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Das leidenschaftliche Engagement der Gewerkschaften und sozialistischen Parteien sowie der pazifistischen Organisationen für die europäische Einigung und ein soziales und demokratisches Europa in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist völlig in Vergessenheit geraten. Einerlei, worum es geht, um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem europäischen Kontinent, um die Schaffung von Arbeitsplätzen, um eine europäische Industriepolitik oder den Bau eines sozialen Europas, um eine Europäische Verfassung oder um Wirtschafts- und Währungspolitik - so gut wie alle Fragen,…mehr

Produktbeschreibung
Das leidenschaftliche Engagement der Gewerkschaften und sozialistischen Parteien sowie der pazifistischen Organisationen für die europäische Einigung und ein soziales und demokratisches Europa in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist völlig in Vergessenheit geraten. Einerlei, worum es geht, um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem europäischen Kontinent, um die Schaffung von Arbeitsplätzen, um eine europäische Industriepolitik oder den Bau eines sozialen Europas, um eine Europäische Verfassung oder um Wirtschafts- und Währungspolitik - so gut wie alle Fragen, die die Europäische Union heute beschäftigen, wurden schon in den 1920er Jahren lebhaft in der Arbeiteröffentlichkeit diskutiert. Die damaligen Konzepte waren oft weitgehender, umfassender und auch moderner als alles, was in der europäischen Politik heute diskutiert wird. Dieser Band legt eine verschüttete Tradition frei.
Autorenporträt
Willy Buschak, geboren 1951, hat Geschichte und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum studiert und wurde 1982 promoviert. Er hat lange Jahre in Belgien und Irland gearbeitet und ist seit 2009 im DGB-Bezirk Sachsen für Grundsatzfragen zuständig. Buschak ist ausgewiesener Experte für die Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung von der Kaiserzeit bis heute.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2014

Mehr als ein Elitenprojekt
Das vereinte Europa als Ziel der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung

Die Bewegung für ein vereintes Europa wird häufig als ein Unternehmen konservativer Kräfte, bürgerlicher Wirtschaftsführer und idealistischer Intellektueller verstanden, zu der die linke Arbeiterbewegung nur schwer Zugang gefunden habe. Willy Buschak, ein ehemals leitender Funktionär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, macht demgegenüber darauf aufmerksam, dass sich Sozialdemokraten und sozialdemokratisch orientierte Gewerkschafter schon sehr früh - seit dem späten 19. Jahrhundert - für "Vereinigte Staaten von Europa" engagierten. Zum einen sahen Theoretiker wie Richard Calwer und andere Autoren der "Sozialistischen Monatshefte" in der Abschaffung der Zollgrenzen zwischen den europäischen Staaten den Schlüssel zur Hebung wirtschaftlicher Produktivität, Besserstellung der Arbeiter und Selbstbehauptung Europas in der Konkurrenz mit der amerikanischen Wirtschaftsmacht. Zum anderen hofften pazifistisch angehauchte Sozialisten wie Otto Lehmann-Russbüldt und der junge Ernst Reuter auf einen überstaatlichen Zusammenschluss der Europäer als Alternative zum Völkermorden des Weltkriegs.

So überraschend, wie hier dargestellt, ist die Begeisterung von Sozialdemokraten für ein vereintes Europa nicht. Buschak hat nicht alles zur Kenntnis genommen, was dazu schon geschrieben wurde. Die breite Sammlung von sozialdemokratischen Stimmen für Europa, die er präsentiert, lässt den sozialdemokratischen Strang der Europa-Bewegung aber stärker erscheinen, als er bislang wahrgenommen wurde. Für den europäischen Zusammenschluss engagierten sich nicht nur so unterschiedliche Sozialdemokraten wie Georg Ledebour, Rudolf Hilferding und Rudolf Breitscheid.

Auch Sozialdemokraten der zweiten Reihe wie die Sudetendeutschen Wenzel Jaksch und Emil Franzel beschworen die Einheit der europäischen Kultur. Gewerkschaftsorgane wie die "Betriebsräte-Zeitschrift" des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes und das "Gewerkschaftsarchiv" stellten die europäische Perspektive der Arbeiterbewegung in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Ein Europa-Buch des niederländischen Generalsekretärs der Internationalen Transportarbeiterföderation Edo Fimmen erzielte hohe Auflagen und Übersetzungen in mehrere Sprachen, ebenso die Europa-Bücher des in Deutschland lebenden russischen Rationalisierungsexperten Wladimir Woytinski.

Wie diese Beispiele schon andeuten, war die Europa-Orientierung von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern keineswegs ein rein deutsches Phänomen. Buschak zitiert auch zahlreiche Stimmen aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien. Antonio Gramsci ist ihm ein Zeuge für eine europaweite linke Europa-Bewegung: "Es gibt heute ein europäisches Kulturbewusstsein", schrieb der Mitgründer der italienischen KP nach seiner Inhaftierung 1928, "und es gibt eine Reihe von Äußerungen von Intellektuellen und Politikern, welche die Notwendigkeit einer europäischen Union behaupten. Man kann auch sagen, dass der historische Prozess zu dieser Union hinstrebt."

Kurzzeitig erreichte die Bewegung sogar die Kommunistische Internationale. 1926 sprach der Komintern-Repräsentant Dimitrij Manuilski von der "Möglichkeit eines gewissen kontinentalen Blocks" auch schon vor der sozialistischen Revolution, und das französische ZK-Mitglied Albert Treint argumentierte, dass die Konkurrenz der Vereinigten Staaten von Amerika die kapitalistischen Staaten Europas geradezu zum Zusammenschluss zwinge. Mit der Verfestigung der Macht Stalins waren solche ketzerischen Leugnungen des Leninschen Dogmas von der Unmöglichkeit kapitalistischer Vereinigter Staaten von Europa aber bald wieder obsolet.

Die vielen Stimmen, die Buschak zusammenträgt, fügen sich aber nicht zu einem klar umrissenen Bild. Man erfährt, dass sich viele Sozialdemokraten und Gewerkschafter während des Weltkrieges für Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Idee begeisterten, man liest vielfach berechtigte Kritik an den vagen Paneuropa-Initiativen des Grafen Coudenhove-Kalergi und hoffnungsvolle Zustimmung zum Vertragswerk von Locarno. Wie repräsentativ die unterschiedlichen Stimmen und Akzentsetzungen für die deutsche Sozialdemokratie und die Freien Gewerkschaften waren, erfährt man jedoch kaum - und man liest auch nichts über innerparteiliche oder innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen. Erst recht bleibt die Gewichtung der Positionen in anderen Ländern im Dunkeln.

Dass sich die Arbeiterorganisationen "in Diskussionen über die Vor- und Nachteile dieses und jenes Planes verzettelten", greift als Fazit zu kurz. Weiterführend sind dagegen die Hinweise auf internationale Begegnungen von Funktionären, internationale Jugendtreffen und Arbeiter-Sportfeste, Lehrgänge und Sommerschulen, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Ferienreisen-Angebote verschiedener Arbeiterorganisationen.

Auch wenn die Teilnehmerzahlen und die Intensität dieser Begegnungen insgesamt zu gering blieben, um eine europäische Öffentlichkeit entstehen zu lassen, erschüttern diese Beobachtungen die Vorstellung, die europäische Einigung sei schon immer ein Elitenprojekt gewesen, doch sehr gründlich.

WILFRIED LOTH

Willy Buschak: Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel. Arbeiterbewegung und Europa im frühen 20. Jahrhundert. Klartext Verlag, Essen 2014. 378 S., 29,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Willy Buschak, der früher leitender Funktionär des Europäischen Gewerkschaftsbundes war, hat in seinem Buch "Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel" zu zeigen versucht, dass die Europäische Union schon lange ein sozialdemokratischer Wunsch war, also mitnichten ein bloßes Elitenprojekt, berichtet Wilfried Loth. Buschaks Sammlung von Arbeiterstimmen für Europa ist nicht einmal erschöpfend, weiß der Rezensent, und doch wird deutlich, wie viele, und vor allem: wie viele unterschiedliche Sozialdemokraten ein "europäisches Kulturbewusstsein" hatten und sich für einen Zusammenschluss aussprachen, der zukünftige Kriege vermeiden sollte, fasst Loth zusammen.

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