Eisvogel, Brombeere, Zaunkönig - was, wenn die Wörter für die lebendige Natur unbemerkt aus der Sprache, den Märchen und Geschichten, der Wirklichkeit verschwänden? Was wir nicht benennen, können wir nicht wertschätzen. Dieses Buch ist der Gegenzauber zu Beton, Feinstaub und Entfremdung. Die prächtigen Aquarelle von Jackie Morris weisen den Weg in einen geheimen Garten, zu dem jeder den Schlüssel besitzt. Glockenblume, Efeu und Lerche harren gleich vor unserer Haustür ihrer Neu- und Wiederentdeckung. Golden strahlt der Löwenzahn auf dem Fußballplatz, neugierig betrachtet uns der Star von seiner Ehrenloge auf dem Telefonmast. Robert Macfarlanes von Daniela Seel ins Deutsche gebrachte Verse erkunden zart und zugleich mit spielerischer Wildheit die kapriziösen Blätter des Farns, den verführerischen Glanz einer frisch aus der Hülle gebrochenen Kastanie und die majestätische Ruhe des Reihers, sie steigen mutig hinab ins Nest der Schlange und betten sich auf den rauen Kissen der Heide.Und irgendwo dort, zwischen satten Farben und traumversunkenen Zeilen, entdecken wir sie vielleicht - die verlorenen Wörter.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2018Seht ihr den Goldfinken?
Rettung: Robert Macfarlanes "Die verlorenen Wörter"
"Es waren einmal Wörter, die sich herausschlichen aus der Sprache der Kinder", schreibt Robert Macfarlane. "Sie verschwanden so leise, dass es kaum jemandem auffiel - ein Verdunsten wie Wasser auf Stein." Und fort waren sie: Eisvogel, Farn und Heide - Wörter, die auch die Jüngsten vor nicht allzu langer Zeit noch selbstverständlich im Mund führten, weil sie mit ihnen die Natur um sich herum bezeichneten. Doch Kinder unserer Gegenwart kennen oft mehr Pokémon-Charaktere beim Namen als Vögel. Mit den Pflanzen, Tieren und Landschafen, vor die sich Bildschirme schieben, verschwinden auch die Begriffe von der Natur.
Der 1976 geborene Naturschriftsteller und Universitätslehrer Robert Macfarlane will die Wildnis nicht verloren geben, auch wenn der Mensch längst so tief in sie eingegriffen hat, dass sie als erhabenes Gegenüber, das nur eigenen Gesetzen folgt, gestorben ist. Als Romantiker des Digitalzeitalters prägte er das Wort "landscapism"; in literarischen Büchern über das Draußensein wie "Berge im Kopf" und "Alte Wege" ergründet er die Beziehung, in die Mensch und Natur treten, physisch und sprachlich. Doch diese Beziehung ist bedroht.
Als Macfarlane feststellte, dass im "Oxford Junior Lexicon" die englischen Wörter für Eichel, Mistelzweig und Weidenkätzen gestrichen worden waren, dafür aber der Blog und die Celebrity Einzug gehalten hatten, beschloss er, gegen dieses lexikalische Artensterben anzuschreiben. Vor zwei Jahren erschien "Landmarks", ein Buch über Literatur und Landschaft. Doch weil nur lebt, was nachwächst, und weil man nur als schützenswert empfindet, was man wenigstens beim Namen nennen kann, legte der Schriftsteller mit einem prachtvoll von Jackie Morris illustrierten Lyrikband für Kinder nach.
"The Lost Words", liegt nun auch auf Deutsch vor, in der Naturkunde-Reihe von Matthes und Seitz, einfühlsam übersetzt von Daniela Seel. Sie musste eine kaum lösbare Aufgabe bewältigen: Macfarlanes Gedichte sind tatsächlich Beschwörungen, lautmalerische Zaubersprüche, die mit Etymologie und Klang spielen und Abwesendes durch Sprachmagie herbeizitieren. "Otter enters river without falter - what a / supple slider out of holt and into water", heißt es im Original, "Otter entert Ströme ohne Zögern - welche / Schmiegsamkeit von Bau zu Wasserlauf", in der Übertragung "Die verlorenen Wörter". Fremd dürften vielen Lesern - jung wie älter - nicht nur die Titelgeber der Beschwörungen sein. Die Sprüche selbst sind gespickt mit Rätselhaftigkeiten wie "isenschwarz", "Pfrille", "Halcyon" und "loht". Was taugten Zaubersprüche auch, wenn sie verständlich wären? Die englische Audiobuch-Version - gelesen unter anderem vom Autor - tschilpt und flirrt und summt wie eine Sommerwiese, in die sich Worte schmiegen. Das Buch dagegen prunkt mit aquarellierten Tierporträts auf goldfarbenem Grund, episch sich ausbreitenden Weidenzweigen, leeren Schattenrissen von Vögeln und Pflanzenranken, die Buchstaben umzüngeln.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Goldfinken das Cover schmücken, als wollten sie pawlowsche Donna-Tartt-Reflexe auslösen. Und vermutlich ist es allzu pessimistisch, zu glauben, Kinder wüssten nichts mehr von Kastanien und Brombeeren. Wie es umgekehrt zu optimistisch wäre, davon auszugehen, dass der durchschnittliche Erwachsene einen Zaunkönig erkenne. Wort für Wort, Zeile für Zeile erweckt Macfarlane Flora und Fauna zum Leben, als Reigen nichtmenschlicher Persönlichkeiten aus einer sich entfernenden, märchenhaften Welt.
Im Großbritannien, wo man stolz auf seine Gartenbautradition ist und gerne Naturverbundenheit kultiviert, hat das Buch nicht nur viele Käufer, sondern auch engagierte Freunde gefunden. Es gab den Anstoß zu privaten Initiativen, darunter die einer Busfahrerin, die Geld sammelt, damit Ausgaben der "Lost Words" an Grundschulen verteilt werden; es inspirierte Theaterprojekte und Ausstellungen. Zuletzt hat ein britisches Krankenhaus die Wände seiner Korridore mit den Texten und Bildern der "Verlorenen Wörter" dekoriert.
Robert Macfarlane selbst führt sein Projekt online fort. Er ist kein Technikfeind, täglich twittert er ein "Wort des Tages" mit Bild und kleiner Etymologie. Oft führen die Kurznachrichten zu nachdenklichen, teilweise auch tief melancholischen Naturbetrachtungen. Knapp 130 000 Follower wollen sie nicht missen. Denn aller Sorge um die bedrohte Natur zum Trotz verbreitet Macfarlane keine Weltuntergangsstimmung. Er lehrt seine Netzgemeinde das Staunen. Zuletzt stellte er etwa den "Watchful Tree" vor - so heißen volkstümlich Birken, die scheinbar aus ihren Astaugen starren - und das "Eichhörnchen". Dass im Deutschen das Tierchen, das auf Englisch "squirrel" heißt, als "kleines gehörntes Wesen des Eichenbaums" herumhüpft, entzückt Macfarlane. Uns auch.
URSULA SCHEER
Robert Macfarlane: "Die verlorenen Wörter".
Illustrationen von Jackie Morris. Aus dem Englischen von Daniela Seel. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2018, 143 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rettung: Robert Macfarlanes "Die verlorenen Wörter"
"Es waren einmal Wörter, die sich herausschlichen aus der Sprache der Kinder", schreibt Robert Macfarlane. "Sie verschwanden so leise, dass es kaum jemandem auffiel - ein Verdunsten wie Wasser auf Stein." Und fort waren sie: Eisvogel, Farn und Heide - Wörter, die auch die Jüngsten vor nicht allzu langer Zeit noch selbstverständlich im Mund führten, weil sie mit ihnen die Natur um sich herum bezeichneten. Doch Kinder unserer Gegenwart kennen oft mehr Pokémon-Charaktere beim Namen als Vögel. Mit den Pflanzen, Tieren und Landschafen, vor die sich Bildschirme schieben, verschwinden auch die Begriffe von der Natur.
Der 1976 geborene Naturschriftsteller und Universitätslehrer Robert Macfarlane will die Wildnis nicht verloren geben, auch wenn der Mensch längst so tief in sie eingegriffen hat, dass sie als erhabenes Gegenüber, das nur eigenen Gesetzen folgt, gestorben ist. Als Romantiker des Digitalzeitalters prägte er das Wort "landscapism"; in literarischen Büchern über das Draußensein wie "Berge im Kopf" und "Alte Wege" ergründet er die Beziehung, in die Mensch und Natur treten, physisch und sprachlich. Doch diese Beziehung ist bedroht.
Als Macfarlane feststellte, dass im "Oxford Junior Lexicon" die englischen Wörter für Eichel, Mistelzweig und Weidenkätzen gestrichen worden waren, dafür aber der Blog und die Celebrity Einzug gehalten hatten, beschloss er, gegen dieses lexikalische Artensterben anzuschreiben. Vor zwei Jahren erschien "Landmarks", ein Buch über Literatur und Landschaft. Doch weil nur lebt, was nachwächst, und weil man nur als schützenswert empfindet, was man wenigstens beim Namen nennen kann, legte der Schriftsteller mit einem prachtvoll von Jackie Morris illustrierten Lyrikband für Kinder nach.
"The Lost Words", liegt nun auch auf Deutsch vor, in der Naturkunde-Reihe von Matthes und Seitz, einfühlsam übersetzt von Daniela Seel. Sie musste eine kaum lösbare Aufgabe bewältigen: Macfarlanes Gedichte sind tatsächlich Beschwörungen, lautmalerische Zaubersprüche, die mit Etymologie und Klang spielen und Abwesendes durch Sprachmagie herbeizitieren. "Otter enters river without falter - what a / supple slider out of holt and into water", heißt es im Original, "Otter entert Ströme ohne Zögern - welche / Schmiegsamkeit von Bau zu Wasserlauf", in der Übertragung "Die verlorenen Wörter". Fremd dürften vielen Lesern - jung wie älter - nicht nur die Titelgeber der Beschwörungen sein. Die Sprüche selbst sind gespickt mit Rätselhaftigkeiten wie "isenschwarz", "Pfrille", "Halcyon" und "loht". Was taugten Zaubersprüche auch, wenn sie verständlich wären? Die englische Audiobuch-Version - gelesen unter anderem vom Autor - tschilpt und flirrt und summt wie eine Sommerwiese, in die sich Worte schmiegen. Das Buch dagegen prunkt mit aquarellierten Tierporträts auf goldfarbenem Grund, episch sich ausbreitenden Weidenzweigen, leeren Schattenrissen von Vögeln und Pflanzenranken, die Buchstaben umzüngeln.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Goldfinken das Cover schmücken, als wollten sie pawlowsche Donna-Tartt-Reflexe auslösen. Und vermutlich ist es allzu pessimistisch, zu glauben, Kinder wüssten nichts mehr von Kastanien und Brombeeren. Wie es umgekehrt zu optimistisch wäre, davon auszugehen, dass der durchschnittliche Erwachsene einen Zaunkönig erkenne. Wort für Wort, Zeile für Zeile erweckt Macfarlane Flora und Fauna zum Leben, als Reigen nichtmenschlicher Persönlichkeiten aus einer sich entfernenden, märchenhaften Welt.
Im Großbritannien, wo man stolz auf seine Gartenbautradition ist und gerne Naturverbundenheit kultiviert, hat das Buch nicht nur viele Käufer, sondern auch engagierte Freunde gefunden. Es gab den Anstoß zu privaten Initiativen, darunter die einer Busfahrerin, die Geld sammelt, damit Ausgaben der "Lost Words" an Grundschulen verteilt werden; es inspirierte Theaterprojekte und Ausstellungen. Zuletzt hat ein britisches Krankenhaus die Wände seiner Korridore mit den Texten und Bildern der "Verlorenen Wörter" dekoriert.
Robert Macfarlane selbst führt sein Projekt online fort. Er ist kein Technikfeind, täglich twittert er ein "Wort des Tages" mit Bild und kleiner Etymologie. Oft führen die Kurznachrichten zu nachdenklichen, teilweise auch tief melancholischen Naturbetrachtungen. Knapp 130 000 Follower wollen sie nicht missen. Denn aller Sorge um die bedrohte Natur zum Trotz verbreitet Macfarlane keine Weltuntergangsstimmung. Er lehrt seine Netzgemeinde das Staunen. Zuletzt stellte er etwa den "Watchful Tree" vor - so heißen volkstümlich Birken, die scheinbar aus ihren Astaugen starren - und das "Eichhörnchen". Dass im Deutschen das Tierchen, das auf Englisch "squirrel" heißt, als "kleines gehörntes Wesen des Eichenbaums" herumhüpft, entzückt Macfarlane. Uns auch.
URSULA SCHEER
Robert Macfarlane: "Die verlorenen Wörter".
Illustrationen von Jackie Morris. Aus dem Englischen von Daniela Seel. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2018, 143 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main