Diese neue Kulturgeschichte beendet eine Legende: daß die Deutschen traditionell ohne Lebensart seien und weit hinter der feineren Gesittung ihrer romanischen Nachbarn zurückgeblieben. In einer großen Bewegung führt Erwin Seitz von der germanischen Vorzeit über die römischen Wurzeln und das keltische Erbe bis in die Großstadtkultur der Gegenwart und ihre kulinarischen Tempel. Durch mehr als zweitausend Jahre einer wechselhaften Geschichte, in der die Deutschen nach Tiefpunkten und Durststrecken immer wieder zu höchster Form der Verfeinerung aufliefen. Seitzens Darstellung zeugt von stupendem Wissen, ist stimulierend eigenwillig, hinreißend perspektivenreich und höchst elegant stilisiert. Ein besonderes Interesse hat der Autor an der reichen Entwicklung deutscher Kochkunst und Tischsitten. Auch für die Praktiker unter den kulturhistorisch Interessierten fällt dabei mancherlei ab: Mit vielen Hinweisen verführt er sie, scheinbar nebenher, zu lukullischen Exkursen und Entdeckungsreisen durch deutsche Lande. So entsteht innerhalb einer umfassenden Kulturgeschichte zugleich eine Topographie des guten Geschmacks.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2012Was dachte sich Luther nur, als er die gemeine Hausspeise in den Himmel hob?
Ein Menü mit vielen historischen Zutaten, doch nicht durchweg raffiniert abgeschmeckt: Erwin Seitz schreibt eine ausladende Kulturgeschichte deutscher Kochkünste
Nach langen Jahren einer etwas einseitigen Geschichtsschreibung hat sich allgemein das Bild verfestigt, dass die Entwicklung der besseren Küche etwas mit den alten Römern, der italienischen Renaissance und vor allem den Franzosen zu tun hat. Deutschland kommt dabei nicht vor. Erwin Seitz will mit seinem Buch beweisen, dass dieses Bild nicht stimmt.
Der Autor ist von seiner Ausbildung her dazu geradezu prädestiniert. Er hat Metzger und Koch gelernt, ist dann Historiker geworden und schreibt seit vielen Jahren kulinarische Texte. Den Leser erwartet eine ausgesprochen komplex angelegte Arbeit mit einer Vielzahl von historischen Quellen, denen immer wieder Impressionen aus der kulinarischen Kultur der deutschen Gegenwart gegenübergestellt sind. Im Kapitel über den "ausgewählten Geschmack" etwa finden sich Ausführungen über die römische Stadt Trier und den antiken Humanismus und dazu ein Text über "Wein an der Mosel". Insgesamt gelingt das Vorhaben des Autors in den im engeren Sinne historischen Teilen in überzeugender Weise. Seitz hat eine Unmenge von Fakten zusammengetragen. Es geht über die höfische Kultur von Karl dem Großen, Otto dem Großen, Friedrich Barbarossa und Wolfram von Eschenbach über Ludwig den Bayern, die Fugger und Luther, die Jesuiten der Barockzeit in München und bis zu den frühen Kochbüchern aus deutscher Hand, die beweisen, dass man zu jeder Zeit auf Augenhöhe mit anderen europäischen Kulturen war.
Was zum Beispiel auch schon im Jahre 1580 Michel de Montaigne bemerkte: "Denn was die Aufwartung bei Tisch betrifft, machen sie solchen Aufwand an Lebensmitteln und bringen in die Gerichte eine solche Abwechslung..., dass kaum die Küche des französischen Adels damit verglichen werden kann." Im Detail pendelt Seitz ein wenig zwischen einer überbordenden Fülle von Informationen, die eigentlich nicht unbedingt in dieser Breite etwas mit dem Thema des Buches zu tun haben, und immer wieder überraschenden und kurzweilig zu lesenden Details.
Wie etwa die Darstellung der kulinarischen Aktivitäten der Katharina Luther, der Gattin des Reformators. Während die "kulturelle Verfeinerung" für Luther "kein Kernthema" war, entwickelte seine Frau mit großer Energie vor allem den kulinarischen Teil des später ziemlich wohlhabenden Haushalts. Da gab es wohl ein wenig unterschiedliche Positionen. Die adelig geborene Katharina dachte herrschaftlich, Luther eher nicht. Zitat: "Ich lob die reine, gute, gemeine Hausspeise." Von einem der Gäste ist überliefert, wie er andere Dinge sah: "Als man Wildfleisch und Wildvögel auf den Tisch setzte, sagte Luther: Ich esse kein Holz. Da kann ich gleich die Teller essen, die haben auch keine Feuchtigkeit."
Solche und ähnliche Pretiosen findet der Leser immer wieder. Dennoch bleibt ein wenig das Gefühl, dass Seitz eine Art Opus maximum abliefern wollte, in das er alles hineingepackt hat, dessen er irgendwie habhaft werden konnte. Das gilt auch für die eingestreuten Bilder aus der Gegenwart, die aus dem journalistischen Fundus des Autors stammen und insofern auch schon mal einen beiläufigen und nicht immer zwingend systematischen Zusammenhang mit dem Thema haben. Wer sich dann an den Titel erinnert und nach der Verfeinerung in Form der Spitzenküche sucht, wird enttäuscht werden. Wie in diversen seiner kulinarischen Texte hat Seitz Schwierigkeiten, den Stellenwert der avancierten Küche in der Gesellschaft zu bestimmen, und hält sich lieber - allerdings in Form einer völlig unkritischen Rezeption - an die frühe Phase der aktuellen deutschen Spitzenküche in den Jahren nach 1970.
Im Grunde ist er gewissermaßen gar nicht weit von Luthers "Hausspeise" entfernt, möchte diese dann aber sozusagen so fein wie möglich haben. Da "Verfeinerung" jedoch nicht wirklich rationierbar ist, hat das Buch in seiner Offenheit "nach oben" ein gewisses Manko. Und das, obwohl Wolfram von Eschenbach zitiert wird: "Stets aufs Neue schärfte er die Wahrnehmung sinnlicher Dinge: sei es die Feinheit der Stoffe, die Form des weiblichen oder männlichen Körpers, die Delikatesse der Tafel." Ist die ausgeweitete Sensorik der Spitzenküche, bei der wahrlich die Wahrnehmung sinnlicher Dinge geschärft wird, da kein vergleichbares, zu würdigendes Thema?
Bei seiner Analyse des "bourgeoisen Bohemiens" ("Bobo") in der Einleitung gibt es eine bezeichnende Stelle, in der Seitz so in Emphase gerät, dass er offenbar auch sich selbst meint: Der Bobo "erfährt den Zauber der Natur auch im Kleinen, beispielsweise im Nationalpark Bayerischer Wald beim Aufstieg zum Lusen, von Finsterau aus, wo zweihundert Jahre alte Tannen, Fichten und Buchen eine Höhe von vierzig bis fünfzig Meter erreichen". Wenig später heißt es: "Es fehlt die Balance zwischen natürlicher Einfachheit und kultivierter Verfeinerung." Nichts gegen die Gewichtung des Bodenständigen. Aber sie wirkt schal, wenn man sich - wie Seitz das tut - um das Entwickelte dann nicht wirklich kümmert. Immer wieder muss man deshalb den Eindruck gewinnen, als habe der Autor Mühe, seine ganz persönlichen kulinarischen Vorlieben unter die Kontrolle einer distanziert-wissenschaftlichen Sicht zu bekommen. Und so ist dieses Buch einerseits das beachtliche Werk eines sehr bemühten Historikers mit einer großen Materialmenge. Andererseits zeigt es einen zwischen den Dingen irrlichternden Autor, der nicht immer souveräne Denkhöhe erreicht.
JÜRGEN DOLLASE
Erwin Seitz: "Die Verfeinerung der Deutschen". Eine andere Kulturgeschichte.
Insel Verlag, Berlin 2011. 824 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Menü mit vielen historischen Zutaten, doch nicht durchweg raffiniert abgeschmeckt: Erwin Seitz schreibt eine ausladende Kulturgeschichte deutscher Kochkünste
Nach langen Jahren einer etwas einseitigen Geschichtsschreibung hat sich allgemein das Bild verfestigt, dass die Entwicklung der besseren Küche etwas mit den alten Römern, der italienischen Renaissance und vor allem den Franzosen zu tun hat. Deutschland kommt dabei nicht vor. Erwin Seitz will mit seinem Buch beweisen, dass dieses Bild nicht stimmt.
Der Autor ist von seiner Ausbildung her dazu geradezu prädestiniert. Er hat Metzger und Koch gelernt, ist dann Historiker geworden und schreibt seit vielen Jahren kulinarische Texte. Den Leser erwartet eine ausgesprochen komplex angelegte Arbeit mit einer Vielzahl von historischen Quellen, denen immer wieder Impressionen aus der kulinarischen Kultur der deutschen Gegenwart gegenübergestellt sind. Im Kapitel über den "ausgewählten Geschmack" etwa finden sich Ausführungen über die römische Stadt Trier und den antiken Humanismus und dazu ein Text über "Wein an der Mosel". Insgesamt gelingt das Vorhaben des Autors in den im engeren Sinne historischen Teilen in überzeugender Weise. Seitz hat eine Unmenge von Fakten zusammengetragen. Es geht über die höfische Kultur von Karl dem Großen, Otto dem Großen, Friedrich Barbarossa und Wolfram von Eschenbach über Ludwig den Bayern, die Fugger und Luther, die Jesuiten der Barockzeit in München und bis zu den frühen Kochbüchern aus deutscher Hand, die beweisen, dass man zu jeder Zeit auf Augenhöhe mit anderen europäischen Kulturen war.
Was zum Beispiel auch schon im Jahre 1580 Michel de Montaigne bemerkte: "Denn was die Aufwartung bei Tisch betrifft, machen sie solchen Aufwand an Lebensmitteln und bringen in die Gerichte eine solche Abwechslung..., dass kaum die Küche des französischen Adels damit verglichen werden kann." Im Detail pendelt Seitz ein wenig zwischen einer überbordenden Fülle von Informationen, die eigentlich nicht unbedingt in dieser Breite etwas mit dem Thema des Buches zu tun haben, und immer wieder überraschenden und kurzweilig zu lesenden Details.
Wie etwa die Darstellung der kulinarischen Aktivitäten der Katharina Luther, der Gattin des Reformators. Während die "kulturelle Verfeinerung" für Luther "kein Kernthema" war, entwickelte seine Frau mit großer Energie vor allem den kulinarischen Teil des später ziemlich wohlhabenden Haushalts. Da gab es wohl ein wenig unterschiedliche Positionen. Die adelig geborene Katharina dachte herrschaftlich, Luther eher nicht. Zitat: "Ich lob die reine, gute, gemeine Hausspeise." Von einem der Gäste ist überliefert, wie er andere Dinge sah: "Als man Wildfleisch und Wildvögel auf den Tisch setzte, sagte Luther: Ich esse kein Holz. Da kann ich gleich die Teller essen, die haben auch keine Feuchtigkeit."
Solche und ähnliche Pretiosen findet der Leser immer wieder. Dennoch bleibt ein wenig das Gefühl, dass Seitz eine Art Opus maximum abliefern wollte, in das er alles hineingepackt hat, dessen er irgendwie habhaft werden konnte. Das gilt auch für die eingestreuten Bilder aus der Gegenwart, die aus dem journalistischen Fundus des Autors stammen und insofern auch schon mal einen beiläufigen und nicht immer zwingend systematischen Zusammenhang mit dem Thema haben. Wer sich dann an den Titel erinnert und nach der Verfeinerung in Form der Spitzenküche sucht, wird enttäuscht werden. Wie in diversen seiner kulinarischen Texte hat Seitz Schwierigkeiten, den Stellenwert der avancierten Küche in der Gesellschaft zu bestimmen, und hält sich lieber - allerdings in Form einer völlig unkritischen Rezeption - an die frühe Phase der aktuellen deutschen Spitzenküche in den Jahren nach 1970.
Im Grunde ist er gewissermaßen gar nicht weit von Luthers "Hausspeise" entfernt, möchte diese dann aber sozusagen so fein wie möglich haben. Da "Verfeinerung" jedoch nicht wirklich rationierbar ist, hat das Buch in seiner Offenheit "nach oben" ein gewisses Manko. Und das, obwohl Wolfram von Eschenbach zitiert wird: "Stets aufs Neue schärfte er die Wahrnehmung sinnlicher Dinge: sei es die Feinheit der Stoffe, die Form des weiblichen oder männlichen Körpers, die Delikatesse der Tafel." Ist die ausgeweitete Sensorik der Spitzenküche, bei der wahrlich die Wahrnehmung sinnlicher Dinge geschärft wird, da kein vergleichbares, zu würdigendes Thema?
Bei seiner Analyse des "bourgeoisen Bohemiens" ("Bobo") in der Einleitung gibt es eine bezeichnende Stelle, in der Seitz so in Emphase gerät, dass er offenbar auch sich selbst meint: Der Bobo "erfährt den Zauber der Natur auch im Kleinen, beispielsweise im Nationalpark Bayerischer Wald beim Aufstieg zum Lusen, von Finsterau aus, wo zweihundert Jahre alte Tannen, Fichten und Buchen eine Höhe von vierzig bis fünfzig Meter erreichen". Wenig später heißt es: "Es fehlt die Balance zwischen natürlicher Einfachheit und kultivierter Verfeinerung." Nichts gegen die Gewichtung des Bodenständigen. Aber sie wirkt schal, wenn man sich - wie Seitz das tut - um das Entwickelte dann nicht wirklich kümmert. Immer wieder muss man deshalb den Eindruck gewinnen, als habe der Autor Mühe, seine ganz persönlichen kulinarischen Vorlieben unter die Kontrolle einer distanziert-wissenschaftlichen Sicht zu bekommen. Und so ist dieses Buch einerseits das beachtliche Werk eines sehr bemühten Historikers mit einer großen Materialmenge. Andererseits zeigt es einen zwischen den Dingen irrlichternden Autor, der nicht immer souveräne Denkhöhe erreicht.
JÜRGEN DOLLASE
Erwin Seitz: "Die Verfeinerung der Deutschen". Eine andere Kulturgeschichte.
Insel Verlag, Berlin 2011. 824 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
So ganz souverän verfügt der Autor nicht über die Fülle seines Stoffes, moniert Jürgen Dollase, der dem Titel des Buches bereitwillig folgt und sich dann ein bisschen allein gelassen fühlt, weil es dem Autor dann doch mehr ums Bodenständige geht, als um die titelgebende Verfeinerung. Da verliert sich Erwin Seitz dann in persönlichen kulinarischen Präferenzen, anstatt dem Rezensenten schön analytisch das historische Material auseinanderzusetzen, das er so fleißig herbeischafft, über Moselwein und Humanismus, Barbarossa und Luthers geringe Lust auf Geflügel. Systematisch, meint Dollase, ist das nicht immer und oft sogar sehr unkritisch. Am besten gefällt ihm das Buch aber noch in seinen historischen Teilen, für die spitzenkulinarische Gegenwart scheint der Autor sich indes nur am Rand zu interessieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Insgesamt gelingt das Vorhaben des Autors in den im engeren Sinne historischen Teilen in überzeugender Weise ... Es geht über die höfische Kultur ... bis zu den frühen Kochbüchern aus deutscher Hand, die beweisen, dass man zu jeder Zeit auf Augenhöhe mit anderen europäischen Kulturen war.«