinigung mit Westdeutschland zu erzwingen, angesichts der heranrollenden sowjetischen Panzer sei die Revolution aber gescheitert.
Die Diskussion über die Frage, ob der 17. Juni als misslungene Revolution angesehen werden kann, ist müßig. Das methodische Problem bei der Erörterung des Revolutionsbegriffs liegt darin, dass es in der Regel ohne die Führung der Cromwells, Dantons und Lenins, die den Umsturz der herrschenden Regierung bewusst betreiben, keine Revolution gibt, die diesen Namen verdient, ohne dass man darüber streiten müsste. Wie man einen gescheiterten Aufstand hinterher nennt, ist Geschmackssache: Es besagt mehr über das politische Bekenntnis desjenigen, der spricht, als über das Ereignis selbst.
Neuer deutscher Mythos
Für das Buch folgenreicher ist die Auffassung der Autoren, dass die DDR eine Diktatur gewesen sei, die sich ohne weiteres in die Liste der totalitären Regime vom Schlage des NS-Systems oder der Sowjetunion einreihen lasse. Dies liegt nicht auf der Hand, weshalb die Autoren sich denn auch bemühen, die Totalitarismustheorie stark zu machen und sich nicht scheuen, das differenzierte Bild, das andere von der DDR gezeichnet haben, in ihrem Sinn zu korrigieren. Der Historiker Jürgen Kocka zum Beispiel hat die DDR nicht eine totalitäre, sondern eine „durchherrschte Gesellschaft” genannt. Die Autoren kommentieren: „Dabei ist jedoch auch zu bedenken, dass der Begriff ,durchherrschte Gesellschaft‘ lediglich ein (sic) ,Alternativbegriff‘ für eine totalitär verfasste Gesellschaft darstellt und aus ,taktisch-wissenschaftlichen‘ Gründen gebraucht werden kann.” Was diese taktisch-wissenschaftlichen Gründe sein sollen, erfährt der Leser nicht. Er begreift nur, dass hier ein mit Bedacht gewählter Ausdruck zu einem Synonym für „totalitär” erklärt wird. Außerdem gibt es dazu eine Fußnote: Der zitierte Satz geht auf einen „Diskussionsbeitrag” zurück, den einer der Autoren des Buches gemacht hat. Ob das seine Plausibilität vergrößert?
Noch folgenreicher für das Buch ist indes die Neigung der Autoren, die Personen, die sie anführen, auf ihre antitotalitäre Solidität hin abzuklopfen, ganz nach der Devise: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Getadelt wird jeder, der nicht konsequent als Dissident aufgetreten ist. Besonders deplaziert wirkt diese Notenvergabe für Betragen in dem Kapitel über die DDR-Schriftsteller. Die werden, so sie nach Meinung der Autoren ins Kröpfchen gehören, in hämischen Sätzen abgekanzelt.
So heißt es über Stefan Heym: „Er war verletzt, weil er den Geist der demokratischen Revolution auch mit seiner Literatur nicht in der Flasche halten konnte.” Weil Wolf Biermann – eigentlich ein Kandidat fürs Töpfchen – auf seinem Kölner Konzert 1976 auch etwas Abfälliges über die Aufständischen des 17. Juni sagte, wird ihm von Gnaden der Autoren zugute gehalten, er habe wohl „die Legitimationsmuster des SED-Regimes ... als Jugendlicher tief verinnerlicht”. Wo die Literatur sich dem umstandslosen Verdikt entzieht, werden die Autoren ungehalten: „Erich Loest lässt viele Fragen offen . . . Seine Erzählweise bringt es mit sich, dass der Leser in ein changierendes Feld von deutungsbedürftigen Informationen gestellt wird. Das ist zugleich spannend als auch lästig.”
Diese Überheblichkeit, die auch in den übrigen Teilen des Buches aufscheint, macht die Lektüre zu einem unangenehmen Erlebnis: Der Leser ist nicht selten peinlich berührt.
Weil die differenzierte Betrachtungsweise, die den Schriftstellern, ihrer Literatur und dem 17. Juni gerecht würde, offenbar überhaupt lästig ist, urteilen die Autoren auch gern pauschal: „Während die Aufständischen von vornherein sich der SED-Diktatur entledigen wollten und deswegen den Mythos einer vorausgesetzten Einheit zwischen Klasse und Partei gar nicht im Kalkül hatten, plagten sich über Jahrzehnte die Schriftsteller mit einem Problem der ,Arbeiterklasse‘, das diese nicht hat. Sie projizierten im Grunde ihr eigenes quälendes Problem, das der freiwilligen Knechtschaft, in die Gesellschaft. Die Mittel, die sie sich dazu erwählten, sind geborgt und verbogen.”
Man kann, wie gesagt, darüber streiten, ob der 17. Juni Merkmale einer anhebenden Revolution aufwies. Ganz gewiss war es aber nicht so, dass die Aufständischen „von vornherein” einen Sturz der SED bewirken wollten. Geschichtsinterpretation ist eine Sache, die Erfindung von Geschichte eine andere. Dass dies in einer Buchreihe geschieht, die von der für die Aufarbeitung der ostdeutschen Geschichte zuständigen Behörde herausgegeben wird, ist bedenklich.
FRANZISKA AUGSTEIN
BERND EISENFELD, ILKO-SASCHA KOWALCZUK, EHRHART NEUBERT: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte. Edition Temmen, Bremen 2004. 847 Seiten, 29,90 Euro.
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Man kann nie genug davon haben: Eine historiographische Neudichtung über die Aufstände des 17. Juni
Das Buch über „den Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte”, das in der Wissenschaftlichen Reihe der Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erscheint, verschafft dem Leser ein fremdes Déjà-vu-Gefühl: So wie einst die Bürger der DDR in den Romanen ihrer Schriftsteller zwischen den Zeilen lasen, verfährt man als Leser dieses Buches. Hier tut man es aber nicht, um die Kritik am System aufzuspüren, die sich im Text verbirgt, sondern um die politischen Ansichten der Autoren von den Sachen zu trennen, die sie schildern. Denn die These, die sie aufstellen, ist so unglaubwürdig, dass der Leser eine Weile braucht, um zu begreifen: Sie meinen es ernst.
Die drei Autoren, alle Mitarbeiter der Birthler-Behörde, haben die Rezeptionsgeschichte des 17. Juni verfasst. Sie handeln davon, wie der Aufstand in der DDR wahrgenommen wurde, in der SED wie auch in der Bevölkerung, wie der Westen ihn sah und wie die politisch-historische Interpretation der Ereignisse jenes Tages sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte wandelte. Außerdem werden – von Erhebungen in sowjetischen Zwangsarbeitslagern im Jahr 1953 bis zur Solidarnosc-Bewegung – auch andere Aufstände in den ehemaligen Ostblockländern aufgeführt, obgleich nicht ersichtlich ist, dass sie irgendetwas mit dem 17. Juni zu tun hatten. Dass dies Kapitel den Autoren dennoch wichtig war, hängt mit ihren historischen Grundannahmen zusammen, für die ihnen ihre Rezeptionsgeschichte des 17. Juni als publizistisches Vehikel dient.
Die Autoren betrachten die Umwälzungen des Jahres 1989 als Revolution und das Jahr 1953 als ihren Vorboten. Sie reden von „zwei Revolutionen”. Die Aufstände an jenem Juni-Tag entzündeten sich an den kurz zuvor verschärften Arbeitsnormen in den Betrieben, aber sehr schnell wurden auch allgemeine Forderungen nach mehr staatlicher Liberalität gestellt. Das sehen die Autoren jedoch anders. Am 17. Juni, so glauben sie, habe die Bevölkerung der DDR versucht, sich von der Herrschaft der SED zu befreien und die Vereinigung mit Westdeutschland zu erzwingen, angesichts der heranrollenden sowjetischen Panzer sei die Revolution aber gescheitert.
Die Diskussion über die Frage, ob der 17. Juni als misslungene Revolution angesehen werden kann, ist müßig. Das methodische Problem bei der Erörterung des Revolutionsbegriffs liegt darin, dass es in der Regel ohne die Führung der Cromwells, Dantons und Lenins, die den Umsturz der herrschenden Regierung bewusst betreiben, keine Revolution gibt, die diesen Namen verdient, ohne dass man darüber streiten müsste. Wie man einen gescheiterten Aufstand hinterher nennt, ist Geschmackssache: Es besagt mehr über das politische Bekenntnis desjenigen, der spricht, als über das Ereignis selbst.
Neuer deutscher Mythos
Für das Buch folgenreicher ist die Auffassung der Autoren, dass die DDR eine Diktatur gewesen sei, die sich ohne weiteres in die Liste der totalitären Regime vom Schlage des NS-Systems oder der Sowjetunion einreihen lasse. Dies liegt nicht auf der Hand, weshalb die Autoren sich denn auch bemühen, die Totalitarismustheorie stark zu machen und sich nicht scheuen, das differenzierte Bild, das andere von der DDR gezeichnet haben, in ihrem Sinn zu korrigieren. Der Historiker Jürgen Kocka zum Beispiel hat die DDR nicht eine totalitäre, sondern eine „durchherrschte Gesellschaft” genannt. Die Autoren kommentieren: „Dabei ist jedoch auch zu bedenken, dass der Begriff ,durchherrschte Gesellschaft‘ lediglich ein (sic) ,Alternativbegriff‘ für eine totalitär verfasste Gesellschaft darstellt und aus ,taktisch-wissenschaftlichen‘ Gründen gebraucht werden kann.” Was diese taktisch-wissenschaftlichen Gründe sein sollen, erfährt der Leser nicht. Er begreift nur, dass hier ein mit Bedacht gewählter Ausdruck zu einem Synonym für „totalitär” erklärt wird. Außerdem gibt es dazu eine Fußnote: Der zitierte Satz geht auf einen „Diskussionsbeitrag” zurück, den einer der Autoren des Buches gemacht hat. Ob das seine Plausibilität vergrößert?
Noch folgenreicher für das Buch ist indes die Neigung der Autoren, die Personen, die sie anführen, auf ihre antitotalitäre Solidität hin abzuklopfen, ganz nach der Devise: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Getadelt wird jeder, der nicht konsequent als Dissident aufgetreten ist. Besonders deplaziert wirkt diese Notenvergabe für Betragen in dem Kapitel über die DDR-Schriftsteller. Die werden, so sie nach Meinung der Autoren ins Kröpfchen gehören, in hämischen Sätzen abgekanzelt.
So heißt es über Stefan Heym: „Er war verletzt, weil er den Geist der demokratischen Revolution auch mit seiner Literatur nicht in der Flasche halten konnte.” Weil Wolf Biermann – eigentlich ein Kandidat fürs Töpfchen – auf seinem Kölner Konzert 1976 auch etwas Abfälliges über die Aufständischen des 17. Juni sagte, wird ihm von Gnaden der Autoren zugute gehalten, er habe wohl „die Legitimationsmuster des SED-Regimes ... als Jugendlicher tief verinnerlicht”. Wo die Literatur sich dem umstandslosen Verdikt entzieht, werden die Autoren ungehalten: „Erich Loest lässt viele Fragen offen . . . Seine Erzählweise bringt es mit sich, dass der Leser in ein changierendes Feld von deutungsbedürftigen Informationen gestellt wird. Das ist zugleich spannend als auch lästig.”
Diese Überheblichkeit, die auch in den übrigen Teilen des Buches aufscheint, macht die Lektüre zu einem unangenehmen Erlebnis: Der Leser ist nicht selten peinlich berührt.
Weil die differenzierte Betrachtungsweise, die den Schriftstellern, ihrer Literatur und dem 17. Juni gerecht würde, offenbar überhaupt lästig ist, urteilen die Autoren auch gern pauschal: „Während die Aufständischen von vornherein sich der SED-Diktatur entledigen wollten und deswegen den Mythos einer vorausgesetzten Einheit zwischen Klasse und Partei gar nicht im Kalkül hatten, plagten sich über Jahrzehnte die Schriftsteller mit einem Problem der ,Arbeiterklasse‘, das diese nicht hat. Sie projizierten im Grunde ihr eigenes quälendes Problem, das der freiwilligen Knechtschaft, in die Gesellschaft. Die Mittel, die sie sich dazu erwählten, sind geborgt und verbogen.”
Man kann, wie gesagt, darüber streiten, ob der 17. Juni Merkmale einer anhebenden Revolution aufwies. Ganz gewiss war es aber nicht so, dass die Aufständischen „von vornherein” einen Sturz der SED bewirken wollten. Geschichtsinterpretation ist eine Sache, die Erfindung von Geschichte eine andere. Dass dies in einer Buchreihe geschieht, die von der für die Aufarbeitung der ostdeutschen Geschichte zuständigen Behörde herausgegeben wird, ist bedenklich.
FRANZISKA AUGSTEIN
BERND EISENFELD, ILKO-SASCHA KOWALCZUK, EHRHART NEUBERT: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte. Edition Temmen, Bremen 2004. 847 Seiten, 29,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nein, mit diesem Buch ist der hier rezensierende Zeitgeschichtler Hermann Wentker nicht einverstanden. Nach seiner Darstellung begreifen die Autoren Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk und Ehrhart Neubert den 17. Juni 1953 als eine Revolution, der ein würdiger Platz unter den deutschen Revolutionen und in der europäischen Erinnerungskultur einzuräumen sei. Dafür untersuchen sie den 17. Juni im Kontext von Herrschaft und Widerstand in der DDR sowie seine Rezeptionsgeschichte im offiziellen Gedenken. Rezensent Wentker nennt das Anliegen der Autoren dabei "weniger geschichtswissenschaftlich, sondern geschichtspolitisch", was seiner Meinung nach einige Verbiegungen und Widersprüche in der Argumentation, unklare Definitionen und wacklige Konstruktionen zur Folge hat. So habe der 17. Juni mitnichten eine Traditionslinie des Widerstands in der DDR begründet, und Erich Honeckers Sozialpolitik in den siebziger Jahren begründe sich auch nicht aus der Erfahrung von 1953, sondern den Arbeiterunruhen in Polen von 1970, wendet der Rezensent kritisch ein, dem auch nicht gefällt, dass neuere Arbeiten zur Geschichte des 17. Juni vor allem mit Blick auf die Frage zensiert werden, ob sie die Revolution im Sinne der Autoren würdigen. So warnt Wentker schließlich davor, dieses "Schlüsselereignis" der DDR-Geschichte "umzudeuten und zu instrumentalisieren".
© Perlentaucher Medien GmbH
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