Es könnte auch alles ganz anders gewesen sein: Odysseus entscheidet sich gegen den Bau des Trojanischen Pferdes; Polyphem, der bösartige Zyklop, ist ein sanftmütiger Riese; Penelope, des Wartens müde, hat längst einen anderen geheiratet oder aber: Als der Held endlich im heimatlichen Ithaka angekommen ist, langweilt er sich bald so sehr, daß er erneut die Segel hißt ... In seinem hochgelobten Debütroman erfindet Zachary Mason Homers Epos vom listenreichen Odysseus und seinen Irrfahrten ganz neu. Spielerisch packt Mason den Klassiker, stellt ihn auf den Kopf und präsentiert einen frischen, zeitgenössischen Roman über die Reise eines Mannes zu sich selbst. Und schafft dabei mit leichter Hand die Illusion, daß dieses Buch der verlorengegangene Urtext von Homers Meisterwerk sein könnte. Mason ist ein wunderbar amüsantes, kluges und wagemutiges Buch gelungen, das den postmodernen Erzählungen von Jorge Luis Borges und Italo Calvino in nichts nachsteht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2012Eine Odyssee aus dem Geist des Digitalen
Variationen eines Mythos: Der Amerikaner Zachary Mason verwandelt das homerische Epos in eine Odyssee, in der die antiken Heldengestalten ganz modern und ganz bei sich sein dürfen.
Als "einfach blendend" hat die "New York Times" das erste literarische Werk des fünfunddreißig Jahre alten Zachary Mason gefeiert, das sehr schnell - und ebenfalls blendend - von Martina Tichy für den Suhrkamp Verlag ins Deutsche übertragen worden ist. Sowohl das amerikanische Original wie die Übersetzung stellen das Buch als "Roman" vor, doch das ist eine irreführende Vororientierung für potentielle Leser. Denn die Rahmenfiktion, mit der Mason seine vierundvierzig (meist kurzen) Texte präsentiert, liegt in der literaturhistorisch zunächst plausiblen Vorstellung, dass aus der im Wortlaut und den Inhalten typisch fluiden mündlichen Überlieferung der Odyssee "vierundvierzig kurzgefasste Variationen, die auf abgedroschene epische Formeln verzichten und stattdessen eine einzelne Trope oder ein Bild zu äußerster Klarheit destillieren, auf einem präptolemäischen Papyrus" fixiert worden sind und "in den staubtrockenen Abfallhügeln von Oxyrhynchos ausgegraben wurden".
So erklärt sich der Titel des Buchs: "Die verlorenen Bücher der Odyssee" - obwohl auch er keinen adäquaten Eindruck gibt, weil sich diese Variationen des homerischen Epos kaum zu einem komplexen Supplement zusammenfügen lassen, das als "Roman" die Illusion einer vollständigeren "Odyssee" hervorbringen könnte. Relevant für den Geschmack und möglicherweise für die Absicht des Autors ist aber die Bemerkung, dass die angeblich im Staub Griechenlands entdeckten Fragmente "auf abgedroschene epische Formeln verzichten".
Zachary Masons Vertrautheit mit der Welt Homers erinnert tatsächlich an das Wissen der großen Altphilologen (wie etwa Wilamowitz-Moellendorff) und der vor allem von der Antike inspirierten Autoren der Vergangenheit (zum Beispiel Hölderlin), was auf den ersten Blick wenigstens umso erstaunlicher wirkt, als er im Alltag für eine Start-up-Firma in Silicon Valley an Programmen für Suchmaschinen arbeitet. Doch zum einen ist Masons enthusiastische Kompetenz für die Texte der Antike kein Einzelfall in der Kultur der Vereinigten Staaten, wo die Klassiker in den College-Curricula einen zentralen Platz einnehmen. Zum Zweiten aber hat dieser Autor deutlich gemacht, wie das digitale Umfeld seine Vorstellung vom Ursprung der klassischen Texte in einer eher cartesianischen als romantischen Form geprägt hat: "Die romantische Idee, dass Dichtung aus einem Ur-Stoff hervorgeht, ist gut und schön, aber ich denke, sie ist auch einfach falsch. Ich bin überzeugt, dass sich alles Geistige in Begriffe und unser Herz in Erkenntnis überführen lässt. Wer kein Mystiker ist und nicht an die Existenz einer ,Seele' glaubt, der muss zu dem wissenschaftlichen Schluss kommen, dass der Geist - ganz wörtlich - wie ein Computer funktioniert."
Aus alteuropäischer Perspektive mag solch ein philosophisch-poetisches Glaubensbekenntnis vorab das Schlimmste befürchten lassen. Wer sich jedoch auf die "Verlorenen Bücher der Odyssee" einlässt, der wird eines viel Besseren belehrt. Analog zu ihrem mit einzelnen kurzen Texten einsetzenden Entstehungsprozess entwickeln Masons vierundvierzig Fragmente mögliche alternative Geschichten und Reflexionen zum Epos des Odysseus - und nicht selten erreichen sie eine in der Tat strahlende literarische Qualität. Besonders intensiv und vielfältig sind die Variationen über die Rückkehr des Helden nach Ithaka: Zu ihnen gehört selbstredend die Vorstellung, dass Penelope längst eines anderen Mannes Frau geworden ist, aber auch die narrativ-barocke Schleife einer Lebensgeschichte jenes Schweinehirten, auf den Homer den Odysseus bei seiner Ankunft stoßen lässt, oder der Albtraum von einer Insel, auf der seit dem Aufbruch ihres Herrschers alles Leben abgestorben ist.
Andere Texte malen die Gefühle der mythischen Gestalten aus, auf die Odysseus bei seinen Fahrten trifft: Eindrucksvoll ist da die Phantasie von der aus wütender Verzweiflung in stoisch schöne Gelassenheit übergehenden Existenz des geblendeten Zyklopen. Manche Fragmente führen von den vielfältigen Schauplätzen der Odyssee zurück zur Schlacht um Troja und zu überraschend neuen Bildern von den Helden der "Ilias", wie dem unbesiegbaren Achilles, dem dumpfen Menelaos, dem machtbesessenen Agamemnon oder der alle Männer entwaffnenden Helena. Literarisch ehrgeiziger und deshalb weniger gelungen sind jene Texte, die das Epos als eine Geburt der Phantasie von Odysseus vorzustellen versuchen - während Masons anderes Leitmotiv von der erotischen Anziehungskraft des Helden für die Göttin Athene an manchen Stellen durchaus bewegend ist.
Die meisten dieser literarischen Phantasien führen also in das vorgestellte psychische Innenleben der homerischen Protagonisten, die Mason deshalb nicht selten für sich selbst sprechen lässt - und so entfernen sie sich zugleich von der Welt der Antike, in deren Gestalten die Psyche ganz absorbiert war von ihrem Verhalten und ihren Taten. Wer Masons Bemerkungen zur Computer-Ähnlichkeit der literarischen Imagination und zu den "abgedroschenen epischen Formeln" der Antike ernst nimmt (und es gibt keinerlei Grund, es nicht zu tun), der muss annehmen, dass dem Autor selbst dieser profunde Perspektiven-Gegensatz zwischen der antiken und der modernen Welt nicht bewusst ist.
Aber da seine Texte literarische Texte sein wollen, wäre es ganz und gar unangemessen, sie nach Kriterien der historischen Wahrheit zu beurteilen. Im Gegenteil, einige der großen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, auf die sich Zachary Mason beruft und die er besonders bewundert - wie Jorge Luis Borges oder Italo Calvino -, haben gerade solche Spannungen in der modernen Rückwendung auf vormoderne Texte, Diskurse und Gattungen zu einer besonderen literaturästhetischen Faszination ausgebildet. Und auch in den "Verlorenen Büchern der Odyssee" erwächst aus historischen Paradoxien wie einem stoischen Zyklopen, einer ganz bewusst pragmatischen Penelope und einem Odysseus, der dem Unterbewussten auf die Spuren kommen will, eine besondere intellektuelle Komplexität und zuweilen ein besonderer literarischer Zauber.
Eine heute ganz außergewöhnlich gewordene Bildung müssen diese Leser allerdings mitbringen, um sich an seinen Texten erfreuen zu können, denn immer wieder spielen sie ja mit den kanonischen Versionen der homerischen Texte und ihren mythologischen Voraussetzungen (manchmal so intensiv, dass sich der Autor - oder vielleicht eher sein Lektorat - verpflichtet sah, ab und an Fußnoten einzufügen, die mit dem Fluss der Lektüre freilich unangenehm interferieren). Noch zentraler als klassische Wissensbestände scheint eine bestimmte kulturelle Disposition für die Wirkung von Zachary Masons Buch zu sein. Denn es vollzieht ja - an sozusagen "gegenstrebigem" historischem Primär-Material - jene "cartesianische" Konzentration auf Geist und Psyche zuungunsten von Äußerlichkeit und Physis, die schon immer eine Signatur der Moderne gewesen ist und sich nun im elektronischen Zeitalter zur Ausschließlichkeit gesteigert hat.
Zachary Masons Odyssee ist, so gesehen, eine Odyssee unserer digitalen Gegenwart, in der die alles konzentrierende Körperlichkeit der antiken Heldengestalten zerspringt, um sich in vielfache Dimensionen der Introspektion zu entladen. Darin liegt der geschichtliche Indexwert und die ästhetische Anziehungskraft seiner bemerkenswerten Premiere auf der internationalen literarischen Bühne.
Wer also an Werken wie denen von Borges oder Calvino nicht genug hat, der wird zu einem begeisterten Leser von Zachary Mason werden. Doch wer so beinahe unerträglich romantisch ist (im historischen Sinn), dass er sich nach der antiken homerischen Welt und ihrer objektiven Äußerlichkeit sehnt, weil er den Verlust von Substanz, Objektivität und Sinnlichkeit in der digitalen Welt bedauert, der wird Mason zwar nicht seine Anerkennung versagen, aber eine ein- oder zweisprachige Lektüre von Homers klassischen Texten - mit all ihren epischen Formeln - vorziehen gegenüber den "Verlorenen Büchern der Odyssee". Wir mögen in der Gegenwart der Computer gelernt haben, dass die menschliche Existenz ohne die Annahme eines "Ur-Stoffs" auskommen kann. Doch dass es möglich ist, auf etwas zu verzichten, löscht nicht notwendig die unterdrückte Begierde. Am Brustpanzer von Pallas Athene bin ich allemal mehr interessiert als an ihrer Psychomachie.
HANS ULRICH GUMBRECHT
Zachary Mason: "Die verlorenen Bücher der Odyssee". Roman.
Aus dem Englischen von Martina Tichy. Suhrkamp Verlag. Berlin 2012. 230 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Variationen eines Mythos: Der Amerikaner Zachary Mason verwandelt das homerische Epos in eine Odyssee, in der die antiken Heldengestalten ganz modern und ganz bei sich sein dürfen.
Als "einfach blendend" hat die "New York Times" das erste literarische Werk des fünfunddreißig Jahre alten Zachary Mason gefeiert, das sehr schnell - und ebenfalls blendend - von Martina Tichy für den Suhrkamp Verlag ins Deutsche übertragen worden ist. Sowohl das amerikanische Original wie die Übersetzung stellen das Buch als "Roman" vor, doch das ist eine irreführende Vororientierung für potentielle Leser. Denn die Rahmenfiktion, mit der Mason seine vierundvierzig (meist kurzen) Texte präsentiert, liegt in der literaturhistorisch zunächst plausiblen Vorstellung, dass aus der im Wortlaut und den Inhalten typisch fluiden mündlichen Überlieferung der Odyssee "vierundvierzig kurzgefasste Variationen, die auf abgedroschene epische Formeln verzichten und stattdessen eine einzelne Trope oder ein Bild zu äußerster Klarheit destillieren, auf einem präptolemäischen Papyrus" fixiert worden sind und "in den staubtrockenen Abfallhügeln von Oxyrhynchos ausgegraben wurden".
So erklärt sich der Titel des Buchs: "Die verlorenen Bücher der Odyssee" - obwohl auch er keinen adäquaten Eindruck gibt, weil sich diese Variationen des homerischen Epos kaum zu einem komplexen Supplement zusammenfügen lassen, das als "Roman" die Illusion einer vollständigeren "Odyssee" hervorbringen könnte. Relevant für den Geschmack und möglicherweise für die Absicht des Autors ist aber die Bemerkung, dass die angeblich im Staub Griechenlands entdeckten Fragmente "auf abgedroschene epische Formeln verzichten".
Zachary Masons Vertrautheit mit der Welt Homers erinnert tatsächlich an das Wissen der großen Altphilologen (wie etwa Wilamowitz-Moellendorff) und der vor allem von der Antike inspirierten Autoren der Vergangenheit (zum Beispiel Hölderlin), was auf den ersten Blick wenigstens umso erstaunlicher wirkt, als er im Alltag für eine Start-up-Firma in Silicon Valley an Programmen für Suchmaschinen arbeitet. Doch zum einen ist Masons enthusiastische Kompetenz für die Texte der Antike kein Einzelfall in der Kultur der Vereinigten Staaten, wo die Klassiker in den College-Curricula einen zentralen Platz einnehmen. Zum Zweiten aber hat dieser Autor deutlich gemacht, wie das digitale Umfeld seine Vorstellung vom Ursprung der klassischen Texte in einer eher cartesianischen als romantischen Form geprägt hat: "Die romantische Idee, dass Dichtung aus einem Ur-Stoff hervorgeht, ist gut und schön, aber ich denke, sie ist auch einfach falsch. Ich bin überzeugt, dass sich alles Geistige in Begriffe und unser Herz in Erkenntnis überführen lässt. Wer kein Mystiker ist und nicht an die Existenz einer ,Seele' glaubt, der muss zu dem wissenschaftlichen Schluss kommen, dass der Geist - ganz wörtlich - wie ein Computer funktioniert."
Aus alteuropäischer Perspektive mag solch ein philosophisch-poetisches Glaubensbekenntnis vorab das Schlimmste befürchten lassen. Wer sich jedoch auf die "Verlorenen Bücher der Odyssee" einlässt, der wird eines viel Besseren belehrt. Analog zu ihrem mit einzelnen kurzen Texten einsetzenden Entstehungsprozess entwickeln Masons vierundvierzig Fragmente mögliche alternative Geschichten und Reflexionen zum Epos des Odysseus - und nicht selten erreichen sie eine in der Tat strahlende literarische Qualität. Besonders intensiv und vielfältig sind die Variationen über die Rückkehr des Helden nach Ithaka: Zu ihnen gehört selbstredend die Vorstellung, dass Penelope längst eines anderen Mannes Frau geworden ist, aber auch die narrativ-barocke Schleife einer Lebensgeschichte jenes Schweinehirten, auf den Homer den Odysseus bei seiner Ankunft stoßen lässt, oder der Albtraum von einer Insel, auf der seit dem Aufbruch ihres Herrschers alles Leben abgestorben ist.
Andere Texte malen die Gefühle der mythischen Gestalten aus, auf die Odysseus bei seinen Fahrten trifft: Eindrucksvoll ist da die Phantasie von der aus wütender Verzweiflung in stoisch schöne Gelassenheit übergehenden Existenz des geblendeten Zyklopen. Manche Fragmente führen von den vielfältigen Schauplätzen der Odyssee zurück zur Schlacht um Troja und zu überraschend neuen Bildern von den Helden der "Ilias", wie dem unbesiegbaren Achilles, dem dumpfen Menelaos, dem machtbesessenen Agamemnon oder der alle Männer entwaffnenden Helena. Literarisch ehrgeiziger und deshalb weniger gelungen sind jene Texte, die das Epos als eine Geburt der Phantasie von Odysseus vorzustellen versuchen - während Masons anderes Leitmotiv von der erotischen Anziehungskraft des Helden für die Göttin Athene an manchen Stellen durchaus bewegend ist.
Die meisten dieser literarischen Phantasien führen also in das vorgestellte psychische Innenleben der homerischen Protagonisten, die Mason deshalb nicht selten für sich selbst sprechen lässt - und so entfernen sie sich zugleich von der Welt der Antike, in deren Gestalten die Psyche ganz absorbiert war von ihrem Verhalten und ihren Taten. Wer Masons Bemerkungen zur Computer-Ähnlichkeit der literarischen Imagination und zu den "abgedroschenen epischen Formeln" der Antike ernst nimmt (und es gibt keinerlei Grund, es nicht zu tun), der muss annehmen, dass dem Autor selbst dieser profunde Perspektiven-Gegensatz zwischen der antiken und der modernen Welt nicht bewusst ist.
Aber da seine Texte literarische Texte sein wollen, wäre es ganz und gar unangemessen, sie nach Kriterien der historischen Wahrheit zu beurteilen. Im Gegenteil, einige der großen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, auf die sich Zachary Mason beruft und die er besonders bewundert - wie Jorge Luis Borges oder Italo Calvino -, haben gerade solche Spannungen in der modernen Rückwendung auf vormoderne Texte, Diskurse und Gattungen zu einer besonderen literaturästhetischen Faszination ausgebildet. Und auch in den "Verlorenen Büchern der Odyssee" erwächst aus historischen Paradoxien wie einem stoischen Zyklopen, einer ganz bewusst pragmatischen Penelope und einem Odysseus, der dem Unterbewussten auf die Spuren kommen will, eine besondere intellektuelle Komplexität und zuweilen ein besonderer literarischer Zauber.
Eine heute ganz außergewöhnlich gewordene Bildung müssen diese Leser allerdings mitbringen, um sich an seinen Texten erfreuen zu können, denn immer wieder spielen sie ja mit den kanonischen Versionen der homerischen Texte und ihren mythologischen Voraussetzungen (manchmal so intensiv, dass sich der Autor - oder vielleicht eher sein Lektorat - verpflichtet sah, ab und an Fußnoten einzufügen, die mit dem Fluss der Lektüre freilich unangenehm interferieren). Noch zentraler als klassische Wissensbestände scheint eine bestimmte kulturelle Disposition für die Wirkung von Zachary Masons Buch zu sein. Denn es vollzieht ja - an sozusagen "gegenstrebigem" historischem Primär-Material - jene "cartesianische" Konzentration auf Geist und Psyche zuungunsten von Äußerlichkeit und Physis, die schon immer eine Signatur der Moderne gewesen ist und sich nun im elektronischen Zeitalter zur Ausschließlichkeit gesteigert hat.
Zachary Masons Odyssee ist, so gesehen, eine Odyssee unserer digitalen Gegenwart, in der die alles konzentrierende Körperlichkeit der antiken Heldengestalten zerspringt, um sich in vielfache Dimensionen der Introspektion zu entladen. Darin liegt der geschichtliche Indexwert und die ästhetische Anziehungskraft seiner bemerkenswerten Premiere auf der internationalen literarischen Bühne.
Wer also an Werken wie denen von Borges oder Calvino nicht genug hat, der wird zu einem begeisterten Leser von Zachary Mason werden. Doch wer so beinahe unerträglich romantisch ist (im historischen Sinn), dass er sich nach der antiken homerischen Welt und ihrer objektiven Äußerlichkeit sehnt, weil er den Verlust von Substanz, Objektivität und Sinnlichkeit in der digitalen Welt bedauert, der wird Mason zwar nicht seine Anerkennung versagen, aber eine ein- oder zweisprachige Lektüre von Homers klassischen Texten - mit all ihren epischen Formeln - vorziehen gegenüber den "Verlorenen Büchern der Odyssee". Wir mögen in der Gegenwart der Computer gelernt haben, dass die menschliche Existenz ohne die Annahme eines "Ur-Stoffs" auskommen kann. Doch dass es möglich ist, auf etwas zu verzichten, löscht nicht notwendig die unterdrückte Begierde. Am Brustpanzer von Pallas Athene bin ich allemal mehr interessiert als an ihrer Psychomachie.
HANS ULRICH GUMBRECHT
Zachary Mason: "Die verlorenen Bücher der Odyssee". Roman.
Aus dem Englischen von Martina Tichy. Suhrkamp Verlag. Berlin 2012. 230 S., geb., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ein großes Vergnügen war für den Rezensenten Dirk Pilz das verwickelte Spiel, das der kalifornische Fachmann Künstlich Intelligenz Zachary Mason mit seinen Leser spielt. Mason erzählt die Geschichte der Odyssee neu, denn, so haben seine Nachforschungen ergeben, ist die Fassung des Homer ja nicht die einzige überlieferte. In der von Mason verfolgten Version kommt Odysseus auch nach zwanzigjähriger Irrfahrt nicht nach Hause nach Ithaka, denn er begreift sofort, als er Penelope brav am Webstuhl sitzt, dass dies die böswillige Täuschung einer rachsüchtigen Göttin" sein muss. Aus all dem Denk- und Vorstellbaren, das sisch aus dieser Situation ergibt, macht Mason, wie Pilz versichert einen wahren Weltroman: "Was ganz Feines."
© Perlentaucher Medien GmbH
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