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Georgien und seine Nachbarländer Armenien und Aserbaidschan liegen am äußersten östlichen Rand Europas. Es sind uralte Kulturländer und zugleich höchst lebendige Staaten, die sich zwanzig Jahre nach ihrer Loslösung von der Sowjetunion auf einem kurvenreichen Weg in die Moderne befinden. Stephan Wackwitz, Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis, erlebte in Georgien den Machtwechsel 2012 und beobachtet den alltäglichen Kampf um Demokratie und Menschenrechte. Er beschreibt, wie ein immenser Bauboom das Gesicht der Städte für immer verändert. Vor allem aber spürt er den besonderen Atmosphären im…mehr

Produktbeschreibung
Georgien und seine Nachbarländer Armenien und Aserbaidschan liegen am äußersten östlichen Rand Europas. Es sind uralte Kulturländer und zugleich höchst lebendige Staaten, die sich zwanzig Jahre nach ihrer Loslösung von der Sowjetunion auf einem kurvenreichen Weg in die Moderne befinden. Stephan Wackwitz, Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis, erlebte in Georgien den Machtwechsel 2012 und beobachtet den alltäglichen Kampf um Demokratie und Menschenrechte. Er beschreibt, wie ein immenser Bauboom das Gesicht der Städte für immer verändert. Vor allem aber spürt er den besonderen Atmosphären im Herzen des eurasischen Kontinents nach, wo sich nicht nur Westen, Osten und Süden, sondern auch alle Zeiten magisch zu mischen scheinen.

"Die hier versammelten Stücke sind zwischen September 2011 und Juni 2013 in Georgien entstanden, einer Zeit, die hierzulande mehr und erstaunlichere Veränderungen mit sich gebracht hat, als man im Westen unter demokratischen Bedingungen für möglich hält. Besucher, die ein Jahr lang nicht mehr in Tiflis waren, erkennen das Straßenbild nicht wieder. Georgische Politiker, die 2011 fast allmächtig schienen, sitzen 2013 in Untersuchungshaft. Wir Bürger der reichen und freien Gesellschaften diesseits und jenseits des Atlantiks vergessen manchmal, dass Demokratie ein Experiment und der Ausgang von Experimenten offen ist. Der postsowjetische Transformationsprozess im Südkaukasus kann uns daran erinnern. Insofern ist dieses Buch nicht mehr als ein zeithistorischer Zwischenbescheid. Es besteht aus subjektiven Beobachtungen und Reflexionen eines ausländischen und sprachunkundigen fellow travellers während einer kurzen Etappe jener unsicheren und vielfältig gefährdeten Reise eines Landes, deren Ziele Demokratie und Moderne heißen. Ob und wie diese Ziele erreicht werden, ist nirgends ausgemacht. Und dauerhaft erreicht werden sie nie. Aber die georgische Gesellschaft ist aufgebrochen, und wenn ich mich auf meine politischen Intuitionen verlassen kann, war ich in den letzten beiden Jahren Zeuge der Selbstfindung eines neuen Mitglieds in der internationalen Familie der interessanten, widersprüchlichen, rührenden, neurotischen und kreativen Gesellschaften, die wir - wahrscheinlich in Ermangelung eines besseren Worts - als Demokratien bezeichnen." Stephan Wackwitz
Autorenporträt
Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, studierte Germa-nistik und Geschichte in München und Stuttgart. Er leitet heute das Goethe-Institut in Tiflis, nach Stationen in Frankfurt am Main, Neu Delhi, Tokio, München, Krakau, Bratislava
und New York. Neben zahlreichen Aufsätzen erschienen von ihm Romane (›Die Wahrheit über Sancho Pansa‹, ›Walkers Gleichung‹), autobiographische Bücher (›Ein unsichtbares Land‹, ›Neue Menschen‹) sowie die Reisebücher ›Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen‹, ›Osterweiterung‹ und ›Fifth Avenue‹.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit Stephan Wackwitz hat Jörg Plath einen gebildeten Kosmopoliten vor sich, zwar leider ohne fundierte Kenntnisse in Georgisch, Russisch oder auch nur der russischen Literatur, aber das macht nichts, findet der Rezensent. Zumindest im ersten Teil des Essaybandes nämlich vermittelt ihm der Autor flanierend die Atmosphäre des Südkaukasus, höchst reflektiert und zugleich durchsetzt von einer gewissen Melancholie, wie Plath feststellt. Den Wendungen der Texte folgt er willig, bis er in Erewan und Baku landet, wo der Autor der Moderne und der Vormoderne zugleich begegnet und für den Leser gewinnbringend zwischen Traum und Wirklichkeit vermittelt (Plath denkt dabei an Benjamin und Aragon). Dass der Band im Weiteren zwischen Schwulenjagdszenen in Tbilissi und Bushaltestellenbetrachtung "ausfranst", hält Plath für bedauerlich, soziologisch, architektur- und mentalitätsgeschichtlich hat ihm der Autor da allerdings bereits nachhaltig imponiert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2014

Die Angst reicht bis auf die Gipfel des Kaukasus

Stephan Wackwitz ist unser Mann in Georgien. Der Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis kennt die Menschen im Kaukasus, ihren Alltag - und ihre Sorge angesichts der übermächtigen Russen.

Längst haben die Kaukasusstaaten ihren Status als weltpolitische Eckensteher verloren. Nach dem Ende des Sowjetimperiums stehen sie vor der Aufgabe, sich in neu gewonnener Souveränität in den Bündnissen der Staatengemeinschaft als eigenständig zu positionieren. Ihr Abschied aus der erzwungenen Bedeutungslosigkeit erfolgt dabei im Schatten eines übermächtigen russischen Nachbarn, für den der Verlust seiner früheren Republiken wie ein Phantomschmerz wirkt, der Annexionswünsche wachhält und selbst militärische Interventionen nicht ausschließt. Ungelöste Territorialansprüche brechen immer wieder auf und machen die Region dauerhaft instabil.

Vielerorts bestimmt die archaische Logik der Rache das Verhältnis untereinander. Was nach außen beschönigend und ratlos deskriptiv als "frozen conflict" erscheint, erzeugt nicht mehr als eine gefährliche Selbstlähmung, wie etwa im Streit zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Provinz Karabach deutlich wird. So zerklüftet wie das Gebirge, so brüchig sind die Beziehungen der Völker untereinander. Die folkloristisch gepflegte Vielfalt, in der sie sich infolge einer abstrus willkürlichen Siedlungspolitik unter Stalins Diktatur zu arrangieren hatten, verwandelt sich in Feindschaft, wenn der Stolz auf die eigene Nation nicht mehr ethnisch, sondern politisch zu artikulieren ist.

Politisch unerfahren, gewöhnt sich die Bevölkerung nur schwer daran, ihre gewählten Vertreter am erfolgreichen Durchsetzen von Kompromissen zu messen. Sie erwarten Heldentum und Kampferfahrung statt "Politik als Beruf" und halten von daher alles, seien es Personen oder Institutionen, für korrupt, was sich auf den öffentlichen Raum bezieht. Nicht verwunderlich ist es deshalb, dass die Staaten von einer Politik des Ausgleichs der Interessen, des Ausbaus demokratischer Teilhabe, einer minimalen wohlfahrtsstaatlichen Unterstützung der Armen sowie der Modernisierung ihrer Bildungseinrichtungen derzeit weit entfernt sind. Sie wären Voraussetzung dafür, den endemischen Bevölkerungsexodus, vor allem der akademischen Intelligenz, aufzuhalten.

Wie es angesichts einer forcierten Modernisierung der Gesellschaften um Alltagsnormen und Lebensgefühle der Menschen bestellt ist, welche Wege im Einzelnen aus der "Heiligkeit der Tradition" (Max Weber) genommen werden, ist von außen schwer einzuschätzen. Konsultiert man die heimische Literatur, stößt man auf Selbstverklärung und heroische Bergvölkerromantik. Die zarten Pflanzen des Tourismus, die in den Bergen des Kaukasus oder an den Küsten des Schwarzen Meers allmählich zu blühen beginnen, sind wenig geeignet, ein differenziertes Bild entstehen zu lassen. Sie bedienen die üblichen Klischees von kulinarisch unterstrichener Gastfreundschaft.

Unter den wenigen erhellenden Porträts der Mentalitäten jenseits der soziologischen oder politikwissenschaftlichen Expertise, aber auch in Abgrenzung vom touristischen Prospekt sticht die jüngst von Stephan Wackwitz vorgelegte Sammlung von Essays besonders wohltuend hervor. Wackwitz, gegenwärtiger Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis, der seine früheren beruflichen Erfahrungen in Stationen von Tokio bis Krakau oder New York erfolgreich literarisch gewürdigt hat, liefert zu den drei Hauptstädten Eriwan, Baku und Tiflis aufschlussreiche ethnographische Porträts. Der Untertitel "Vergessene Mitte der Welt" rückt die geopolitisch brisante Lage, die Handelswege und den Brückenkopf der Region zwischen Orient und Okzident in den Blick und zeichnet die bei gleicher Lage unterschiedlichen kulturellen Eigenarten nach, mit denen die drei Länder ihren Weg in die Moderne suchen.

In Baku sind es die architektonischen Reste der Sowjetzeit, die mit den Monumentalbauten aus dem unverändert sprudelnden Ölreichtum ein bizarres Amalgam bilden, Kulisse für den Anspruch Aserbaidschans, einen schiitisch-islamischen Sonderweg und eine regionale Führungsmacht zu repräsentieren. In Eriwan geht er, inspiriert von der "Kaskade" genannten gigantischen Treppenachse, die die Stadt wie einen Radius teilt, den planerischen Motiven im geometrischen Exposé der Stadt nach, Spiegel des futuristisch starren Gestaltungsoptimismus des in Petersburg ausgebildeten Architekten Tamanjan aus frühkommunistischer Zeit. In Georgien registriert Wackwitz ohne ästhetischen Degout oder Voreingenommenheit das atemberaubende Tempo, in dem sich das Stadtbild von Tiflis verändert hat, initiiert vom "pharaonischen Furor" des georgischen Präsidenten Saakaschwili.

Originell interpretiert sind Bushaltestellen, geradezu verspielt anmutende idiosynkratische Beton-Überbleibsel aus der Sowjetzeit, die den Tausende Kilometer umfassenden Transit im großen sowjetischen Reich mit einem Symbol der Zugehörigkeit versahen.

Wackwitz, der Georgien und Tiflis den Großteil seiner Reflexionen widmet, erlebt zwei Gesichter georgischer Mentalität, den Enthusiasmus des "georgischen Traums", mit dem der charismatische Unternehmer Iwanischwili sein jahrelanges, entschieden eigenwilliges Engagement für den Aufbau der Infrastruktur organisatorisch bündelt, er erfährt jedoch auch vom Kräftepotential der georgischen Nationalbewegung, die in ihrem Kampf gegen die vorsichtigen Versuche diskriminierter Minderheiten, sich im Schlepptau der Modernisierung zu Wort zu melden, das archaisch kämpferische bis brutale Gegengewicht der normativ erschütterten Bevölkerung spürbar werden lässt.

Seit je hat der Kaukasus nicht nur Literaten fasziniert. Schon Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich etwa Werner von Siemens von Land und Bevölkerung des Kaukasus berauschen. Vom Erfolg seines Unternehmens in der Elektrifizierung des Russischen Reiches ermutigt, scheut er das Abenteuer nicht, in Georgien in den Kupferbergbau zu investieren, unterlegt von der Phantasie, dem "stillen Sehnen nach den Urstätten menschlicher Kultur" zu folgen, wie er seinen Reiseerinnerungen anvertraut. Noch heute geben in einem der schönsten Stadtviertel von Tiflis zwei prachtvolle Villen Zeugnis von der Gewissheit, im Kaukasus das Paradies entdeckt zu haben.

Es ist ein Verdienst von Stephan Wackwitz, dem bleibenden Reiz der Region in einer beeindruckend präzisen historischen Tiefendimension nachgespürt zu haben. Seine Perspektive folgt der Tradition eines reflektierenden Essayismus, inspiriert durch seine essayistischen Vorbilder Walter Benjamin und Louis Aragon, im beobachtenden Duktus zwischen Abenteurer und Flaneur, vom Sozialtypus her somit aus der Position der Kaffeehausintelligenz. In dem fast immer angenehm zu lesenden Stil gelingen ihm treffsichere Vignetten aus dem Alltagsleben, die dank sorgfältiger historischer Recherche mit hinreichend analytischer Distanz und ethnographischer Genauigkeit die Besonderheiten einer sozialgeschichtlich wie weltpolitisch außerordentlich spannenden Region gekonnt herausarbeiten. Mehr als ein "zeithistorischer Zwischenbescheid", eher die gelungene Einladung zu einer Entdeckungstour.

TILMANN ALLERT

Stephan Wackwitz: "Die vergessene Mitte der Welt". Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 256 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.05.2014

Achteinhalb im Kaukasus
Stephan Wackwitz durchstreift Tiflis, Baku und Eriwan.
„Die vergessene Mitte der Welt“ heißt das Buch, das daraus entstanden ist
VON KARL-MARKUS GAUSS
Es dauert nicht lange, bis der deutsche Intellektuelle dem Charme von Tiflis erliegt. Ziellos, doch ausdauernd wandert er durch die georgische Hauptstadt, staunt, dass er durch verschiedene Welten und Zeiten zu kommen scheint und ihn vieles rätselhaft vertraut, anderes faszinierend fremd anmutet. Da er ein Intellektueller ist, sind ihm all die schönen Dinge, die er sieht, hört, riecht, schmeckt, natürlich nicht genug; er will auch wissen, warum ihn diese Dinge ergreifen. Bald findet er einen Namen für das Gefühl, das er empfindet: „8 ½.“ So lautete der Titel eines Films von Fellini, und genau durch diesen Film glaubt der 1952 geborene Stephan Wackwitz zu gehen, wenn er in Tiflis unterwegs ist.
  Was ihm in den Sinn kommt, ist das Italien der späten Sechzigerjahre, in denen er wie Abertausende politisch links gestimmte Jugendliche aus dem Norden ein Land im Süden entdeckte, das sich noch nicht allen Zwängen der Modernisierung gefügt hatte. Jetzt, am äußersten Rande Europas, an der Grenzstation zum Morgenland, begegnet er dem italienischen Gefühl von damals wieder. Als selbstreflexivem Melancholiker ist ihm die Widersprüchlichkeit seiner Empfindungen durchaus bewusst: „Die jungen Georgier wollten und wollen nach Westen, und ihrer Sehnsucht dorthin fühle ich mich verbunden, sowenig ich selber im Westen, wo die Moderne schon im letzten Jahrhundert gesiegt hat, noch dauerhaft leben will. Die Amerikanisierung hat meine Sympathie, aber in Amerika bleiben wollte ich dann schon bald nicht mehr.“ Ehe Stephan Wackwitz, der etliche kluge Bücher geschrieben und in den Goethe-Instituten von Tokio, Bratislava, Krakau gearbeitet hat, nach Tiflis kam, hatte er ein paar Jahre in New York gelebt.
  Georgien, Armenien, Aserbaidschan sind drei aus der Zerfallsmasse der Sowjetunion wiedererstandene Staaten, die miteinander in heftigem Konflikt liegen, aber dieselbe Geschichte teilen: Der Kaukasus, eine der ältesten Kulturlandschaften der Welt, war über die Jahrhunderte ein von imperialen Mächten umkämpftes Gebiet. Die russischen Zaren, die persischen Fürsten, die osmanischen Wesire, die englischen Ölbarone, die deutschen Generäle – sie alle wollten den Kaukasus militärisch erobern, kulturell unterwerfen, ökonomisch ausplündern. 1989 waren es mit den drei baltischen diese drei kaukasischen Sowjetrepubliken, die am heftigsten für ihre staatliche Unabhängigkeit kämpften. Alle drei Staaten haben es bisher zu keiner echten Demokratisierung geschafft – das von wirtschaftlichen Krisen heimgesuchte Georgien ist darin wohl am weitesten fortgeschritten, das ökonomisch boomende Aserbaidschan am weitesten zurückgeblieben.
  Tiflis, Eriwan, Baku, das sind die drei Metropolen, die Wackwitz vom Herbst 2011 bis zum Sommer 2013 bereist hat: getrieben von der Neugier, diese „vergessene Mitte der Welt“ zu erkunden, aber ebenso beflügelt von dem Verlangen, sich selbst auf die Spur zu kommen. Immer wieder fragt er sich: Was ist es, das mich an diesen Orten so fasziniert? Und er kommt stets auf seine Generalthese zurück: Was ihn anzieht, ist die Tatsache, dass die Moderne sich hier noch in ihrer „heroisch-romantischen Phase“ befindet und sie von den jungen, aufbegehrenden Menschen ersehnt wird, aber eben noch nicht auf allen Linien gesiegt hat. Alle drei kaukasischen Hauptstädte sind gerade dabei, alte, ihnen oft auch aufgezwungene Traditionen abzustreifen und neue staatliche, gesellschaftliche, kulturelle Formen durchzusetzen. Das zeitigt neben manch erfreulichen auch einige barbarische Folgen.
  Wackwitz erkundet die Städte als aufmerksamer urbaner Wanderer, der in seinem geistigen Gepäck historisches Wissen und eine hohe selbstreflexive Bildung mit sich führt. In Eriwan grübelt er darüber, wie eine ursprünglich für 120 000 Einwohner konzipierte Stadt, die von einem Ring umschlossen ist und wegen der enormen innerstädtischen Höhenunterschiede von einer Unzahl an Treppen durchschnitten wird, sich zur Millionenstadt erweitern und dabei doch den Grundriss, gewissermaßen ihr spezifisches Urgefühl bewahren konnte. In Baku am Kaspischen Meer hingegen findet er, anfänglich begeistert, was sich für einen Europäer unvereinbar ausnimmt: „Paris, den Ozean und mittelalterliche islamische Architektur.“
  Doch Baku, das in zweiter Generation von der Familie Alijew beherrscht wird, ist auch ein Aufmarschgebiet jener Moderne, die Wackwitz selbst aus dem Westen immer weiter in den Osten hat ziehen lassen. Im Zentrum der alten Stadt verfällt das einfallslos gemäß einer globalisierten Moderne konzipierte und nach dem Despoten benannte Heydar-Aliyev-Kulturzentrum, bevor es überhaupt in Betrieb genommen worden wäre; gebaut hat es der Architekturkonzern der Zara Hadid, wie die autoritären Staaten Asiens und Arabiens überhaupt das Eldorado westlicher Stararchitekten sind, die sich, einzig dem Größenwahn der Bauherrn verpflichtet, von Abu Dhabi bis Malaysia austoben dürfen, ohne auf Anrainer, Umweltschutzaktivisten, Gewerkschaften Rücksicht nehmen zu müssen. Als einzigartige urbane Schöpfung hat Baku, das in seiner Geschichte Aberdutzende Male erobert wurde, sogar die Ära der Sowjetisierung relativ unbeschadet überstanden; dass es sich wider die rabiate Modernisierung nach westlichem Maßstab noch lange wird behaupten können, muss Wackwitz leider bezweifeln. 2019 soll der Baku-Tower fertiggestellt sein, der einen Kilometer in die Höhe ragen wird.
Vom Kaukasus ist in den weltpolitischen Nachrichten oft die Rede, und meistens keine gute. Was das überhaupt für eine seltsame Welt ist, in der, weit entfernt von uns und in Wahrheit doch so nah, die Völker aufeinander schlagen, das können politische Berichte jedoch kaum vermitteln. Dazu braucht es literarische Reporter, die sich über die politischen und historischen Fakten informiert haben, sich aber auch auf ihre eigenen Wege ins Unbekannte machen. Und dabei nicht vergessen, die Vorurteile, Wünsche, Illusionen zu bedenken, die sie selber mit sich schleppen.
Dieser urbane Wanderer
will stets auch wissen, warum er
ergriffen, berührt ist
      
  
Stephan Wackwitz:
Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2014.
256 Seiten, 19,99 Euro, E-Book 17,99 Euro.
Moderne in ihrer heroisch-romantischen Phase: eine neue Brücke in Tiflis, 2010.
Foto: Vanon Shlamov/AFP
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Mit umfassender Belesenheit und Bildung macht Wackwitz sich ans landes- und gefühlskundliche Forschen, wodurch er Atmosphären und Architekturen überhaupt erst lesbar macht und analytisch erschließt. Eva Behrendt taz
Wackwitz erkundet die Städte als aufmerksamer urbaner Wanderer, der in seinem geistigen Gepäck historisches Wissen und eine hohe selbstreflexive Bildung mit sich führt. Karl-Markus Gauss Süddeutsche Zeitung 20140512