Der Zweite Weltkrieg auf wenigen Quadratkilometern: ein besetztes niederländisches Dorf unterm Brennglas
Eine eindrucksvolle minutiöse Rekonstruktion eines dramatischen Vorfalls, der sich am 10. Oktober 1944 in dem von den Deutschen besetzten Dörfchen Rhoon ereignete und der die Dorfgemeinschaft bis heute spaltet. Im von der Wehrmacht besetzten niederländischen Dorf Rhoon findet ein deutscher Soldat am 10.10.1944 den Tod. Die folgende Vergeltungsmaßnahme ist entsetzlich: Sieben Männer aus dem Dorf werden hingerichtet, ihre Frauen und Kinder vertrieben, ihre Häuser in Brand gesteckt. Warum dieser Anschlag auf den Soldaten? Oder war es doch »nur« ein Unfall? Jan Brokken geht mit detektivischem Spürsinn einem Ereignis auf den Grund, das den Dorfbewohnern bis heute keine Ruhe lässt. Er hat für sein Buch Interviews mit 185 Zeitzeugen geführt, hat Prozessakten eingesehen und rekonstruiert minutiös die Ereignisse aus dem Oktober 1944. Alle Beteiligten - vom Wehrmachtskommandantenbis zum kleinen Fabrikarbeiter, der im Untergrund gegen die Besatzer agitiert - haben ihre eigenen und sehr unterschiedlichen Motive, die der Autor nach und nach freilegt und geschickt montiert. Die Suche nach der Wahrheit gerät zur kriminalistischen Recherche. So entsteht das Bild eines Dorfes in Zeiten des Krieges, in dem persönliche Interessen und Ressentiments den Alltag bestimmen und die bis in die Gegenwart hinein fortwirken.
Eine eindrucksvolle minutiöse Rekonstruktion eines dramatischen Vorfalls, der sich am 10. Oktober 1944 in dem von den Deutschen besetzten Dörfchen Rhoon ereignete und der die Dorfgemeinschaft bis heute spaltet. Im von der Wehrmacht besetzten niederländischen Dorf Rhoon findet ein deutscher Soldat am 10.10.1944 den Tod. Die folgende Vergeltungsmaßnahme ist entsetzlich: Sieben Männer aus dem Dorf werden hingerichtet, ihre Frauen und Kinder vertrieben, ihre Häuser in Brand gesteckt. Warum dieser Anschlag auf den Soldaten? Oder war es doch »nur« ein Unfall? Jan Brokken geht mit detektivischem Spürsinn einem Ereignis auf den Grund, das den Dorfbewohnern bis heute keine Ruhe lässt. Er hat für sein Buch Interviews mit 185 Zeitzeugen geführt, hat Prozessakten eingesehen und rekonstruiert minutiös die Ereignisse aus dem Oktober 1944. Alle Beteiligten - vom Wehrmachtskommandantenbis zum kleinen Fabrikarbeiter, der im Untergrund gegen die Besatzer agitiert - haben ihre eigenen und sehr unterschiedlichen Motive, die der Autor nach und nach freilegt und geschickt montiert. Die Suche nach der Wahrheit gerät zur kriminalistischen Recherche. So entsteht das Bild eines Dorfes in Zeiten des Krieges, in dem persönliche Interessen und Ressentiments den Alltag bestimmen und die bis in die Gegenwart hinein fortwirken.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Ursula März hat angesichts der akribischen Recherche Jan Brokkens das Gefühl, noch nie so dicht an ein Geschehen im Zweiten Weltkrieg herangeführt worden zu sein. In "Vergeltung" beschreibt Brokken den Fall einer spontanen Exekution von sieben Einwohnern des niederländischen Ortes Rhoon durch die deutschen Besatzer im Jahr 1944, nachdem ein Wehrmachtssoldat von einem herabhängenden Starkstromkabel getötet worden war, berichtet die Rezensentin. Der Autor hat mit mehr als einhundertfünfzig Zeitzeugen gesprochen und tausende Seiten Akten gewälzt, um kleinstteilig die individuellen Geschichten der Beteiligten aufzurollen, die, jeder für sich, erstaunlich scharfe Gestalt annehmen, lobt März. Wissen, so vermittelt, nutzt sich vielleicht weniger schnell ab als von Gräuelfotos ausgelöste Emotionen, überlegt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2015Ein Dorf unter dem Brennglas
Dunkles Geheimnis: Rhoon unter deutscher Besatzung
Der kleine Ort Rhoon liegt im Polderland der Maas südlich von Rotterdam. Lange Zeit erzählte man sich hier jedes Jahr am 4. Mai, dem niederländischen Gedenktag an die Opfer des Zweiten Weltkriegs, dieselbe Geschichte. Jedes Schulkind bekam sie zu hören. Es ist die Geschichte eines schrecklichen deutschen Kriegsverbrechens. In der Nacht vom 10. /11. Oktober 1944 sei eine deutsche Patrouille nahe der Flachsfabrik in ein zufällig herabhängendes Stromkabel geraten, das die Herbststürme von der Mauer gerissen hätten. Ein deutscher Soldat kam durch einen Stromschlag ums Leben. Als Vergeltung dafür erschoss die Wehrmacht einen Tag später willkürlich sieben Männer aus der Gegend.
Eines der Schulkinder, die diese Geschichte jedes Jahr hörten, war der 1949 geborene, in Rhoon aufgewachsene Jan Brokken. Seit Mitte der achtziger Jahre gehört er zu den wichtigsten, zeitgenössischen Schriftstellern der Niederlande. Im Herbst 2004 erhielt er durch ehemalige Widerstandskämpfer vertrauliche Berichte, die den Krieg in Rhoon und Umgebung anders darstellten, als Brokken es bisher immer erzählt worden war. Das Stromkabel sei vielleicht gar nicht vom Sturm abgerissen worden, sondern absichtlich dort plaziert worden. Ein Sabotageakt also?
Diese Frage ließ Jan Brokken nicht los, und er begab sich auf eine Spurensuche in die Vergangenheit seiner Heimat. Was er dabei zutage förderte, ist die sehr lesenswerte Mikrostudie eines Dorfes unter der deutschen Besatzung 1940 bis 1945. Er schildert einen zerrissenen Ort in Zeiten des Krieges, in dem Untergetauchte, Widerstandskämpfer, niederländische Nationalsozialisten und deutsche Soldaten Tür an Tür lebten. Er stieß auf rauschende Feste mit den Besatzern, unehelich gezeugte "Wehrmachtskinder", aber auch auf Widerstandsaktionen und zivilen Ungehorsam. Für die einen schien der Krieg eine "Ferienzeit" zu sein, in der alles anders ist, für andere war es die schlimmste Zeit ihres Lebens. Ein bizarrer Mikrokosmos, der bis in die Familien reichte. Während in der Familie de Regt beispielsweise zwei Brüder im Widerstand waren und einer in Deutschland Zwangsarbeit leisten musste, gingen die beiden Töchter mit deutschen Soldaten auf ausgelassene Feiern und vermutlich auch ins Bett.
Als Grundlage des Buches dienten Brokken Tausende Seiten an Dokumenten und Unterlagen, die von seinem Freund und ehemaligen Schulkameraden Bert G. Euser zusammengetragen wurden. Von 2005 bis 2012 führte Euser zudem 185 Interviews mit Zeitzeugen und deren Nachkommen. All dies verknüpfte Brokken akribisch genau zu einer dichten Erzählung über das kleine Rhoon im Zweiten Weltkrieg. Einen Ort, wie es ihn tausendfach im Europa unter deutscher Besatzung gegeben hat. Ist Brokkens Interpretation einer Quelle zweifelhaft oder ungesichert, macht er dies deutlich. So verbindet sich in seinem Text die Ernsthaftigkeit eines Historikers mit der Ausdrucksfähigkeit eines Romanciers.
Und der mögliche Sabotageakt? Da es kein Kriminalroman ist, kann es gesagt werden. Auch Brokken kann es nicht völlig aufklären. Sicher ist, dass die deutsche Patrouille in Wirklichkeit eine kleine Feiergesellschaft aus deutschen Soldaten und niederländischen Mädchen war und dass es Indizien gibt, dass einige Dorfbewohner den "Moffenhuren" und den Deutschen einen Denkzettel verpassen wollten. Hat demnach in Wirklichkeit jemand aus dem Ort das spätere Kriegsverbrechen ausgelöst? Diese Ungewissheit hängt bis heute über Rhoon und lässt die Vergangenheit nicht ruhen. Das dunkle Geheimnis macht es schwer, die Vergangenheit aufzuarbeiten und so ist der Krieg dort bis heute lebendig. Aus diesem Grund ist das Buch auch eine Reise in die niederländische Seele der Nachkriegszeit.
"Krieg bringt nicht nur das Schlechteste und das Beste im Menschen an die Oberfläche, sondern vermischt auch auf seltsame Weise Gut und Böse", schreibt Brokken. In der Tat. Geschichte ist nur selten schwarz und weiß, zumeist ist sie grau. Und Brokken erzählt dieses Grau ausgewogen und meisterhaft.
SEBASTIAN WEITKAMP
Jan Brokken: Die Vergeltung. Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 397 S., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dunkles Geheimnis: Rhoon unter deutscher Besatzung
Der kleine Ort Rhoon liegt im Polderland der Maas südlich von Rotterdam. Lange Zeit erzählte man sich hier jedes Jahr am 4. Mai, dem niederländischen Gedenktag an die Opfer des Zweiten Weltkriegs, dieselbe Geschichte. Jedes Schulkind bekam sie zu hören. Es ist die Geschichte eines schrecklichen deutschen Kriegsverbrechens. In der Nacht vom 10. /11. Oktober 1944 sei eine deutsche Patrouille nahe der Flachsfabrik in ein zufällig herabhängendes Stromkabel geraten, das die Herbststürme von der Mauer gerissen hätten. Ein deutscher Soldat kam durch einen Stromschlag ums Leben. Als Vergeltung dafür erschoss die Wehrmacht einen Tag später willkürlich sieben Männer aus der Gegend.
Eines der Schulkinder, die diese Geschichte jedes Jahr hörten, war der 1949 geborene, in Rhoon aufgewachsene Jan Brokken. Seit Mitte der achtziger Jahre gehört er zu den wichtigsten, zeitgenössischen Schriftstellern der Niederlande. Im Herbst 2004 erhielt er durch ehemalige Widerstandskämpfer vertrauliche Berichte, die den Krieg in Rhoon und Umgebung anders darstellten, als Brokken es bisher immer erzählt worden war. Das Stromkabel sei vielleicht gar nicht vom Sturm abgerissen worden, sondern absichtlich dort plaziert worden. Ein Sabotageakt also?
Diese Frage ließ Jan Brokken nicht los, und er begab sich auf eine Spurensuche in die Vergangenheit seiner Heimat. Was er dabei zutage förderte, ist die sehr lesenswerte Mikrostudie eines Dorfes unter der deutschen Besatzung 1940 bis 1945. Er schildert einen zerrissenen Ort in Zeiten des Krieges, in dem Untergetauchte, Widerstandskämpfer, niederländische Nationalsozialisten und deutsche Soldaten Tür an Tür lebten. Er stieß auf rauschende Feste mit den Besatzern, unehelich gezeugte "Wehrmachtskinder", aber auch auf Widerstandsaktionen und zivilen Ungehorsam. Für die einen schien der Krieg eine "Ferienzeit" zu sein, in der alles anders ist, für andere war es die schlimmste Zeit ihres Lebens. Ein bizarrer Mikrokosmos, der bis in die Familien reichte. Während in der Familie de Regt beispielsweise zwei Brüder im Widerstand waren und einer in Deutschland Zwangsarbeit leisten musste, gingen die beiden Töchter mit deutschen Soldaten auf ausgelassene Feiern und vermutlich auch ins Bett.
Als Grundlage des Buches dienten Brokken Tausende Seiten an Dokumenten und Unterlagen, die von seinem Freund und ehemaligen Schulkameraden Bert G. Euser zusammengetragen wurden. Von 2005 bis 2012 führte Euser zudem 185 Interviews mit Zeitzeugen und deren Nachkommen. All dies verknüpfte Brokken akribisch genau zu einer dichten Erzählung über das kleine Rhoon im Zweiten Weltkrieg. Einen Ort, wie es ihn tausendfach im Europa unter deutscher Besatzung gegeben hat. Ist Brokkens Interpretation einer Quelle zweifelhaft oder ungesichert, macht er dies deutlich. So verbindet sich in seinem Text die Ernsthaftigkeit eines Historikers mit der Ausdrucksfähigkeit eines Romanciers.
Und der mögliche Sabotageakt? Da es kein Kriminalroman ist, kann es gesagt werden. Auch Brokken kann es nicht völlig aufklären. Sicher ist, dass die deutsche Patrouille in Wirklichkeit eine kleine Feiergesellschaft aus deutschen Soldaten und niederländischen Mädchen war und dass es Indizien gibt, dass einige Dorfbewohner den "Moffenhuren" und den Deutschen einen Denkzettel verpassen wollten. Hat demnach in Wirklichkeit jemand aus dem Ort das spätere Kriegsverbrechen ausgelöst? Diese Ungewissheit hängt bis heute über Rhoon und lässt die Vergangenheit nicht ruhen. Das dunkle Geheimnis macht es schwer, die Vergangenheit aufzuarbeiten und so ist der Krieg dort bis heute lebendig. Aus diesem Grund ist das Buch auch eine Reise in die niederländische Seele der Nachkriegszeit.
"Krieg bringt nicht nur das Schlechteste und das Beste im Menschen an die Oberfläche, sondern vermischt auch auf seltsame Weise Gut und Böse", schreibt Brokken. In der Tat. Geschichte ist nur selten schwarz und weiß, zumeist ist sie grau. Und Brokken erzählt dieses Grau ausgewogen und meisterhaft.
SEBASTIAN WEITKAMP
Jan Brokken: Die Vergeltung. Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 397 S., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[...] Brokken zeigt auf eindrucksvolle, ja spannende Weise, dass die Realität des Zweiten Weltkriegs mit simplen Schwarz-Weiß-Mustern nur unzureichend zu beschreiben ist.« Passauer Neue Presse 20150608