In diesem Sammelband legt der Herausgeber den Leserinnen und Lesern die Verfassungen folgender Staaten in deutscher Übersetzung mit Einführung, Schaubildern und Übersichten vor: den Republiken Albanien, Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Makedonien, Moldau, Montenegro, Polen, Serbien, Slowakei, Slownien, Tschechien, Ungarn, Weißrussland sowie Georgiens, der Ukraine, Rumäniens und der Russischen Föderation. Zugleich dokumentiert der Band den Systemwechsel und den Anfang des langen Weges dieser Staaten in einem gemeinsamen europäischen Rechtsraum.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2000In die Arme geworfen
Präsidialverfassungen und Schattenrechtsordnungen in Osteuropa
Herwig Roggemann (Herausgeber): Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas. Einführung und Verfassungstexte mit Übersichten und Schaubildern. Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1999. 1129 Seiten, 148,- Mark.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Zerfall der von ihm zusammengehaltenen Reiche mussten sich 28 Staaten in Ost- und im mittelöstlichen Europa eine neue Verfassung geben. Mit Ausnahme der mittelasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Kaukasusstaaten Armenien und Aserbaidschan sowie Bosnien-Hercegovinas werden sie hier in deutscher Übersetzung vorgelegt. Die Zusammenstellung erlaubt einen interessanten Vergleich, an welche Vorbilder sich diese Staaten bei ihren neuen Verfassungen angelehnt haben und nach welchen Regeln dort das politische Leben abläuft. Dies wird durch ein übergreifendes Stichwortverzeichnis und durch den zusammenhängenden Abdruck der Gliederungen der Verfassungen erleichtert. Hinzu kommen Informationen über die Parteiensysteme der einzelnen Länder und Schaubilder für ihre Staatsorganisation. Umfangreiche Literaturangaben ermöglichen ein intensiveres Studium. Die einzelnen Verfassungen lassen sich schlecht vergleichen, weil sie zwangsläufig von verschiedenen Übersetzern ins Deutsche übertragen wurden. Damit bleibt unklar, ob die unterschiedlichen Formulierungen "Staatsgewalt", "souveräne Gewalt", "oberste souveräne Macht" oder gar "Gewalt" (Russland) jeweils auf den Originaltexten beruhen. Ein einheitlicher Sprachgebrauch hätte das aufwendige Verfahren einer gemeinsamen Konferenz aller Übersetzer oder eines sonstigen Kommunikationsverfahrens zwischen ihnen vorausgesetzt.
Für die wichtigsten Bereiche nimmt Herwig Roggemann in einer umfangreichen Einführung einen sachkundigen Vergleich vor. Die Verfassungen hätten ihre Organisations-, Rechtsschutz- und Integrationsfunktion zurückgewonnen. Schon die Sprache der Verfassungen sei präziser geworden und verzichte weitgehend auf die früheren Programmsätze. Im Aufbau sind die Abschnitte über die Grundrechte und den Grundrechtsschutz an die Spitze gerückt - anstelle derjenigen über die Machtordnung. Roggemann verhehlt allerdings nicht, dass die indikative Sprache der Verfassungen der gegenwärtigen postsozialistischen Verfassungswirklichkeit oft weit vorausgreift. Die Defizite sieht er - neben dem unzureichenden Minderheitenschutz - vor allem in der Abhängigkeit der Richter und Gerichte von der politischen Führung und der dadurch bedingten Ineffizienz des Rechtsschutzes, der Organisationsschwäche und den Demokratiedefiziten der politischen Parteien und dem Machtmissbrauch bei der Privatisierung und in der noch nicht privatisierten Wirtschaft. Bis auf Lettland, Bulgarien und die Tschechische Republik haben sich alle postsozialistischen Staaten statt der parlamentarischen Demokratie der Präsidialverfassung in die Arme geworfen, die in zahlreichen Fällen bereits zu entsprechenden Missbräuchen geführt hat. Besonders groß ist die Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit auf dem Gebiet der Rechtspflege. Vor allem der exzessive Parteienpluralismus hat die dringend erforderlichen Reformen auf dem Gebiet des Justiz- und Verfahrensrechts behindert. In verschiedenen osteuropäischen Staaten bestehe eine Schattenrechtsordnung nichtstaatlicher, privater und krimineller Selbsthilfe. Diese Ausführungen werden mit zahlreichen konkreten Beispielen belegt. Eine verfassungsrechtliche Konsolidierung fehlt nach Roggemann bisher vor allem in Russland, Jugoslawien und Bosnien-Hercegovina. Angesichts dessen erscheint es übrigens trotz der Verselbständigung Serbiens und Montenegros bedauerlich, dass die Verfassung Jugoslawiens nicht in die Sammlung aufgenommen wurde. Nach Roggemann erlaubt aber die Abweichung der Verfassungswirklichkeit von den Verfassungsnormen in Osteuropa kein generelles Negativurteil über die mangelnde Relevanz der Verfassungen und die rechtsstaatlichen Zukunftsaussichten. Für die erste Phase des gewaltigen Transformationsprozesses sei dies wohl letztlich unabänderlich.
Roggemann geht auch auf die europäischen Perspektiven für die Staaten Ost- und Mittelosteuropas ein. Zwar sind alle bis auf Jugoslawien, Serbien und Montenegro inzwischen Mitglieder des Europarats. Aber wichtiger ist die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Angesichts der Abstufung der Beitrittskandidaten und des Ausschlusses von Russland, Weißrussland und der Ukraine aus den Beitrittsplänen befürchtet Roggemann statt der früheren Zweiteilung eine zukünftige Dreiteilung Europas.
Mit seinem Buch beweist Roggemann eindrucksvoll die fortdauernde Bedeutung der vergleichenden Analyse der Rechtsentwicklung in Osteuropa, der Ostrechtswissenschaft, deren Existenzberechtigung wegen des Fortfalls der Klammer des Kommunismus von manchen angezweifelt wird.
FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Präsidialverfassungen und Schattenrechtsordnungen in Osteuropa
Herwig Roggemann (Herausgeber): Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas. Einführung und Verfassungstexte mit Übersichten und Schaubildern. Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1999. 1129 Seiten, 148,- Mark.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Zerfall der von ihm zusammengehaltenen Reiche mussten sich 28 Staaten in Ost- und im mittelöstlichen Europa eine neue Verfassung geben. Mit Ausnahme der mittelasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Kaukasusstaaten Armenien und Aserbaidschan sowie Bosnien-Hercegovinas werden sie hier in deutscher Übersetzung vorgelegt. Die Zusammenstellung erlaubt einen interessanten Vergleich, an welche Vorbilder sich diese Staaten bei ihren neuen Verfassungen angelehnt haben und nach welchen Regeln dort das politische Leben abläuft. Dies wird durch ein übergreifendes Stichwortverzeichnis und durch den zusammenhängenden Abdruck der Gliederungen der Verfassungen erleichtert. Hinzu kommen Informationen über die Parteiensysteme der einzelnen Länder und Schaubilder für ihre Staatsorganisation. Umfangreiche Literaturangaben ermöglichen ein intensiveres Studium. Die einzelnen Verfassungen lassen sich schlecht vergleichen, weil sie zwangsläufig von verschiedenen Übersetzern ins Deutsche übertragen wurden. Damit bleibt unklar, ob die unterschiedlichen Formulierungen "Staatsgewalt", "souveräne Gewalt", "oberste souveräne Macht" oder gar "Gewalt" (Russland) jeweils auf den Originaltexten beruhen. Ein einheitlicher Sprachgebrauch hätte das aufwendige Verfahren einer gemeinsamen Konferenz aller Übersetzer oder eines sonstigen Kommunikationsverfahrens zwischen ihnen vorausgesetzt.
Für die wichtigsten Bereiche nimmt Herwig Roggemann in einer umfangreichen Einführung einen sachkundigen Vergleich vor. Die Verfassungen hätten ihre Organisations-, Rechtsschutz- und Integrationsfunktion zurückgewonnen. Schon die Sprache der Verfassungen sei präziser geworden und verzichte weitgehend auf die früheren Programmsätze. Im Aufbau sind die Abschnitte über die Grundrechte und den Grundrechtsschutz an die Spitze gerückt - anstelle derjenigen über die Machtordnung. Roggemann verhehlt allerdings nicht, dass die indikative Sprache der Verfassungen der gegenwärtigen postsozialistischen Verfassungswirklichkeit oft weit vorausgreift. Die Defizite sieht er - neben dem unzureichenden Minderheitenschutz - vor allem in der Abhängigkeit der Richter und Gerichte von der politischen Führung und der dadurch bedingten Ineffizienz des Rechtsschutzes, der Organisationsschwäche und den Demokratiedefiziten der politischen Parteien und dem Machtmissbrauch bei der Privatisierung und in der noch nicht privatisierten Wirtschaft. Bis auf Lettland, Bulgarien und die Tschechische Republik haben sich alle postsozialistischen Staaten statt der parlamentarischen Demokratie der Präsidialverfassung in die Arme geworfen, die in zahlreichen Fällen bereits zu entsprechenden Missbräuchen geführt hat. Besonders groß ist die Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit auf dem Gebiet der Rechtspflege. Vor allem der exzessive Parteienpluralismus hat die dringend erforderlichen Reformen auf dem Gebiet des Justiz- und Verfahrensrechts behindert. In verschiedenen osteuropäischen Staaten bestehe eine Schattenrechtsordnung nichtstaatlicher, privater und krimineller Selbsthilfe. Diese Ausführungen werden mit zahlreichen konkreten Beispielen belegt. Eine verfassungsrechtliche Konsolidierung fehlt nach Roggemann bisher vor allem in Russland, Jugoslawien und Bosnien-Hercegovina. Angesichts dessen erscheint es übrigens trotz der Verselbständigung Serbiens und Montenegros bedauerlich, dass die Verfassung Jugoslawiens nicht in die Sammlung aufgenommen wurde. Nach Roggemann erlaubt aber die Abweichung der Verfassungswirklichkeit von den Verfassungsnormen in Osteuropa kein generelles Negativurteil über die mangelnde Relevanz der Verfassungen und die rechtsstaatlichen Zukunftsaussichten. Für die erste Phase des gewaltigen Transformationsprozesses sei dies wohl letztlich unabänderlich.
Roggemann geht auch auf die europäischen Perspektiven für die Staaten Ost- und Mittelosteuropas ein. Zwar sind alle bis auf Jugoslawien, Serbien und Montenegro inzwischen Mitglieder des Europarats. Aber wichtiger ist die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Angesichts der Abstufung der Beitrittskandidaten und des Ausschlusses von Russland, Weißrussland und der Ukraine aus den Beitrittsplänen befürchtet Roggemann statt der früheren Zweiteilung eine zukünftige Dreiteilung Europas.
Mit seinem Buch beweist Roggemann eindrucksvoll die fortdauernde Bedeutung der vergleichenden Analyse der Rechtsentwicklung in Osteuropa, der Ostrechtswissenschaft, deren Existenzberechtigung wegen des Fortfalls der Klammer des Kommunismus von manchen angezweifelt wird.
FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eindrucksvoll beweise hier Herausgeber Herwig Roggemann "die fortdauernde Bedeutung der Ostrechtswissenschaft", deren Existenzberechtigung von manchen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus angezweifelt werde, lobt Kritiker Friedrich-Christian Schroeder. In deutscher Übersetzung und durch den Herausgeber umfangreich eingeführt und sachkundig verglichen, würden hier die Verfassungen vieler osteuropäischen Staaten vorgelegt, die sich nach dem Zerfall des Ostblocks neu ordnen mussten. Dadurch entstehen interessante Vergleichsmöglichkeiten und Einblicke in verfassungsbedingte Schwächen der nachkommunistischen Demokratien, freut sich Schroeder. Gelobt wird die Ausgabe auch wegen des umfangreichen Stichwortverzeichnisses, dem Abdruck der Verfassungsgliederungen, Informationen und Schaubildern zu Parteiensystemen und Staatsorganisationen sowie den umfangreichen Literaturangaben. Schwäche: das Fehlen eines einheitlichen Sprachgebrauchs für wichtige Begriffe, die von den verschiedenen Übersetzern der verschiedenen Verfassungen leider auch unterschiedlich übersetzt worden seien.
© Perlentaucher Medien GmbH
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