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Wie unter einem Brennglas können wir heute sehen, wie die Moderne mit zentralen Irritationen und Erschütterungen umgeht. Die Aufhebung tradierter Geschlechterdifferenz bedroht die Zeitgenossen. Angst, Lust und Abwehr finden sich in Phantasmen der Weiblichkeit; ästhetisiert in der Literatur, sublimiert im künstlerischen Ausdruck, formalisiert im Strafrecht und rationalisiert in Medizin und Anthropologie.
In ihrer kulturanalytischen Untersuchung zeigt Franziska Lamott, wie das Anschwellen des Hysteriediskurses und die Zunahme der weiblichen Hysterie mit der steigenden Angst vor der
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Produktbeschreibung
Wie unter einem Brennglas können wir heute sehen, wie die Moderne mit zentralen Irritationen und Erschütterungen umgeht. Die Aufhebung tradierter Geschlechterdifferenz bedroht die Zeitgenossen. Angst, Lust und Abwehr finden sich in Phantasmen der Weiblichkeit; ästhetisiert in der Literatur, sublimiert im künstlerischen Ausdruck, formalisiert im Strafrecht und rationalisiert in Medizin und Anthropologie.

In ihrer kulturanalytischen Untersuchung zeigt Franziska Lamott, wie das Anschwellen des Hysteriediskurses und die Zunahme der weiblichen Hysterie mit der steigenden Angst vor der Veränderung vertrauter Weiblichkeitsbilder und der Auflösung herrschender Geschlechterdifferenzen einhergeht. Das Konstrukt der Hysterie fungiert als Auffangbecken der irritierenden Zeichen von Weiblichkeit, die dadurch ihre bedrohliche Ambivalenz verlieren. Indem die Hysterie das Feld der Abweichung markiert, strukturiert und normiert sie erneut die Differenz der Geschlechter.
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Autorenporträt
Franziska Lamott, Prof. Dr. rer.soc., Studium der Soziologie und Psychologie. Mehrjährige Tätigkeit am Institut für Strafrecht & Kriminologie der Universität München. Gastprofessur für Gender-Studies an der Universität Basel. Seit 1999 an der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm, Forschungsprojekte und Publikationen in den Bereichen Kriminologie, Psychotherapie- und Genderforschung, Gruppen- und Kulturanalyse.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Diese sozialpsychologische Habilitationsschrift gibt Rezensent Martin Stinglin einen "anregenden Überblick" über die "kulturwissenschaftliche Hysterie-Forschung der letzten Jahre". Um das "Rätsel der Hysterie und ihrer vermeintlichen Epidemie um 1900" zu lösen, bediene sich die Autorin "zweier in der Werkstadt der Freudschen Psychoanalyse geschmiedeter Dietriche": der Ambivalenz und der Projektion. Ins Visier gerieten die Wissenschaftler, die sich die Faszinationskraft von Frauen, die sich nicht ins damalige Rollenschema fügten, selbst nicht eingestehen wollten. Lamott zufolge sei der "wissenschaftliche Apparat, der zu ihrer Einhegung um die Hysterie" errichtet worden sei, nur die "vermeintlich wissenschaftliche Kodifizierung" des angsterfüllten Blickes dieser Wissenschaftler gewesen. Mit ihrer Diskursanalyse forensischer und kriminologischer Falldarstellungen fügt die Klagenfurter Wissenschaftlerin dem Rezensenten zufolge der Hysterie-Forschung ein aufschlussreiches Kapitel hinzu. Körpergeschichte werde hier als "Leibesvisitation" in ihrer ganzen "gerichtsmedizinischen Handgreiflichkeit" konzeptualisiert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2002

Epidemie der Weiblichkeit
Franziska Lamott schreibt die Geschichte der Hysterie im Zweitakt

"Vermessen" ist ein ambivalentes Verb. Schon sehr früh nimmt es, wie das Grimmsche Wörterbuch belegt, neben der transitiven Bedeutung "abmessen" die reflexive Bedeutung des "falschen Messens" an, aus der sich der übertragene Wortsinn "überschätzend etwas behaupten" entwickelte; als Partizip Perfekt "vermessen" ist er lebendig geblieben. "Die vermessene Frau", wie der Titel von Franziska Lamotts sozialpsychologischer Klagenfurter Habilitationsschrift lautet, erregte um 1900 durch die ihr unterstellte Selbstüberschätzung, sich nicht der ihr zugemuteten sozialen Rolle als Gattin und Mutter unterordnen zu wollen, die "wissenschaftliche" Aufmerksamkeit von Medizinern, Neurologen, Psychiatern, Psychologen, Psychoanalytikern, Juristen und Kriminologen, ein Wissenschaftsverbund, der ein sorgfältig gepflegtes Etikett zur Hand hatte, diese Unfügsamkeit zu pathologisieren: die "Hysterie".

In Zeiten, in denen der verkehrs- und medientechnisch beschleunigte Fortschritt das Nervenkostüm jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds durch ein elektrisierendes Wechselbad aus Überreizung und Übermüdung anzugreifen und den Bevölkerungskörper als Ganzes in die "Degeneration" und "Dekadenz" zu stürzen drohte, verstanden sich selbst Philosophen wie Friedrich Nietzsche als Ärzte der Zivilisation im Dienst der Sozialhygiene. Das anschmiegsame Konzept der "Hysterie" war dabei gleichzeitig diagnostisches Instrumentarium wie Befund. Die Empfänglichkeit für seelische Beeinflussungen, die sogenannte "Suggestibilität", war - sei es in Form individueller Trancezustände, sei es in Form von "Massenhysterien" - zum Maßstab für den Grad der allgemeinen Zivilisationsschwäche geworden.

"Wie man heute ,Genie' als eine Form der Neurose beurtheilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestions-Kraft, - und unsere Artisten sind in den That den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen ,heute' und nicht gegen die ,Künstler'", notierte sich Nietzsche im Frühjahr 1888. Die "Hysterie" schien nach den Frauen immer weitere Gesellschaftskreise zu erfassen, erst einzelne effeminierte Männer, dann die der Androgynität bezichtigte "jüdische Rasse", schließlich die Künstler.

Franziska Lamott bedient sich zweier in der Werkstatt der Freudschen Psychoanalyse geschmiedeten Dietriche, um das Rätsel der Hysterie und ihrer vermeintlichen Epidemie um 1900 zu erschließen: der "Ambivalenz" und der "Projektion". Wo die Übergänge zwischen dem "Normalen" und dem "Pathologischen" ebenso fließend geworden waren wie die Differenz zwischen den Geschlechtern, übten emanzipierte ebenso wie erotomanische, nymphomanische, frigide oder kriminelle Frauen, die sich nicht dem herkömmlichen sozialen Rollenschema fügten, auf die Wissenschaftler eine besondere Faszinationskraft aus, die sie sich selbst nicht eingestehen durften.

Dieser Ambivalenz entsprang eine Angst, die durch den psychischen Mechanismus der Projektion abgewehrt werden mußte. Darf es nicht sein, daß sich der Arzt oder der Richter offen von der "Hysterikerin" angezogen fühlt, muß ihr selbst etwas Verabscheuungswürdiges, Lügnerisches, Tückisches innewohnen. In diesem intimen Wechselspiel war die Suggestibilität der Hysterikerin immer auch die Suggestion von Suggestibilität durch den Arzt. So war der wissenschaftliche Apparat, der zu ihrer Einhegung um die Hysterie errichtet wurde, in den Augen von Franziska Lamott nur die vermeintlich wissenschaftliche Codifizierung des eigenen angsterfüllten Blicks: "Im Spannungsfeld zwischen Idealisierung und Entwertung, zwischen Anziehung und Abstoßung der Frau fungiert die Hysterie als soziale Konstruktion zur Abwehr bedrohlicher Gefühle. Die in den Konstrukten enthaltenen Bilder sind Ausdruck und Bewältigungsversuche historisch variierender Ängste vor dem Weib, das die Ordnung zu erodieren droht."

Gelegentlich muten Lamotts historische Analysen, wo sie die Geschichte der Hysterie durch den Zweitaktmotor "Ambivalenz" und "Projektion" in Gang gehalten sieht, allerdings selbst mechanistisch an. Trotzdem bietet "Die vermessene Frau" einen anregenden panoramatischen Überblick über die kulturwissenschaftliche Hysterie-Forschung der letzten Jahre. Lamott trägt dazu die Diskursanalyse forensischer und kriminologischer Falldarstellungen und ein aufschlußreiches Kapitel bei, in dem die Körpergeschichte als "Leibesvisitation" in ihrer ganzen gerichtsmedizinischen Handgreiflichkeit konzeptualisiert wird.

MARTIN STINGELIN.

Franziska Lamott: "Die vermessene Frau". Hysterien um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 2001. 233 S., br., 34,77 [Euro].

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