Was haben das Verschwinden von Apfelsorten, das Auftreten von Politikern in Talkshows, religiöser Fundamentalismus und der Kunst- und Musikmarkt miteinander gemeinsam? Überall wird Vielfalt reduziert, Unerwartetes und Unangepasstes zurückgedrängt. An die Stelle des eigentümlichen Inhalts rückt vermeintliche Authentizität: Nicht mehr das »was« zählt, sondern nur noch das »wie«. Die Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz - Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit auszuhalten - nimmt in den westlichen Gesellschaften rapide ab. Thomas Bauer zeigt die Konsequenzen auf, sollten wir diesen fatalen Weg des Verlustes von Vielfalt weiter beschreiten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2018Alles Banane
Wenn Kapitalismuskritik versagt
Der Reclam-Verlag hat in Form seiner bekannten "Reclam-Heftchen" ein Essay des Arabisten Thomas Bauer veröffentlicht. Das 97 Seiten kurze Werk hat ein großes öffentliches Echo gefunden und liegt nun schon in der sechsten Auflage seit Jahresbeginn vor. Unter dem Titel "Die Vereindeutigung der Welt" geht es Bauer um den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.
Der an der Universität Münster lehrende Wissenschaftler meint, unsere heutige Gesellschaft sei nicht mehr bereit, Vielfalt in all seinen Erscheinungsformen zu ertragen. Diese These ist wert, diskutiert zu werden - doch die sich daran anschließende Kapitalismuskritik kann nicht überzeugen. Eine Würdigung haben Bauers Gedanken trotzdem verdient: Der von ihm mit Leben erfüllte Begriff der "Ambiguität" vermag unser Nachdenken über Wirtschaft und Gesellschaft zu erweitern.
"Der Begriff Ambiguität ist im Deutschen weniger gebräuchlich als sein englisches oder französisches Äquivalent, denn ,ambiguity' und ,ambiguité' sind Wörter der Alltagssprache. Das Wort ist aber im Deutschen unverzichtbar, nämlich als Begriff für alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden", schreibt der Autor. Gleichzeitig seien die Menschen immer unwilliger, Vielfalt in all seinen Erscheinungsformen zu ertragen. Das beklagt neben Bauer auch der Soziologe Zygmunt Bauman, wenn er schreibt, Ambiguität erscheine inzwischen "als die einzige Kraft, die imstande ist, das destruktive, genozidale Potential der Moderne einzuschränken und zu entschärfen". Im Ergebnis sei Vagheit damit nicht nur zu begrüßen, sondern unbedingt notwendig. Abzulehnen sei dagegen jede Form von Ambiguitätsintoleranz, wie sie der Psychiater Christopher Baethge den Amerikanern attestiert.
Diese seien "um größte Eindeutigkeit bemüht" und versuchten im Allgemeinen - und dies trotz großer individueller Unterschiede - "das Aufkommen von Ambivalenz um jeden Preis zu verhindern". Erster Beleg: Die interventionistische Außenpolitik der Vereinigten Staaten speise sich aus der Tendenz, Schwebezustände und Kompromisse zu vermeiden. Zweiter Beleg: In Amerika sind Mannschaftssportarten beliebt, in denen es fast nie ein Unentschieden gibt, anders als beim Fußball in Europa. Als aktuelles Beispiel könnte man die Rhetorik von Donald Trump anführen, der seinen Anhängern eine wunderbare Eindeutigkeit präsentiert, die sich freilich im Tagesrhythmus ändern kann.
Gegner von Ambiguität seien unter anderem Fundamentalisten, schreibt Bauer. Diese würden nur eine einzige gültige Wahrheit akzeptieren, statt sich mit Wahrscheinlichkeiten zufriedenzustellen. Diese Wahrheit muss überzeitlich gültig und rein sein. Alles, was interpretiert und gedeutet werden muss, sei unrein. "Hat man dieses Fundament des Fundamentalismus erkannt, wird man leicht entsprechende Wesenszüge auch in gesellschaftlichen Bereichen erkennen können, in denen es bislang nicht üblich war, von Fundamentalismus zu sprechen." Das klingt im ersten Moment plausibel, aber mit dieser Brücke öffnet Bauer seine Theorie auf die Betrachtung des Wirtschaftssystems.
In der heutigen Zeit werde alles, was sich nicht in Zahlen umsetzen lassen abgewertet. Dagegen erfahre alles, was eindeutige Wahrheiten hervorzubringen scheint, eine Steigerung des Ansehens. "Daher übernimmt eine andere Instanz die Macht, nämlich der Markt, der über die magische Fähigkeit verfügt, allem und jedem einen exakten Wert bis auf viele Stellen hinter dem Komma zuzuordnen", heißt es.
An dieser Stelle möchte man den beamteten Professor bremsen, da er mehreren Denkfehlern unterliegt. Besteht der Markt nicht aus Menschen? Ist der Markt nicht das Modell, das am besten Wünsche befriedigt? Dient dessen Mathematik nicht der gerechten Verteilung von Gütern und Dienstleistungen, unabhängig von Ansehen und Status eines Menschen? Sind Fehlfunktionen und Exzesse im Marktgeschehen nicht tägliche Herausforderungen von Politik und Verwaltung? Solche Argumente diskutiert Bauer nicht. Muss er auch nicht, aber die Fakten sollten stimmen. "Bei Bananen gibt es weltweit nur noch eine einzige Sorte", schreibt er, aber Belege für diese - falsche - These bleibt er schuldig.
Bei Gemüse beklagt er Züchtungen von hoher Qualität, aber die Vielfalt sei vorgetäuscht. In Zukunft entscheide das Unternehmen Monsanto, "welche Wassermelone in den Supermärkten liegt, wie die Idealtomate schmeckt und welche Gurke es verdient, in Gewächshäusern tausendfach aufgezogen zu werden." Man möchte einwerfen: Immerhin können heute 7 Milliarden Menschen im Großen und Ganzen ernährt werden. Bauers Frage - "Sind Kapitalismus und Demokratie überhaupt dauerhaft miteinander vereinbar?" - wird man wohl bejahen müssen, anders als der Autor intendiert. Dass manche Menschen in einer eindeutigeren Welt leben wollen, wie der Autor beklagt, hat vielleicht auch einfach damit zu tun, dass die Welt in den letzten Jahren immer uneindeutiger und auch vielfältiger geworden ist.
Feuilletonisten haben bereits berichtet, dass die musikgeschichtlichen Ausführungen im Buch nicht überzeugen. Gleiches muss man nun über die Passagen konstatieren, die sich mit dem heutigen Wirtschaftssystem beschäftigen. Dem Buch widerfährt leider, was es gleichzeitig beklagt: Es vereinfacht zu sehr. Doch mit dieser Kritik kann der Autor leben, wenn er keinen Anspruch auf Wahrheit, Reinheit und überzeitliche Gültigkeit geltend machen will.
Auch der Rezensent will das nicht. Vermutlich haben beide unrecht, und es ist etwas Drittes wahr oder all dies nicht - und selbst das nicht. Eindeutig bleibt in der heutigen Zeit dieser Tetralemmata wohl nur eines: Bei der Amtseinführung von Donald Trump gab es das größte Publikum, das jemals bei einer Vereidigung dabei war, sowohl vor Ort als auch weltweit. Punkt.
JOCHEN ZENTHÖFER
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Reclam, Ditzingen, 2018. 97 Seiten. 6 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Kapitalismuskritik versagt
Der Reclam-Verlag hat in Form seiner bekannten "Reclam-Heftchen" ein Essay des Arabisten Thomas Bauer veröffentlicht. Das 97 Seiten kurze Werk hat ein großes öffentliches Echo gefunden und liegt nun schon in der sechsten Auflage seit Jahresbeginn vor. Unter dem Titel "Die Vereindeutigung der Welt" geht es Bauer um den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.
Der an der Universität Münster lehrende Wissenschaftler meint, unsere heutige Gesellschaft sei nicht mehr bereit, Vielfalt in all seinen Erscheinungsformen zu ertragen. Diese These ist wert, diskutiert zu werden - doch die sich daran anschließende Kapitalismuskritik kann nicht überzeugen. Eine Würdigung haben Bauers Gedanken trotzdem verdient: Der von ihm mit Leben erfüllte Begriff der "Ambiguität" vermag unser Nachdenken über Wirtschaft und Gesellschaft zu erweitern.
"Der Begriff Ambiguität ist im Deutschen weniger gebräuchlich als sein englisches oder französisches Äquivalent, denn ,ambiguity' und ,ambiguité' sind Wörter der Alltagssprache. Das Wort ist aber im Deutschen unverzichtbar, nämlich als Begriff für alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden", schreibt der Autor. Gleichzeitig seien die Menschen immer unwilliger, Vielfalt in all seinen Erscheinungsformen zu ertragen. Das beklagt neben Bauer auch der Soziologe Zygmunt Bauman, wenn er schreibt, Ambiguität erscheine inzwischen "als die einzige Kraft, die imstande ist, das destruktive, genozidale Potential der Moderne einzuschränken und zu entschärfen". Im Ergebnis sei Vagheit damit nicht nur zu begrüßen, sondern unbedingt notwendig. Abzulehnen sei dagegen jede Form von Ambiguitätsintoleranz, wie sie der Psychiater Christopher Baethge den Amerikanern attestiert.
Diese seien "um größte Eindeutigkeit bemüht" und versuchten im Allgemeinen - und dies trotz großer individueller Unterschiede - "das Aufkommen von Ambivalenz um jeden Preis zu verhindern". Erster Beleg: Die interventionistische Außenpolitik der Vereinigten Staaten speise sich aus der Tendenz, Schwebezustände und Kompromisse zu vermeiden. Zweiter Beleg: In Amerika sind Mannschaftssportarten beliebt, in denen es fast nie ein Unentschieden gibt, anders als beim Fußball in Europa. Als aktuelles Beispiel könnte man die Rhetorik von Donald Trump anführen, der seinen Anhängern eine wunderbare Eindeutigkeit präsentiert, die sich freilich im Tagesrhythmus ändern kann.
Gegner von Ambiguität seien unter anderem Fundamentalisten, schreibt Bauer. Diese würden nur eine einzige gültige Wahrheit akzeptieren, statt sich mit Wahrscheinlichkeiten zufriedenzustellen. Diese Wahrheit muss überzeitlich gültig und rein sein. Alles, was interpretiert und gedeutet werden muss, sei unrein. "Hat man dieses Fundament des Fundamentalismus erkannt, wird man leicht entsprechende Wesenszüge auch in gesellschaftlichen Bereichen erkennen können, in denen es bislang nicht üblich war, von Fundamentalismus zu sprechen." Das klingt im ersten Moment plausibel, aber mit dieser Brücke öffnet Bauer seine Theorie auf die Betrachtung des Wirtschaftssystems.
In der heutigen Zeit werde alles, was sich nicht in Zahlen umsetzen lassen abgewertet. Dagegen erfahre alles, was eindeutige Wahrheiten hervorzubringen scheint, eine Steigerung des Ansehens. "Daher übernimmt eine andere Instanz die Macht, nämlich der Markt, der über die magische Fähigkeit verfügt, allem und jedem einen exakten Wert bis auf viele Stellen hinter dem Komma zuzuordnen", heißt es.
An dieser Stelle möchte man den beamteten Professor bremsen, da er mehreren Denkfehlern unterliegt. Besteht der Markt nicht aus Menschen? Ist der Markt nicht das Modell, das am besten Wünsche befriedigt? Dient dessen Mathematik nicht der gerechten Verteilung von Gütern und Dienstleistungen, unabhängig von Ansehen und Status eines Menschen? Sind Fehlfunktionen und Exzesse im Marktgeschehen nicht tägliche Herausforderungen von Politik und Verwaltung? Solche Argumente diskutiert Bauer nicht. Muss er auch nicht, aber die Fakten sollten stimmen. "Bei Bananen gibt es weltweit nur noch eine einzige Sorte", schreibt er, aber Belege für diese - falsche - These bleibt er schuldig.
Bei Gemüse beklagt er Züchtungen von hoher Qualität, aber die Vielfalt sei vorgetäuscht. In Zukunft entscheide das Unternehmen Monsanto, "welche Wassermelone in den Supermärkten liegt, wie die Idealtomate schmeckt und welche Gurke es verdient, in Gewächshäusern tausendfach aufgezogen zu werden." Man möchte einwerfen: Immerhin können heute 7 Milliarden Menschen im Großen und Ganzen ernährt werden. Bauers Frage - "Sind Kapitalismus und Demokratie überhaupt dauerhaft miteinander vereinbar?" - wird man wohl bejahen müssen, anders als der Autor intendiert. Dass manche Menschen in einer eindeutigeren Welt leben wollen, wie der Autor beklagt, hat vielleicht auch einfach damit zu tun, dass die Welt in den letzten Jahren immer uneindeutiger und auch vielfältiger geworden ist.
Feuilletonisten haben bereits berichtet, dass die musikgeschichtlichen Ausführungen im Buch nicht überzeugen. Gleiches muss man nun über die Passagen konstatieren, die sich mit dem heutigen Wirtschaftssystem beschäftigen. Dem Buch widerfährt leider, was es gleichzeitig beklagt: Es vereinfacht zu sehr. Doch mit dieser Kritik kann der Autor leben, wenn er keinen Anspruch auf Wahrheit, Reinheit und überzeitliche Gültigkeit geltend machen will.
Auch der Rezensent will das nicht. Vermutlich haben beide unrecht, und es ist etwas Drittes wahr oder all dies nicht - und selbst das nicht. Eindeutig bleibt in der heutigen Zeit dieser Tetralemmata wohl nur eines: Bei der Amtseinführung von Donald Trump gab es das größte Publikum, das jemals bei einer Vereidigung dabei war, sowohl vor Ort als auch weltweit. Punkt.
JOCHEN ZENTHÖFER
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Reclam, Ditzingen, 2018. 97 Seiten. 6 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hannes Hintermeier empfiehlt die Kulturkritik von Thomas Bauer als unaufgeregte, nicht belehrende Bestandsaufnahme. Film, Musik, Kunst, Literatur, Konsum, Religion, Geschlecht, Politik untersucht der Autor laut Hintermeier auf ihre Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten. Bauer beklagt die Tendenz zur Vereindeutigung, so der Rezensent, und bietet Denkanstöße, um mit den Ambiguitätspotenzialen der Gegenwart produktiv umzugehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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