Mit diesem Buch versuchen die Autoren die Ereignisse des 17. Juni 1953 in ihrer Gesamtheit zu erschließen und diesem Tag seinen Platz in der deutschen Geschichte zuzuordnen. Die Wirkungsgeschichte des 17. Juni 1953 wird aus verschiendenen Perspektiven betrachtet: vom offiziellen Bild, einschließlch der Geschichtswissenschaft der DDR, über die literarische Auseinandersetzung mit dem 17. Juni und der Rezeption autobiographischer Texte von Spitzenfunktionären der DDR, bis hin zur Erinnerungskultur des 17. Juni in der heutigen Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2004Thesenfreude
Was Historiker zum 17. Juni von Arnulf Baring gelernt haben
Zum fünfzigsten Jahrestag des 17. Juni kamen Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk und Ehrhard Neubert im vergangenen Jahr zu spät. Das war nicht schlimm, es gab genug Neuerscheinungen zum Aufstand, drei davon allein aus ihrer Behörde. Zum 51. Jahrestag haben die drei Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde für die Stasi-Unterlagen ihr Werk über "Die verdrängte Revolution - Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte" (Edition Temmen, Bremen) pünktlich vorgelegt. Im Westen sei der Aufstand "nicht begriffen" worden und im Osten nicht ins Selbstwertgefühl der Bürger eingedrungen, sagte der junge Historiker Kowalczuk, der starke Formulierungen und steile Thesen liebt, jetzt bei der Vorstellung des Bandes in Berlin.
Einer, der den 17. Juni in Kowalczuks Augen "nicht begriffen" hat, obwohl er 1957 als fünfundzwanzig Jahre alter Mann seine Magisterarbeit an der Columbia Universität in New York darüber verfaßte, ist Arnulf Baring. Der findet sich in dem Band als "linker Sozialdemokrat, der er damals war", beschrieben, der "in klassenkämpferischen Theoremen zu denken" schien und aus dem Volksaufstand einen reinen Arbeiteraufstand gemacht habe. Baring habe "die Normenfrage zur zentralen Frage des ,17. Juni' in westlichen Darstellungen" gemacht und "dem Aufstand seine politische und nationale Stoßrichtung bereits in der Ausgabe von 1957" genommen. Er habe sogar "die kommunistische These revitalisiert", der Westen habe in Gestalt des Radiosenders Rias den Aufstand ausgelöst. "Damit einher ging die Deutung, die DDR nicht mehr als Diktatur wahrzunehmen."
Nur die talkshowerfahrensten West-Berliner im Publikum vermochten Kowalczuks temperamentvolle Ausführungen über die "wirkungsmächtigen Umdeutungen" des 17. Juni durch Baring angemessen zu genießen, denn dieser kann geradezu als Vorbild für den Typus des meinungsstarken, thesenfreudigen Historikers gelten, dem Kowalczuk so vollständig entspricht: der Historiker, der mitten in seiner Zeit stehen und mitreden will. Die Mitteilung, daß Baring seine Magisterarbeit 1957 mit einem Mao-Tse-tung-Zitat abschloß, das er 1965 durch eine Bemerkung über die Tendenz zur Evolution statt Revolution ersetzt habe, entzückt jeden, der den erregungsfreudigen Baring in Aktion gesehen hat. Und so humorlos wie die Heißsporne aus der Abteilung Bildung und Forschung hat er nie geschrieben: "Es besteht nach einer kritischen Analyse des Buches von Arnulf Baring, auch eingeordnet im zeithistorischen Kontext seiner Entstehung, kaum ein Zweifel daran, daß der Autor seine politikwissenschaftliche Analyse in die politischen Zusammenhänge seiner Zeit - 1957 und 1965 voneinander abweichend - einbettete und so das historische Ereignis letztlich zum Vehikel seiner politischen Überzeugungen umdeutete", heißt es am Ende des Zeugnisses über den jungen Baring.
Damit wäre allerdings auch der Ehrgeiz von Eisenfeld, Kowalczuk und Neubert angemessen beschrieben. Den 17. Juni - das "Trauma der Machthaber, die zweite Gründung der DDR", wie Marianne Birthler sagte - sehen sie als Fortsetzung der gescheiterten Revolution von 1848 und als Generalprobe für die gelungene friedliche Revolution von 1989 und empfehlen ihn als festen Termin für eine "europäische Erinnerungskultur".
MECHTHILD KÜPPER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was Historiker zum 17. Juni von Arnulf Baring gelernt haben
Zum fünfzigsten Jahrestag des 17. Juni kamen Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk und Ehrhard Neubert im vergangenen Jahr zu spät. Das war nicht schlimm, es gab genug Neuerscheinungen zum Aufstand, drei davon allein aus ihrer Behörde. Zum 51. Jahrestag haben die drei Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde für die Stasi-Unterlagen ihr Werk über "Die verdrängte Revolution - Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte" (Edition Temmen, Bremen) pünktlich vorgelegt. Im Westen sei der Aufstand "nicht begriffen" worden und im Osten nicht ins Selbstwertgefühl der Bürger eingedrungen, sagte der junge Historiker Kowalczuk, der starke Formulierungen und steile Thesen liebt, jetzt bei der Vorstellung des Bandes in Berlin.
Einer, der den 17. Juni in Kowalczuks Augen "nicht begriffen" hat, obwohl er 1957 als fünfundzwanzig Jahre alter Mann seine Magisterarbeit an der Columbia Universität in New York darüber verfaßte, ist Arnulf Baring. Der findet sich in dem Band als "linker Sozialdemokrat, der er damals war", beschrieben, der "in klassenkämpferischen Theoremen zu denken" schien und aus dem Volksaufstand einen reinen Arbeiteraufstand gemacht habe. Baring habe "die Normenfrage zur zentralen Frage des ,17. Juni' in westlichen Darstellungen" gemacht und "dem Aufstand seine politische und nationale Stoßrichtung bereits in der Ausgabe von 1957" genommen. Er habe sogar "die kommunistische These revitalisiert", der Westen habe in Gestalt des Radiosenders Rias den Aufstand ausgelöst. "Damit einher ging die Deutung, die DDR nicht mehr als Diktatur wahrzunehmen."
Nur die talkshowerfahrensten West-Berliner im Publikum vermochten Kowalczuks temperamentvolle Ausführungen über die "wirkungsmächtigen Umdeutungen" des 17. Juni durch Baring angemessen zu genießen, denn dieser kann geradezu als Vorbild für den Typus des meinungsstarken, thesenfreudigen Historikers gelten, dem Kowalczuk so vollständig entspricht: der Historiker, der mitten in seiner Zeit stehen und mitreden will. Die Mitteilung, daß Baring seine Magisterarbeit 1957 mit einem Mao-Tse-tung-Zitat abschloß, das er 1965 durch eine Bemerkung über die Tendenz zur Evolution statt Revolution ersetzt habe, entzückt jeden, der den erregungsfreudigen Baring in Aktion gesehen hat. Und so humorlos wie die Heißsporne aus der Abteilung Bildung und Forschung hat er nie geschrieben: "Es besteht nach einer kritischen Analyse des Buches von Arnulf Baring, auch eingeordnet im zeithistorischen Kontext seiner Entstehung, kaum ein Zweifel daran, daß der Autor seine politikwissenschaftliche Analyse in die politischen Zusammenhänge seiner Zeit - 1957 und 1965 voneinander abweichend - einbettete und so das historische Ereignis letztlich zum Vehikel seiner politischen Überzeugungen umdeutete", heißt es am Ende des Zeugnisses über den jungen Baring.
Damit wäre allerdings auch der Ehrgeiz von Eisenfeld, Kowalczuk und Neubert angemessen beschrieben. Den 17. Juni - das "Trauma der Machthaber, die zweite Gründung der DDR", wie Marianne Birthler sagte - sehen sie als Fortsetzung der gescheiterten Revolution von 1848 und als Generalprobe für die gelungene friedliche Revolution von 1989 und empfehlen ihn als festen Termin für eine "europäische Erinnerungskultur".
MECHTHILD KÜPPER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nein, mit diesem Buch ist der hier rezensierende Zeitgeschichtler Hermann Wentker nicht einverstanden. Nach seiner Darstellung begreifen die Autoren Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk und Ehrhart Neubert den 17. Juni 1953 als eine Revolution, der ein würdiger Platz unter den deutschen Revolutionen und in der europäischen Erinnerungskultur einzuräumen sei. Dafür untersuchen sie den 17. Juni im Kontext von Herrschaft und Widerstand in der DDR sowie seine Rezeptionsgeschichte im offiziellen Gedenken. Rezensent Wentker nennt das Anliegen der Autoren dabei "weniger geschichtswissenschaftlich, sondern geschichtspolitisch", was seiner Meinung nach einige Verbiegungen und Widersprüche in der Argumentation, unklare Definitionen und wacklige Konstruktionen zur Folge hat. So habe der 17. Juni mitnichten eine Traditionslinie des Widerstands in der DDR begründet, und Erich Honeckers Sozialpolitik in den siebziger Jahren begründe sich auch nicht aus der Erfahrung von 1953, sondern den Arbeiterunruhen in Polen von 1970, wendet der Rezensent kritisch ein, dem auch nicht gefällt, dass neuere Arbeiten zur Geschichte des 17. Juni vor allem mit Blick auf die Frage zensiert werden, ob sie die Revolution im Sinne der Autoren würdigen. So warnt Wentker schließlich davor, dieses "Schlüsselereignis" der DDR-Geschichte "umzudeuten und zu instrumentalisieren".
© Perlentaucher Medien GmbH
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