Im Zentrum des Buches steht das schwierige Verhältnis von Politik und Verfassung. Aus Anlaß konkreter Störfälle der jüngsten Zeit - Verfassungsänderungen, die das Grundgesetz verschlechtern statt zu verbessern; politische Handlungsformen, die Grundprinzipien der Verfassung zu entwerten drohen; versäumte Verfassungsänderungen zur Auflösung von Politblockaden; abnehmende Wertschätzung der Freiheitsrechte - wird gezeigt, wie politische Kurzfristinteressen verfassungsrechtliche Langzeitschäden anrichten, die am Ende auf die Legitimität der Politik selber zurückschlagen. Das Grundgesetz ist eine der erfolgreichen Verfassungen der Welt, das Bundesverfassungsgericht ein weit über die deutschen Grenzen hinaus bewunderter Garant von Rechtsstaat, Demokratie und Grund-rechten. Verschiedene Entwicklungen der jüngsten Zeit geben jedoch Grund zur Sorge. Dieter Grimm setzt sich mit den Gefahren auseinander, die der Verfassung durch die wachsende Selbstbezüglichkeit der Politik und die damiteinhergehende Orientierung am Kurzfristnutzen für die Parteien drohen. "Wie man eine Verfassung verderben kann" ist daher auch der Titel eines der Beiträge seines Buches. Ein weiterer Abschnitt geht der Frage nach, ob auch Europa eine Verfassung braucht. Für einen europäischen Verfassungsstaat, so Dieter Grimms These, ist die Zeit heute noch nicht reif - was nicht heißt, daß die Institutionen und Verfahren nicht schon jetzt im Rahmen der Verträge verbessert werden könnten. Die Essays sind ebenso grundsätzlich wie aktuell. Sie gehen nicht nur Juristen, sondern jeden politisch interessierten Leser an. Die Artikel über Parteiverbote und über die Frage, wieviel Toleranz das Grundgesetz gegenüber fremder Lebensart verlangt, sind Beispiele für die aktuelle Bedeutung des Buches.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2001Jubeln Sie dem Grundgesetz doch einfach mal zu!
Pflichtlektüre für Staatsbürger: Dieter Grimm kritisiert die Politik der Republik und schont ihre Richter
Was eigentlich geschehen würde, wenn Regierung oder Parlament einmal auf den dummen Gedanken kommen sollten, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ignorieren, ist nicht leicht zu sagen. Natürlich würde aus der Mißachtung des Gerichts eine tiefe Staatskrise erwachsen. Wie sie aber zu lösen wäre, ist einigermaßen ungewiß. So ungewiß, wie Antworten auf abstrakte Fragen eben sind, die keinen Bezug zur Wirklichkeit haben. Glücklicherweise nämlich ist der Bundesrepublik bislang jede dramatische Zuspitzung der Verfassungslage erspart geblieben. Adenauer hat zwar gelegentlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts öffentlich als "falsch" bezeichnet. Er hat sich aber gehütet, es zu übergehen. Der selbstverständliche Respekt, mit dem alle Staatsorgane der Verfassung und dem Verfassungsgericht begegnen, ist vielleicht der deutlichste Ausweis des Erfolges jener deutschen Verfassung, die sich so bescheiden "Grundgesetz" nennt. Wie genau dieser Erfolg zustande gekommen ist, auch das ist schwer zu erklären. Die relative Beschaulichkeit der fünfzig deutschen Nachkriegsjahre, die ökonomische Prosperität, die polititsche Stabilität - all das wurde von der Verfassung ermöglicht und beschirmt, trug aber umgekehrt wohl auch zu ihrer erstaunlichen Blüte bei.
So vielfältig die Faktoren des Erfolges sind, so unübersichtlich sind die Gefahren, die ihn bedrohen. Mag die Verfassung derzeit auch unangefochten und populär sein: die in langen Jahren gewachsene Stabilität ist nicht notwendig von Dauer, die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes nicht unbedingt ein Fortsetzungsroman. Was erreicht worden ist, muß gepflegt und den sich permanent wandelnden Verhältnissen angepaßt werden. Dazu gehört es fast unausweichlich, neue Probleme möglichst frühzeitig zu erkennen, Erosionsprozessen vorzubeugen, ehe sie die Fundamente der Verfassung unterhöhlen. In seiner jetzt publizierten Aufsatzsammlung "Die Verfassung und die Politik" betreibt Dieter Grimm, ehedem Richter am Bundesverfassungsgericht, seit Dienstag Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, eben das: Wie mit einem sehr sensiblen Instrument untersucht er die Verfassung der Republik, um Mißbildungen aufzufinden und Therapievorschläge zu machen. Und Grimm wird fündig.
Er scheut sich nicht, Unerfreuliches auszusprechen. Europa sei - mangels einer gemeinsamen Sprache und einer europäischen Öffentlichkeit - nicht reif für eine Verfassung. Der real existierende Föderalismus der Bundesrepublik habe sich, durchaus anders als von den Verfassungsautoren intendiert, "in ein bundespolitisches Blockadeinstrument" verwandelt, das die allgemeine "Politikunlust" befördere. Überfrachtete Verfassungsvorschriften wie der ins Absurde novellierte Asylartikel drohten das Grundgesetz zu "verderben". Und zu den Toleranzgrenzen der Verfassung schreibt Grimm, nach den Anschlägen in Amerika beklemmend aktuell, die Gesellschaft sei nicht gezwungen, zur Anerkennung fremder kultureller Identität die eigene aufzugeben: "Nicht alle Kulturkonflikte lassen sich harmonisch lösen." Was sich dieser Tage beinahe bellizistisch liest, ist so drastisch allerdings gar nicht gemeint. Gelegentlich bleibe nur die "Alternative von Anpassung oder Wegzug", zivilisiert Grimm das dramatisch Klingende sogleich wieder.
Da seine Aufsatzsammlung den Untertitel "Einsprüche in Störfällen" trägt, finden sich auch Bemerkungen zu den Deformationen des Parteienstaats, dessen Wucherungen alle Gewaltenteilungsregeln auszuhebeln drohen. Auf diese Deformationen reagiert Grimm aber nicht mit Appellen an die Moral. Seine Hoffnung gilt nicht der höheren Einsicht der Politik, sondern dem Procedere. Er will die auf Machterwerb und Machterhalt spezialisierten Akteure nicht zu besseren Menschen machen, er will die Verfahren verbessern. Daß Grimm als Gegengewicht zur Übermacht der Parteien beispielsweise die Einführung plebiszitärer Elemente in die Verfassung mindestens bedenkenswert findet, ihnen jedenfalls nicht mit der tiefsitzenden Skepsis der deutschen Staatsrechtslehre begegnet, ist bekannt. Er hat gelegentlich vorgeschlagen, künftig alle Verfassungsänderungen dem Souverän zur Entscheidung vorzulegen. Und er bedauert es bis heute, daß nach der Vereinigung die Chance vertan wurde, ein überarbeitetes Grundgesetz mittels einer Volksabstimmung auch im Osten der Republik in die Köpfe, vielleicht gar in die Herzen der Menschen einzusenken. "Für eine auf Integration der beiden Landesteile angewiesene Gesellschaft", so Grimm, sei dieses Versäumnis "eine schwere Hypothek."
Bedrohlicher noch als diese Belastung, die fast schon wieder hinter dem Grauschleier der neuesten Rechtsgeschichte verschwunden ist, erscheint in Grimms Darstellung eine andere Entwicklung, die das herkömmliche Staatsverständnis grundstürzend verändern könnte. Warnend spricht Grimm von einer Schwächung der Verfassung, von ihrer "Entwertung", die nicht von äußeren Mächten drohe, sondern von innen. Die Bedrohung erwachse aus der tiefgreifenden Veränderung der Staatsaufgaben und der Instrumente zu ihrer Bewältigung. Statt, wie einst vorgesehen, eine stabile gesellschaftliche Ordnung stabil zu halten, Gefahren abzuwehren und vorhandene Freiheitsräume zu schützen, also retrospektiv, punktuell und individuell zu wirken, sucht der moderne Sozialstaat vorausschauend, planend und lenkend zu agieren. Er bemüht sich, so Grimm, Störungen vorzubeugen, Freiheitsräume überhaupt erst zu schaffen, kurz, er ist von der Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung zu deren aktiver Gestaltung übergegangen. Diese nie umstrittene und mittlerweile ganz selbstverständliche Aufgabenverschiebung hat nun allerdings erhebliche Folgen.
Sie führt zunächst zu einem explosiven Wachstum der Staatsaufgaben - Bildungsplanung, Konjunktursteuerung, Risikovorsorge im Umweltbereich: Nichts ist seinem Zugriff mehr fremd. Mit dieser Ausweitung geht Grimm zufolge aber fast notwendig ein Verlust an Durchsetzungskraft einher. Nicht so sehr, weil der Staat in seiner immensen Anstrengung, alles zum Guten zu regeln, seine Kräfte überspannt. Er kann vielmehr keine klaren Gebote oder Verbote mehr erlassen, sondern muß sich darauf beschränken, Ziele zu beschreiben und Vorschläge zu deren Erreichung zu machen: Schließlich läßt sich ein Konjunkturaufschwung nicht verordnen. Das Gesetz wandelt sich vom "klassischen Konditionalprogramm" zum "Finalprogramm" mit der Folge, daß viele Entscheidungen dem Ermessen der Verwaltung überlassen bleiben, was zu einer Einbuße an gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten führt.
Eine weitere Folge des unbekümmerten Ausgriffs in nahezu alle Lebensbereiche ist für Grimm die Entstehung neuer Abhängigkeiten. Der Staat, der sich recht eigentlich durch seine unumschränkte Macht auszeichnet, "wird bei der Verfolgung des Gemeinwohls von der Folgebereitschaft partikularer Interessen abhängig", die für ihre Zustimmung "staatliche Konzessionen" fordern können - und dies auch unbekümmert tun. Anders gesagt: Der Staat verfügt nicht mehr über alle Ressourcen, die er braucht, um seine Ziele zu erreichen, und muß sich daher auf Verhandlungen mit mächtigen Interessengruppen einlassen. Daß dies beileibe kein theoretisches Problem ist, hat der sogenannte Atomkonsens abschreckend deutlich gemacht. Grimm spricht plastisch vom "paktierenden Staat", den er voller Skepsis betrachtet, weil er die Demokratiedefizite all der Bündnisse sieht, in denen abseits der vorgeschriebenen Prozeduren Entscheidungen von Delegationen gefällt werden, die sich nie in Wahlen für ihr Handeln legitimieren müssen.
Wie diesen Entwicklungen zu begegnen ist, wie die neuen Probleme verfassungsrechtlich eingehegt werden könnten, vermag auch Grimm nicht zu sagen. Immerhin aber wendet er sie souverän hin und her, beleuchtet seine Gegenstände aus unterschiedlichen Perspektiven, kennt und erwähnt die Einwände, um sie meist überzeugend zu widerlegen. Er findet dabei klare, entschiedene, teils brillante Formulierungen, die sich nicht nur an den Fachkollegen wenden, sondern mehr noch an den Souverän, den Wähler. Grimms Buch ist so etwas wie eine Pflichtlektüre für Staatsbürger.
Und doch: Zweierlei vermißt man. Leider verliert Grimm kein Wort zu der vielfach kritisierten, neuerdings offenbar wachsenden Neigung des Karlsruher Gerichts, nicht nur Verfassungsverstöße zu korrigieren, sondern der Legislative penibel genaue Vorgaben für die Gesetzgebung zu machen. Diese von keiner richterlichen Zurückhaltung mehr gebremste, bisweilen freilich von Parlament und Regierung geradezu provozierte Anmaßung - besonders augenfällig in der Rechtsprechung zur Vermögenssteuer - fällt genau in das Spannungsfeld von Verfassung und Politik, das Grimm in seinen Aufsätzen immer wieder umkreist und durchwandert. Warum er ausgerechnet vor der heiklen Frage der Selbstüberhöhung Karlsruhes zum Reservegesetzgeber oder, wie gelegentlich formuliert wurde, zur "Richtlinieninstanz für die Gesetzgebung" haltmacht, läßt sich kaum verstehen. Sein Schweigen ist um so ärgerlicher, als ein differenziert argumentierender Autor wie Grimm gewiß auch zum Streit um die Kompetenzausdehnung Karlsruhes Erhellendes hätte beitragen können. Da er es aber versäumt, die Regelungswut zu erklären, die seine Kollegen gelegentlich befällt, schleicht sich der Verdacht ein, hier habe ein ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts die eigene Institution, auf die er mit so großem Recht so stolz ist, nicht mit derselben unerbittlichen Schärfe in den Blick genommen wie die Politik.
Der zweite Mangel ist leichter zu ertragen, bleibt aber bedauerlich. Es ist die völlige Abwesenheit von Pathos. Selbst in den Artikeln für Festschriften und in seinen Jubiläumsvorträgen verbietet sich Grimm jeden hohen Ton. Gewiß, er bescheinigt dem Grundgesetz "breite Wertschätzung" sowie eine tiefe Verwurzelung im öffentlichen Bewußtsein und stellt - beinahe staunend - fest, die Verfassung sei, jedenfalls in der alten Bundesrepublik, in Ermangelung nationaler Anknüpfungspunkte ein "Nationsersatz" geworden. Zu Begeisterungsstürmen vermag das Grimm jedoch nicht hinzureißen. Sogar sein Beitrag zum fünfzigsten Geburtstag des Grundgesetzes, der das Buch als "Bilanz" und Ausblick beschließt, ist eher von der Sorge um künftige Gefährdungen der Verfassung geprägt als von Befriedigung über das Vollbrachte. Das Äußerste, das Grimm sich abzuringen vermag, ist die Feststellung, beim Grundgesetz handele es sich um eine "relevante" Verfassung, um eine also, die "Beachtung" findet.
Diese Nüchternheit erwächst wohl aus der historischen Erfahrung, daß auch eine "gute" Konstitution wie die Weimarer Reichsverfassung tragisch scheitern kann, und sie wird von dem Wissen um das Fragile jener Voraussetzungen bestärkt, die jede Verfassung zu ihrem Gelingen braucht, ohne sie selbst garantieren zu können. Und doch wünschte man sich, daß Grimm die Zuneigung, ja spröde Liebe zum Grundgesetz, die all seinen Aufsätzen unterlegt ist, auch einmal in halbwegs überschwengliche Worte fassen würde. Eine derart geglückte und glückliche Verfassung wie das Grundgesetz hätte eine solche Lobpreisung mitunter verdient.
HEINRICH WEFING
Dieter Grimm: "Die Verfassung und die Politik". Einsprüche in Störfällen. Verlag C.H. Beck, München 2001. 336 S., br., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pflichtlektüre für Staatsbürger: Dieter Grimm kritisiert die Politik der Republik und schont ihre Richter
Was eigentlich geschehen würde, wenn Regierung oder Parlament einmal auf den dummen Gedanken kommen sollten, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ignorieren, ist nicht leicht zu sagen. Natürlich würde aus der Mißachtung des Gerichts eine tiefe Staatskrise erwachsen. Wie sie aber zu lösen wäre, ist einigermaßen ungewiß. So ungewiß, wie Antworten auf abstrakte Fragen eben sind, die keinen Bezug zur Wirklichkeit haben. Glücklicherweise nämlich ist der Bundesrepublik bislang jede dramatische Zuspitzung der Verfassungslage erspart geblieben. Adenauer hat zwar gelegentlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts öffentlich als "falsch" bezeichnet. Er hat sich aber gehütet, es zu übergehen. Der selbstverständliche Respekt, mit dem alle Staatsorgane der Verfassung und dem Verfassungsgericht begegnen, ist vielleicht der deutlichste Ausweis des Erfolges jener deutschen Verfassung, die sich so bescheiden "Grundgesetz" nennt. Wie genau dieser Erfolg zustande gekommen ist, auch das ist schwer zu erklären. Die relative Beschaulichkeit der fünfzig deutschen Nachkriegsjahre, die ökonomische Prosperität, die polititsche Stabilität - all das wurde von der Verfassung ermöglicht und beschirmt, trug aber umgekehrt wohl auch zu ihrer erstaunlichen Blüte bei.
So vielfältig die Faktoren des Erfolges sind, so unübersichtlich sind die Gefahren, die ihn bedrohen. Mag die Verfassung derzeit auch unangefochten und populär sein: die in langen Jahren gewachsene Stabilität ist nicht notwendig von Dauer, die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes nicht unbedingt ein Fortsetzungsroman. Was erreicht worden ist, muß gepflegt und den sich permanent wandelnden Verhältnissen angepaßt werden. Dazu gehört es fast unausweichlich, neue Probleme möglichst frühzeitig zu erkennen, Erosionsprozessen vorzubeugen, ehe sie die Fundamente der Verfassung unterhöhlen. In seiner jetzt publizierten Aufsatzsammlung "Die Verfassung und die Politik" betreibt Dieter Grimm, ehedem Richter am Bundesverfassungsgericht, seit Dienstag Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, eben das: Wie mit einem sehr sensiblen Instrument untersucht er die Verfassung der Republik, um Mißbildungen aufzufinden und Therapievorschläge zu machen. Und Grimm wird fündig.
Er scheut sich nicht, Unerfreuliches auszusprechen. Europa sei - mangels einer gemeinsamen Sprache und einer europäischen Öffentlichkeit - nicht reif für eine Verfassung. Der real existierende Föderalismus der Bundesrepublik habe sich, durchaus anders als von den Verfassungsautoren intendiert, "in ein bundespolitisches Blockadeinstrument" verwandelt, das die allgemeine "Politikunlust" befördere. Überfrachtete Verfassungsvorschriften wie der ins Absurde novellierte Asylartikel drohten das Grundgesetz zu "verderben". Und zu den Toleranzgrenzen der Verfassung schreibt Grimm, nach den Anschlägen in Amerika beklemmend aktuell, die Gesellschaft sei nicht gezwungen, zur Anerkennung fremder kultureller Identität die eigene aufzugeben: "Nicht alle Kulturkonflikte lassen sich harmonisch lösen." Was sich dieser Tage beinahe bellizistisch liest, ist so drastisch allerdings gar nicht gemeint. Gelegentlich bleibe nur die "Alternative von Anpassung oder Wegzug", zivilisiert Grimm das dramatisch Klingende sogleich wieder.
Da seine Aufsatzsammlung den Untertitel "Einsprüche in Störfällen" trägt, finden sich auch Bemerkungen zu den Deformationen des Parteienstaats, dessen Wucherungen alle Gewaltenteilungsregeln auszuhebeln drohen. Auf diese Deformationen reagiert Grimm aber nicht mit Appellen an die Moral. Seine Hoffnung gilt nicht der höheren Einsicht der Politik, sondern dem Procedere. Er will die auf Machterwerb und Machterhalt spezialisierten Akteure nicht zu besseren Menschen machen, er will die Verfahren verbessern. Daß Grimm als Gegengewicht zur Übermacht der Parteien beispielsweise die Einführung plebiszitärer Elemente in die Verfassung mindestens bedenkenswert findet, ihnen jedenfalls nicht mit der tiefsitzenden Skepsis der deutschen Staatsrechtslehre begegnet, ist bekannt. Er hat gelegentlich vorgeschlagen, künftig alle Verfassungsänderungen dem Souverän zur Entscheidung vorzulegen. Und er bedauert es bis heute, daß nach der Vereinigung die Chance vertan wurde, ein überarbeitetes Grundgesetz mittels einer Volksabstimmung auch im Osten der Republik in die Köpfe, vielleicht gar in die Herzen der Menschen einzusenken. "Für eine auf Integration der beiden Landesteile angewiesene Gesellschaft", so Grimm, sei dieses Versäumnis "eine schwere Hypothek."
Bedrohlicher noch als diese Belastung, die fast schon wieder hinter dem Grauschleier der neuesten Rechtsgeschichte verschwunden ist, erscheint in Grimms Darstellung eine andere Entwicklung, die das herkömmliche Staatsverständnis grundstürzend verändern könnte. Warnend spricht Grimm von einer Schwächung der Verfassung, von ihrer "Entwertung", die nicht von äußeren Mächten drohe, sondern von innen. Die Bedrohung erwachse aus der tiefgreifenden Veränderung der Staatsaufgaben und der Instrumente zu ihrer Bewältigung. Statt, wie einst vorgesehen, eine stabile gesellschaftliche Ordnung stabil zu halten, Gefahren abzuwehren und vorhandene Freiheitsräume zu schützen, also retrospektiv, punktuell und individuell zu wirken, sucht der moderne Sozialstaat vorausschauend, planend und lenkend zu agieren. Er bemüht sich, so Grimm, Störungen vorzubeugen, Freiheitsräume überhaupt erst zu schaffen, kurz, er ist von der Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung zu deren aktiver Gestaltung übergegangen. Diese nie umstrittene und mittlerweile ganz selbstverständliche Aufgabenverschiebung hat nun allerdings erhebliche Folgen.
Sie führt zunächst zu einem explosiven Wachstum der Staatsaufgaben - Bildungsplanung, Konjunktursteuerung, Risikovorsorge im Umweltbereich: Nichts ist seinem Zugriff mehr fremd. Mit dieser Ausweitung geht Grimm zufolge aber fast notwendig ein Verlust an Durchsetzungskraft einher. Nicht so sehr, weil der Staat in seiner immensen Anstrengung, alles zum Guten zu regeln, seine Kräfte überspannt. Er kann vielmehr keine klaren Gebote oder Verbote mehr erlassen, sondern muß sich darauf beschränken, Ziele zu beschreiben und Vorschläge zu deren Erreichung zu machen: Schließlich läßt sich ein Konjunkturaufschwung nicht verordnen. Das Gesetz wandelt sich vom "klassischen Konditionalprogramm" zum "Finalprogramm" mit der Folge, daß viele Entscheidungen dem Ermessen der Verwaltung überlassen bleiben, was zu einer Einbuße an gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten führt.
Eine weitere Folge des unbekümmerten Ausgriffs in nahezu alle Lebensbereiche ist für Grimm die Entstehung neuer Abhängigkeiten. Der Staat, der sich recht eigentlich durch seine unumschränkte Macht auszeichnet, "wird bei der Verfolgung des Gemeinwohls von der Folgebereitschaft partikularer Interessen abhängig", die für ihre Zustimmung "staatliche Konzessionen" fordern können - und dies auch unbekümmert tun. Anders gesagt: Der Staat verfügt nicht mehr über alle Ressourcen, die er braucht, um seine Ziele zu erreichen, und muß sich daher auf Verhandlungen mit mächtigen Interessengruppen einlassen. Daß dies beileibe kein theoretisches Problem ist, hat der sogenannte Atomkonsens abschreckend deutlich gemacht. Grimm spricht plastisch vom "paktierenden Staat", den er voller Skepsis betrachtet, weil er die Demokratiedefizite all der Bündnisse sieht, in denen abseits der vorgeschriebenen Prozeduren Entscheidungen von Delegationen gefällt werden, die sich nie in Wahlen für ihr Handeln legitimieren müssen.
Wie diesen Entwicklungen zu begegnen ist, wie die neuen Probleme verfassungsrechtlich eingehegt werden könnten, vermag auch Grimm nicht zu sagen. Immerhin aber wendet er sie souverän hin und her, beleuchtet seine Gegenstände aus unterschiedlichen Perspektiven, kennt und erwähnt die Einwände, um sie meist überzeugend zu widerlegen. Er findet dabei klare, entschiedene, teils brillante Formulierungen, die sich nicht nur an den Fachkollegen wenden, sondern mehr noch an den Souverän, den Wähler. Grimms Buch ist so etwas wie eine Pflichtlektüre für Staatsbürger.
Und doch: Zweierlei vermißt man. Leider verliert Grimm kein Wort zu der vielfach kritisierten, neuerdings offenbar wachsenden Neigung des Karlsruher Gerichts, nicht nur Verfassungsverstöße zu korrigieren, sondern der Legislative penibel genaue Vorgaben für die Gesetzgebung zu machen. Diese von keiner richterlichen Zurückhaltung mehr gebremste, bisweilen freilich von Parlament und Regierung geradezu provozierte Anmaßung - besonders augenfällig in der Rechtsprechung zur Vermögenssteuer - fällt genau in das Spannungsfeld von Verfassung und Politik, das Grimm in seinen Aufsätzen immer wieder umkreist und durchwandert. Warum er ausgerechnet vor der heiklen Frage der Selbstüberhöhung Karlsruhes zum Reservegesetzgeber oder, wie gelegentlich formuliert wurde, zur "Richtlinieninstanz für die Gesetzgebung" haltmacht, läßt sich kaum verstehen. Sein Schweigen ist um so ärgerlicher, als ein differenziert argumentierender Autor wie Grimm gewiß auch zum Streit um die Kompetenzausdehnung Karlsruhes Erhellendes hätte beitragen können. Da er es aber versäumt, die Regelungswut zu erklären, die seine Kollegen gelegentlich befällt, schleicht sich der Verdacht ein, hier habe ein ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts die eigene Institution, auf die er mit so großem Recht so stolz ist, nicht mit derselben unerbittlichen Schärfe in den Blick genommen wie die Politik.
Der zweite Mangel ist leichter zu ertragen, bleibt aber bedauerlich. Es ist die völlige Abwesenheit von Pathos. Selbst in den Artikeln für Festschriften und in seinen Jubiläumsvorträgen verbietet sich Grimm jeden hohen Ton. Gewiß, er bescheinigt dem Grundgesetz "breite Wertschätzung" sowie eine tiefe Verwurzelung im öffentlichen Bewußtsein und stellt - beinahe staunend - fest, die Verfassung sei, jedenfalls in der alten Bundesrepublik, in Ermangelung nationaler Anknüpfungspunkte ein "Nationsersatz" geworden. Zu Begeisterungsstürmen vermag das Grimm jedoch nicht hinzureißen. Sogar sein Beitrag zum fünfzigsten Geburtstag des Grundgesetzes, der das Buch als "Bilanz" und Ausblick beschließt, ist eher von der Sorge um künftige Gefährdungen der Verfassung geprägt als von Befriedigung über das Vollbrachte. Das Äußerste, das Grimm sich abzuringen vermag, ist die Feststellung, beim Grundgesetz handele es sich um eine "relevante" Verfassung, um eine also, die "Beachtung" findet.
Diese Nüchternheit erwächst wohl aus der historischen Erfahrung, daß auch eine "gute" Konstitution wie die Weimarer Reichsverfassung tragisch scheitern kann, und sie wird von dem Wissen um das Fragile jener Voraussetzungen bestärkt, die jede Verfassung zu ihrem Gelingen braucht, ohne sie selbst garantieren zu können. Und doch wünschte man sich, daß Grimm die Zuneigung, ja spröde Liebe zum Grundgesetz, die all seinen Aufsätzen unterlegt ist, auch einmal in halbwegs überschwengliche Worte fassen würde. Eine derart geglückte und glückliche Verfassung wie das Grundgesetz hätte eine solche Lobpreisung mitunter verdient.
HEINRICH WEFING
Dieter Grimm: "Die Verfassung und die Politik". Einsprüche in Störfällen. Verlag C.H. Beck, München 2001. 336 S., br., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2001Hausmeister im Haus der Verfassung
Dieter Grimms glänzende Analysen zum Zustand von Staat und Gesellschaft erscheinen pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts
DIETER GRIMM: Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, C. H. Beck Verlag, München 2001. 250 Seiten, 38 Mark.
Es war einmal. Es war einmal ein Haus, das seinen Bewohnern sehr ans Herz gewachsen war: das Dach war dicht, seine Mauern waren stabil, es war klug geplant und zweckmäßig eingeteilt – man konnte gut, gesund und glücklich darin leben. Eigentlich war das Haus einst als Notunterkunft gebaut worden. Aber als die Not vorbei gegangen war, merkten seine Bewohner, dass ihr Haus mehr war als nur ein Provisorium, dass es ganz besondere Qualitäten hatte. Sie begannen es zu lieben, fast so, wie man einen lieben Menschen liebt – und es war für sie das schönste Haus der Haus der Welt.
Als sie 41 Jahre darin gelebt hatten, ergab es sich, dass das Haus noch sehr viel mehr Bewohner als bisher aufnehmen musste; die Behausung der Nachbarn war nämlich zusammengebrochen. Aus diesem Anlass entschied man sich für eine gründliche Sanierung: Das alte Haus sollte vergrößert, seine Statik sollte verbessert und auch eine neue tragende Wand sollte eingebaut werden. Doch schon die Planungen liefen nicht so, wie sie laufen sollten: Die Architekten kümmerten sich nicht um die Bedürfnisse der neuen Bewohner, und auch die vielen Vorschläge derer, die im alten Haus aufgewachsen waren, interessierten sie kaum. In der Baufirma herrschte Missgunst und Streit, die Handwerker sabotierten sich gegenseitig. Deshalb wurde aus den großen Umbau- und Sanierungsplänen nichts Gescheites. Um so zu tun, als sei doch etwas getan worden, hängte die Baufirma nach dem Ablauf der vorgesehenen Bauzeit ein paar Blumenkästen vor die Fenster und verkündete dabei, dass man das Haus gründlichst untersucht habe. Es sei in so hervorragendem Zustand, dass man gar nichts zu ändern brauche, im Gegenteil: Es müsse alles so bleiben, wie es ist. Dieselben freilich, die so gesprochen hatten, begannen wenig später, planlos einmal hier und einmal dort herumzuwerkeln: Hier wurde ein Zimmer verkleinert, da eine Treppe herausgerissen, dort Türen zugemauert oder Fenster ins Mauerwerk gebrochen. Und die Liebe der Menschen zu ihrem Haus begann allmählich zu bröckeln, und der bisher so pflegliche Umgang mit ihrem Haus ließ nach...
Es war einmal. Dieses Hausmärchen über das Haus der deutschen Verfassung findet sich nicht in der Sammlung der Brüder Grimm. Das Haus der Verfassung ist Gegenstand einer schönen Aufsatzsammlung von einem, der darin zwölf Jahre lang eine Art Hausmeister war: Dieter Grimm, Bundesverfassungsrichter von 1987 bis 1999, hat seine Essays aus der Zeit seit der Wende publiziert. Es handelt sich um ein eindrucksvolles, spannendes Bekenntnis zu einer leidenschaftlichen Beziehung: Dieter Grimm, Radikal- Demokrat, Ordinarius an der Humboldt-Universtität, Gastprofessor in Yale und New York, neuer Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, liebt das Grundgesetz.
Grimm nennt es eine „glückliche Verfassung'. In einer langen Phase kontinuierlich wachsenden Wohlstandes habe es „tiefe Wurzeln' in der Bevölkerung geschlagen, sei zu einem „wichtigen Integrationsfaktor geworden', ja zu einem „Nationsersatz' . 1989, bei seinem vierzigsten Jubiläum, stand das Grundgesetz wohl auf der Höhe seines Ansehens. Dann aber beginnt eine Entwicklung, die Grimm zu Recht mit großer Sorge erfüllt und die er penibel analysiert: Die neue, wiedervereinigte Republik, so Grimm, verspiele das, was die alte ausgezeichnet und ihren Erfolg mitbegründet habe: Die Hochschätzung der Verfassung. Grimm, ein großer Freund von stärkerer Bürgerbeteiligung an der politischen Willensbildung, hat seinerzeit vergeblich dafür geworben, das Grundgesetz dem wiedervereinigten Deutschland zur Abstimmung vorzulegen. Es sei „unzuträglich”, den Weg der Konstituierung eines geeinten Staates am Volk vorbeizuleiten. Dass Verfassungen vom Volk beschlossen werden, gehöre schließlich seit zweihundert Jahren zum demokratischen Gemeingut. Die ostdeutsche Bevölkerung, so konstatiert er, sei infolgedessen weithin verfassungsindifferent geblieben. Als Kristallisationskern für kollektive Identität werde das Grundgesetz jetzt weniger benötigt als früher, und der Patriotismus sei nicht mehr auf es angewiesen. Das zeige sich am Umgang mit dem Grundgesetz seit der Wende: Mit tiefer Skepsis blickt der Verfassungsjurist Grimm auf die seitdem vorgenommenen leichtfertigen Grundrechtsänderungen .
Dieter Grimms Liebe zum Grundgesetz hat ihm Feinde gemacht – weil er, als Verfechter des Grundrechts auf Meinungsfreiheit, für die „Soldaten sind Mörder”-Entscheidung und für den von Kirchen und CDU/CSU heftig bekämpften Kruzifix-Beschluss verantwortlich gemacht wurde. Die wenigsten der Kritiker, die in ihm den Antichristen von Karlsruhe sahen, wussten, dass es sich bei diesem Dieter Grimm um einen Katholiken und früheren Stipendiaten der Bischöflichen Studienstiftung Cusanuswerk handelt. Dieser Dieter Grimm hat das Werk des Staats- und Verfassungsrechtlers Konrad Hesse konsequent weitergeführt, er ging in den Spuren von Hesse und dessen Vorgänger Theodor Rittersbach. Nicht immer freilich schreibt und agiert Grimm zum Vergnügen des links-liberalen Lagers: Weil er Kommunikation als Bedingung einer Demokratie versteht, wendet er sich gegen die Entwicklung der Europäischen Union zum Staat. Der notwendige politische Diskurs sei mangels gemeinsamer Sprache (noch?) nicht möglich.
Die Verfassung und die Politik: Wer sich um die Zukunft der deutschen Verfassung sorgt, wer wissen will, wo Gefahren für die parlamentarische Demokratie lauern und wie man ihnen begegnen könnte – der lese dieses gescheite Buch. Der nehme auch die Redundanzen in Kauf, die Wiederkehr von Analysen und Argumentationen in mehreren Aufsätzen; das Buch hätte nicht zuletzt deswegen ein gründlicheres Lektorat verdient und jeweils eine kurze Einführung der Aufsätze in den zeitlichen Kontext, in dem die Aufsätze entstanden sind. Gleichwohl: Es entfaltet sich der Kosmos des Grundrechts- und Verfassungsdenkens eines Gelehrten, der 1989 als Verfassungsrichter erstmals mit einem Sondervotum auffiel, das mit dem Satz begann: „Das Reiten im Walde genießt keinen Grundrechtsschutz.” Grimm hatte damals nichts gegen die Entscheidung seiner Kollegen für Reitverbote, aber er kritisierte die Tendenz, „jedes erdenkliche menschliche Verhalten” unter den Schutz der Grundrechte zu stellen. So ein Satz macht Appetit auf mehr.
In Grimms neuem Buch sind nur wenige Texte hochwissenschaftlich abgehoben geschrieben, meist kommt die zweite Natur des Dieter Grimm zum Tragen: Hier ist er eher der anschaulich formulierende, zupackende Pädagoge, da spürt man, warum Grimm als Professor und als Redner einen so großen Ruf hat. Auch für den, der nicht jeden Tag mit dem Grundgesetz ins Bett geht, wird deutlich, warum es so gefährlich ist, wenn die Verfassung ihren Grundsatz- Charakter verliert.
Der neue Artikel 13, mit dem 1998 die Verletzlichkeit der Wohnung durch den großen Lauschangriff beschlossen wurde, ist viermal so lang wie sein Vorgänger. Der neue Artikel 16 a, der 1993 das Asylgrundrecht eingeschränkt hat, ist vierzigmal so lang wie der alte Artikel 16. Auch der neue Europa- Artikel 23, der 1992 den Artikel über den Beitritt weiterer Gebietsteile abgelöst hat, ist zehnmal so lang wie der alte Artikel 23. Wenn Grimm dies beklagt, ist dies nicht nur die Klage eine Verfassungsästheten. Diese Grundgesetzänderungen sind, wie Grimm zu Recht sagt, ein Verstoß gegen demokratische Spielregeln: Wer in das Grundgesetz Dinge schreibt, die eigentlich nur in einfache Gesetze oder gar nur in ihre Durchführungsverordnungen gehören, der macht neuen politischen Mehrheiten das Leben schwer; diese müssen nämlich dann, wenn sie politisch etwas ändern wollen, die Verfassung ändern.
Anderes macht Grimm fast noch mehr Sorgen: Die Verwandlung des Rechtsstaates in eine von Kanzler Schröder als Konsensdemokratie bezeichneten „paktierenden Staat”. Grimm bezieht sich explizit auf die Energiekonsensgespräche, mittlerweile gibt es noch viele andere Beispiele, bei denen Absprachen zwischen Staat und Privaten an die Stelle der klassischen Gesetze treten: „Im Unterschied zum Gesetz gehen sie aber nicht aus allgemeiner Diskussion und Partizipation hervor... Verhandlungssysteme prämieren also diejenigen Interessen, die ohnehin mächtig sind. Sie schaffen eine neue Privilegienstruktur.”
Der Verfassungsrechtler steht einigermaßen ratlos vor dieser Entwicklung: „Fast alle Vorkehrungen, die die Verfassung zur Gewährleistung des Demokratieprinzips und des Rechtsstaatsprinzips trifft, werden durch den paktierenden Staat unterlaufen.” Die Folgen für das Grundgesetz: „Es verfasst die politische Herrschaft seinem umfassenden Anspruch zum Trotz nur noch partiell. Es existieren parakonstitutionelle Entscheidungsträger.”
Grimms Liebe zum Grundgesetz korrespondiert mit seinem Stolz auf „sein” Bundesverfassungsgericht: Und mit beinah kindlicher Freude weist er darauf hin, dass das russische Verfassungsgericht den Entwurf seines Verfassungsgerichtsgesetzes in Karlsruhe beraten habe. Und das südafrikanische Verfassungsgericht habe dort, am Sitz des höchsten deutschen Gerichts, erstmals getagt. Dieter Grimm hat zu diesem Ruhm beigetragen. In diesem Buch kann man nachlesen, warum.
HERIBERT PRANTL
Bürgernah beim Bürgerfest in Karlsruhe aus Anlass des 50. Geburtstages: die Mitglieder der zwei Kammern des Bundesverfassungsgerichts, präsentiert auf einer Telefonkarte.
Foto: SZ-Archiv
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Dieter Grimms glänzende Analysen zum Zustand von Staat und Gesellschaft erscheinen pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts
DIETER GRIMM: Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, C. H. Beck Verlag, München 2001. 250 Seiten, 38 Mark.
Es war einmal. Es war einmal ein Haus, das seinen Bewohnern sehr ans Herz gewachsen war: das Dach war dicht, seine Mauern waren stabil, es war klug geplant und zweckmäßig eingeteilt – man konnte gut, gesund und glücklich darin leben. Eigentlich war das Haus einst als Notunterkunft gebaut worden. Aber als die Not vorbei gegangen war, merkten seine Bewohner, dass ihr Haus mehr war als nur ein Provisorium, dass es ganz besondere Qualitäten hatte. Sie begannen es zu lieben, fast so, wie man einen lieben Menschen liebt – und es war für sie das schönste Haus der Haus der Welt.
Als sie 41 Jahre darin gelebt hatten, ergab es sich, dass das Haus noch sehr viel mehr Bewohner als bisher aufnehmen musste; die Behausung der Nachbarn war nämlich zusammengebrochen. Aus diesem Anlass entschied man sich für eine gründliche Sanierung: Das alte Haus sollte vergrößert, seine Statik sollte verbessert und auch eine neue tragende Wand sollte eingebaut werden. Doch schon die Planungen liefen nicht so, wie sie laufen sollten: Die Architekten kümmerten sich nicht um die Bedürfnisse der neuen Bewohner, und auch die vielen Vorschläge derer, die im alten Haus aufgewachsen waren, interessierten sie kaum. In der Baufirma herrschte Missgunst und Streit, die Handwerker sabotierten sich gegenseitig. Deshalb wurde aus den großen Umbau- und Sanierungsplänen nichts Gescheites. Um so zu tun, als sei doch etwas getan worden, hängte die Baufirma nach dem Ablauf der vorgesehenen Bauzeit ein paar Blumenkästen vor die Fenster und verkündete dabei, dass man das Haus gründlichst untersucht habe. Es sei in so hervorragendem Zustand, dass man gar nichts zu ändern brauche, im Gegenteil: Es müsse alles so bleiben, wie es ist. Dieselben freilich, die so gesprochen hatten, begannen wenig später, planlos einmal hier und einmal dort herumzuwerkeln: Hier wurde ein Zimmer verkleinert, da eine Treppe herausgerissen, dort Türen zugemauert oder Fenster ins Mauerwerk gebrochen. Und die Liebe der Menschen zu ihrem Haus begann allmählich zu bröckeln, und der bisher so pflegliche Umgang mit ihrem Haus ließ nach...
Es war einmal. Dieses Hausmärchen über das Haus der deutschen Verfassung findet sich nicht in der Sammlung der Brüder Grimm. Das Haus der Verfassung ist Gegenstand einer schönen Aufsatzsammlung von einem, der darin zwölf Jahre lang eine Art Hausmeister war: Dieter Grimm, Bundesverfassungsrichter von 1987 bis 1999, hat seine Essays aus der Zeit seit der Wende publiziert. Es handelt sich um ein eindrucksvolles, spannendes Bekenntnis zu einer leidenschaftlichen Beziehung: Dieter Grimm, Radikal- Demokrat, Ordinarius an der Humboldt-Universtität, Gastprofessor in Yale und New York, neuer Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, liebt das Grundgesetz.
Grimm nennt es eine „glückliche Verfassung'. In einer langen Phase kontinuierlich wachsenden Wohlstandes habe es „tiefe Wurzeln' in der Bevölkerung geschlagen, sei zu einem „wichtigen Integrationsfaktor geworden', ja zu einem „Nationsersatz' . 1989, bei seinem vierzigsten Jubiläum, stand das Grundgesetz wohl auf der Höhe seines Ansehens. Dann aber beginnt eine Entwicklung, die Grimm zu Recht mit großer Sorge erfüllt und die er penibel analysiert: Die neue, wiedervereinigte Republik, so Grimm, verspiele das, was die alte ausgezeichnet und ihren Erfolg mitbegründet habe: Die Hochschätzung der Verfassung. Grimm, ein großer Freund von stärkerer Bürgerbeteiligung an der politischen Willensbildung, hat seinerzeit vergeblich dafür geworben, das Grundgesetz dem wiedervereinigten Deutschland zur Abstimmung vorzulegen. Es sei „unzuträglich”, den Weg der Konstituierung eines geeinten Staates am Volk vorbeizuleiten. Dass Verfassungen vom Volk beschlossen werden, gehöre schließlich seit zweihundert Jahren zum demokratischen Gemeingut. Die ostdeutsche Bevölkerung, so konstatiert er, sei infolgedessen weithin verfassungsindifferent geblieben. Als Kristallisationskern für kollektive Identität werde das Grundgesetz jetzt weniger benötigt als früher, und der Patriotismus sei nicht mehr auf es angewiesen. Das zeige sich am Umgang mit dem Grundgesetz seit der Wende: Mit tiefer Skepsis blickt der Verfassungsjurist Grimm auf die seitdem vorgenommenen leichtfertigen Grundrechtsänderungen .
Dieter Grimms Liebe zum Grundgesetz hat ihm Feinde gemacht – weil er, als Verfechter des Grundrechts auf Meinungsfreiheit, für die „Soldaten sind Mörder”-Entscheidung und für den von Kirchen und CDU/CSU heftig bekämpften Kruzifix-Beschluss verantwortlich gemacht wurde. Die wenigsten der Kritiker, die in ihm den Antichristen von Karlsruhe sahen, wussten, dass es sich bei diesem Dieter Grimm um einen Katholiken und früheren Stipendiaten der Bischöflichen Studienstiftung Cusanuswerk handelt. Dieser Dieter Grimm hat das Werk des Staats- und Verfassungsrechtlers Konrad Hesse konsequent weitergeführt, er ging in den Spuren von Hesse und dessen Vorgänger Theodor Rittersbach. Nicht immer freilich schreibt und agiert Grimm zum Vergnügen des links-liberalen Lagers: Weil er Kommunikation als Bedingung einer Demokratie versteht, wendet er sich gegen die Entwicklung der Europäischen Union zum Staat. Der notwendige politische Diskurs sei mangels gemeinsamer Sprache (noch?) nicht möglich.
Die Verfassung und die Politik: Wer sich um die Zukunft der deutschen Verfassung sorgt, wer wissen will, wo Gefahren für die parlamentarische Demokratie lauern und wie man ihnen begegnen könnte – der lese dieses gescheite Buch. Der nehme auch die Redundanzen in Kauf, die Wiederkehr von Analysen und Argumentationen in mehreren Aufsätzen; das Buch hätte nicht zuletzt deswegen ein gründlicheres Lektorat verdient und jeweils eine kurze Einführung der Aufsätze in den zeitlichen Kontext, in dem die Aufsätze entstanden sind. Gleichwohl: Es entfaltet sich der Kosmos des Grundrechts- und Verfassungsdenkens eines Gelehrten, der 1989 als Verfassungsrichter erstmals mit einem Sondervotum auffiel, das mit dem Satz begann: „Das Reiten im Walde genießt keinen Grundrechtsschutz.” Grimm hatte damals nichts gegen die Entscheidung seiner Kollegen für Reitverbote, aber er kritisierte die Tendenz, „jedes erdenkliche menschliche Verhalten” unter den Schutz der Grundrechte zu stellen. So ein Satz macht Appetit auf mehr.
In Grimms neuem Buch sind nur wenige Texte hochwissenschaftlich abgehoben geschrieben, meist kommt die zweite Natur des Dieter Grimm zum Tragen: Hier ist er eher der anschaulich formulierende, zupackende Pädagoge, da spürt man, warum Grimm als Professor und als Redner einen so großen Ruf hat. Auch für den, der nicht jeden Tag mit dem Grundgesetz ins Bett geht, wird deutlich, warum es so gefährlich ist, wenn die Verfassung ihren Grundsatz- Charakter verliert.
Der neue Artikel 13, mit dem 1998 die Verletzlichkeit der Wohnung durch den großen Lauschangriff beschlossen wurde, ist viermal so lang wie sein Vorgänger. Der neue Artikel 16 a, der 1993 das Asylgrundrecht eingeschränkt hat, ist vierzigmal so lang wie der alte Artikel 16. Auch der neue Europa- Artikel 23, der 1992 den Artikel über den Beitritt weiterer Gebietsteile abgelöst hat, ist zehnmal so lang wie der alte Artikel 23. Wenn Grimm dies beklagt, ist dies nicht nur die Klage eine Verfassungsästheten. Diese Grundgesetzänderungen sind, wie Grimm zu Recht sagt, ein Verstoß gegen demokratische Spielregeln: Wer in das Grundgesetz Dinge schreibt, die eigentlich nur in einfache Gesetze oder gar nur in ihre Durchführungsverordnungen gehören, der macht neuen politischen Mehrheiten das Leben schwer; diese müssen nämlich dann, wenn sie politisch etwas ändern wollen, die Verfassung ändern.
Anderes macht Grimm fast noch mehr Sorgen: Die Verwandlung des Rechtsstaates in eine von Kanzler Schröder als Konsensdemokratie bezeichneten „paktierenden Staat”. Grimm bezieht sich explizit auf die Energiekonsensgespräche, mittlerweile gibt es noch viele andere Beispiele, bei denen Absprachen zwischen Staat und Privaten an die Stelle der klassischen Gesetze treten: „Im Unterschied zum Gesetz gehen sie aber nicht aus allgemeiner Diskussion und Partizipation hervor... Verhandlungssysteme prämieren also diejenigen Interessen, die ohnehin mächtig sind. Sie schaffen eine neue Privilegienstruktur.”
Der Verfassungsrechtler steht einigermaßen ratlos vor dieser Entwicklung: „Fast alle Vorkehrungen, die die Verfassung zur Gewährleistung des Demokratieprinzips und des Rechtsstaatsprinzips trifft, werden durch den paktierenden Staat unterlaufen.” Die Folgen für das Grundgesetz: „Es verfasst die politische Herrschaft seinem umfassenden Anspruch zum Trotz nur noch partiell. Es existieren parakonstitutionelle Entscheidungsträger.”
Grimms Liebe zum Grundgesetz korrespondiert mit seinem Stolz auf „sein” Bundesverfassungsgericht: Und mit beinah kindlicher Freude weist er darauf hin, dass das russische Verfassungsgericht den Entwurf seines Verfassungsgerichtsgesetzes in Karlsruhe beraten habe. Und das südafrikanische Verfassungsgericht habe dort, am Sitz des höchsten deutschen Gerichts, erstmals getagt. Dieter Grimm hat zu diesem Ruhm beigetragen. In diesem Buch kann man nachlesen, warum.
HERIBERT PRANTL
Bürgernah beim Bürgerfest in Karlsruhe aus Anlass des 50. Geburtstages: die Mitglieder der zwei Kammern des Bundesverfassungsgerichts, präsentiert auf einer Telefonkarte.
Foto: SZ-Archiv
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der Rezensent Roderich Reifenrath scheint dem ehemaligen Verfassungsrichter Dieter Grimm regelrecht dankbar für sein Buch zu sein. In seinen zwanzig Essays, die man sowohl als Einzel- als auch als Gesamtkunstwerk sehen könne, bringe er selbst dem Laien verfassungsrechtliche Probleme näher. Er bediene sich eines angenehm seriösen und distanzierten Stils und erliege nicht der Versuchung, eine Abrechnung mit dem Gericht zu suchen, dem er lange Jahre angehörte. Stattdessen habe er "gezügelt und leidenschaftlich zugleich" ein hochpolitisches und lehrreiches Buch geschrieben, dass das Interesse des Lesers auch für politisch bereits abgeschlossene Fragestellungen erwecke, lobt Reifenrath.
© Perlentaucher Medien GmbH
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