"Wenn alte Wahrheiten ihren Einfluß auf das Denken der Menschen behalten sollen, müssen sie von Zeit zu Zeit in der Sprache und den Begriffen der nachfolgenden Generationen neu formuliert werden." (Hayek). Dies unternimmt F. A. von Hayek in der Verfassung der Freiheit, die nunmehr in 4. Auflage als Band B 3 der deutschen Ausgabe des Hayekschen Werks ( Gesammelte Schriften) erscheint. Dieses wohl bedeutendste Werk des Nobelpreisträgers bietet im ersten Teil eine umfassende systematische Darstellung der wesentlichen Prinzipien einer freiheitlichen Sozialphilosophie - der Grundlage für die Entwicklung der europäischen Zivilisation in den letzten Jahrhunderten. Der zweite Teil befaßt sich mit der Entstehung der rechtsstaatlichen Grundsätze - der rule of law - und ihrer Bedeutung für die Sicherung der persönlichen Freiheit. Im dritten Teil zeigt Hayek, wie mit dem Aufkommen des Wohlfahrtsstaates wichtige rechtsstaatliche Prinzipien verletzt werden und damit die persönliche Freiheit zerstört zu werden droht. Dies verdeutlicht er anhand aufschlußreicher Beispiele aus den Bereichen Gewerkschaften und Beschäftigung, soziale Sicherheit, Besteuerung und Umverteilung, Landwirtschaft und Naturschätze, Erziehung und Forschung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2005Sag mir, wo der Fortschritt ist
Politiker können die Zukunft nicht vorhersagen. Fortschritt entsteht nur im Wettbewerb
VON KAREN HORN
Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) hat gerade zwei Erfolge für sich verbuchen können. Als am vergangenen Dienstag die Entscheidung fiel, daß die internationale Fusiontestanlage Iter im südfranzösischen Cadarache gebaut wird, frohlockte sie, diese Standortwahl biete Deutschland optimale Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit in der Forschung. Ähnlich erleichtert war sie, als der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder am Donnerstag der Vorwoche ihre Vereinbarung über eine gemeinsame "Exzellenzinitiative" unterzeichneten, die der Spitzenforschung an den Universitäten die Sporen geben sollen. Die beiden Projekte verschlingen erkleckliche Summen, die von den Steuerzahlern aufgebracht werden müssen. Die Kosten von Iter werden auf 10 Milliarden Euro über zehn Jahre geschätzt. Für die "Exzellenzinitiative" sind 1,9 Milliarden von 2006 bis 2011 vorgesehen.
Es gibt tatsächlich viele Argumente dafür, weshalb der Staat ein berechtigtes Interesse daran hat, solche Investitionen vorzunehmen: Die Grundlagenforschung gilt als öffentliches Gut, das privat nicht in ausreichender Menge bereitgestellt wird, die Nebenwirkungen ("externen Effekte"), die auch für die Wirtschaft von der Grundlagenforschung ausgehen, sind erheblich, und nicht zuletzt wird es zumindest im Ansatz wenig Kritik daran geben, daß der Staat den deutschen Standort auch einmal zu stärken versucht, statt ihn beständig zu schwächen. Ein gewichtiges Gegenargument indes ist kaum auszuräumen: In beiden Fällen ist es der Staat, der darüber entscheidet, welche Art von Forschung als zukunftsträchtig anzusehen ist, welche Art von Wissen in der Gesellschaft entstehen soll und was als Fortschritt für die Zivilisation zu werten ist. Woher weiß er, was Fortschritt ist? Angesichts dieser Frage ist es lohnend, noch einmal das Werk "The Constitution of Liberty" von Friedrich August von Hayek, das soeben auch in einer neuen deutschen Übersetzung erschienen ist, zur Hand zu nehmen. Im zweiten Kapitel hat der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph im Jahre 1960 beschrieben, wie Wissen und Fortschritt entstehen. Der Ausgangspunkt der Hayekschen Analyse ist ein bescheidener, ganz im Sinne Sokrates': Der einzelne Mensch weiß herzlich wenig, der Bürokrat allemal. Das Wissen der Menschheit existiert nirgendwo in gebündelter Form, schon gar nicht in irgendwelchen Behörden. Es gibt nur kleine Partikel "lokalen", dezentral verteilten Wissens, die durch wettbewerbliche Interaktion von Menschen miteinander in Berührung kommen und dabei sogar noch neues Wissen schaffen. Analog zur Arbeitsteilung gibt es somit eine "Wissensteilung".
Hayeks Wissensbegriff geht über den rein wissenschaftlichen Wissensbegriff hinaus, er umfaßt auch "weiche Faktoren" wie Gewohnheiten, Fertigkeiten, gefühlsmäßige Einstellungen, Werkzeuge und Institutionen. "Sie sind eine ebenso unentbehrliche Grundlage für erfolgreiches Handeln wie unser bewußtes Wissen", schreibt er. Dieses umfassend gedachte Wissen jedoch folgt keinen planbaren Wegen: "Die Vernunft kann nie ihre eigene Entwicklung voraussehen." Die Denkschemata derselben Menschen, die heute in Iter ein lohnendes Projekt erkennen, mögen in zehn Jahren, wenn der Reaktor in Betrieb gehen soll, durch den Fortschritt der Wissenschaft und durch die Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eines Besseren belehrt worden sein - ähnlich wie im Fall industriepolitischer Prestigeprojekte wie des Transrapid. Natürlich gibt es Fehleinschätzungen auch bei jedem privaten Projekt. Aber dann handelt es sich um individuelle, selbstverantwortete Versuche unter Einsatz des eigenen Geldes, nicht um kollektive Mammutveranstaltungen unter dem Griff in Millionen fremder Portemonnaies und unter Verdrängung anderer, konkurrierender Experimente. Und das ist nach Hayek stets das Wesentliche: daß der Wettstreit um die bessere Lösung am Leben erhalten wird. Daher ist Bescheidenheit am Platze: "Wer die richtige Kombination von Fähigkeiten und Gelegenheiten besitzt, um eine bessere Methode zu finden, ist ebensowenig voraussagbar, wie in welcher Weise oder durch welchen Prozeß verschiedene Arten von Wissen und Fertigkeiten sich vereinigen werden, so daß eine Lösung des Problems zustande kommt. Die erfolgreiche Kombination von Wissen und Fähigkeit wird nicht durch gemeinsame Erörterung von Menschen, die in gemeinsamer Bemühung eine Lösung ihrer Probleme suchen, ausgewählt; sie ist das Produkt einzelner, die jene nachahmen, die erfolgreicher gewesen sind und die geleitet werden von Zeichen oder Symbolen wie den mit ihren Erzeugnissen zu erzielenden Preisen oder den Äußerungen moralischer oder ästhetischer Wertschätzung." Fortschritt entsteht nur auf dem Markt, im Wettbewerb.
Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Neue Auflage, Mohr-Siebeck, Tübingen 2005.
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Politiker können die Zukunft nicht vorhersagen. Fortschritt entsteht nur im Wettbewerb
VON KAREN HORN
Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) hat gerade zwei Erfolge für sich verbuchen können. Als am vergangenen Dienstag die Entscheidung fiel, daß die internationale Fusiontestanlage Iter im südfranzösischen Cadarache gebaut wird, frohlockte sie, diese Standortwahl biete Deutschland optimale Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit in der Forschung. Ähnlich erleichtert war sie, als der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder am Donnerstag der Vorwoche ihre Vereinbarung über eine gemeinsame "Exzellenzinitiative" unterzeichneten, die der Spitzenforschung an den Universitäten die Sporen geben sollen. Die beiden Projekte verschlingen erkleckliche Summen, die von den Steuerzahlern aufgebracht werden müssen. Die Kosten von Iter werden auf 10 Milliarden Euro über zehn Jahre geschätzt. Für die "Exzellenzinitiative" sind 1,9 Milliarden von 2006 bis 2011 vorgesehen.
Es gibt tatsächlich viele Argumente dafür, weshalb der Staat ein berechtigtes Interesse daran hat, solche Investitionen vorzunehmen: Die Grundlagenforschung gilt als öffentliches Gut, das privat nicht in ausreichender Menge bereitgestellt wird, die Nebenwirkungen ("externen Effekte"), die auch für die Wirtschaft von der Grundlagenforschung ausgehen, sind erheblich, und nicht zuletzt wird es zumindest im Ansatz wenig Kritik daran geben, daß der Staat den deutschen Standort auch einmal zu stärken versucht, statt ihn beständig zu schwächen. Ein gewichtiges Gegenargument indes ist kaum auszuräumen: In beiden Fällen ist es der Staat, der darüber entscheidet, welche Art von Forschung als zukunftsträchtig anzusehen ist, welche Art von Wissen in der Gesellschaft entstehen soll und was als Fortschritt für die Zivilisation zu werten ist. Woher weiß er, was Fortschritt ist? Angesichts dieser Frage ist es lohnend, noch einmal das Werk "The Constitution of Liberty" von Friedrich August von Hayek, das soeben auch in einer neuen deutschen Übersetzung erschienen ist, zur Hand zu nehmen. Im zweiten Kapitel hat der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph im Jahre 1960 beschrieben, wie Wissen und Fortschritt entstehen. Der Ausgangspunkt der Hayekschen Analyse ist ein bescheidener, ganz im Sinne Sokrates': Der einzelne Mensch weiß herzlich wenig, der Bürokrat allemal. Das Wissen der Menschheit existiert nirgendwo in gebündelter Form, schon gar nicht in irgendwelchen Behörden. Es gibt nur kleine Partikel "lokalen", dezentral verteilten Wissens, die durch wettbewerbliche Interaktion von Menschen miteinander in Berührung kommen und dabei sogar noch neues Wissen schaffen. Analog zur Arbeitsteilung gibt es somit eine "Wissensteilung".
Hayeks Wissensbegriff geht über den rein wissenschaftlichen Wissensbegriff hinaus, er umfaßt auch "weiche Faktoren" wie Gewohnheiten, Fertigkeiten, gefühlsmäßige Einstellungen, Werkzeuge und Institutionen. "Sie sind eine ebenso unentbehrliche Grundlage für erfolgreiches Handeln wie unser bewußtes Wissen", schreibt er. Dieses umfassend gedachte Wissen jedoch folgt keinen planbaren Wegen: "Die Vernunft kann nie ihre eigene Entwicklung voraussehen." Die Denkschemata derselben Menschen, die heute in Iter ein lohnendes Projekt erkennen, mögen in zehn Jahren, wenn der Reaktor in Betrieb gehen soll, durch den Fortschritt der Wissenschaft und durch die Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eines Besseren belehrt worden sein - ähnlich wie im Fall industriepolitischer Prestigeprojekte wie des Transrapid. Natürlich gibt es Fehleinschätzungen auch bei jedem privaten Projekt. Aber dann handelt es sich um individuelle, selbstverantwortete Versuche unter Einsatz des eigenen Geldes, nicht um kollektive Mammutveranstaltungen unter dem Griff in Millionen fremder Portemonnaies und unter Verdrängung anderer, konkurrierender Experimente. Und das ist nach Hayek stets das Wesentliche: daß der Wettstreit um die bessere Lösung am Leben erhalten wird. Daher ist Bescheidenheit am Platze: "Wer die richtige Kombination von Fähigkeiten und Gelegenheiten besitzt, um eine bessere Methode zu finden, ist ebensowenig voraussagbar, wie in welcher Weise oder durch welchen Prozeß verschiedene Arten von Wissen und Fertigkeiten sich vereinigen werden, so daß eine Lösung des Problems zustande kommt. Die erfolgreiche Kombination von Wissen und Fähigkeit wird nicht durch gemeinsame Erörterung von Menschen, die in gemeinsamer Bemühung eine Lösung ihrer Probleme suchen, ausgewählt; sie ist das Produkt einzelner, die jene nachahmen, die erfolgreicher gewesen sind und die geleitet werden von Zeichen oder Symbolen wie den mit ihren Erzeugnissen zu erzielenden Preisen oder den Äußerungen moralischer oder ästhetischer Wertschätzung." Fortschritt entsteht nur auf dem Markt, im Wettbewerb.
Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Neue Auflage, Mohr-Siebeck, Tübingen 2005.
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