'Eine Satire auf die deutsche Klassik, ein Abenteuerroman, ein Abbild des Bürgertums im beginnenden 19. Jahrhundert, eine Studie über Opfer und Moral der Wissenschaft, das Portrait zweier alternder Männer, jeder auf seine Weise einsam; und ein wunderbar lesbarer Text voller gebildeter Anspielungen und Zitate und versteckter Kleinode.' (Die Zeit)
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machen sich zwei junge Deutsche an die Vermessung der Welt. Der eine, Alexander von Humboldt, kämpft sich durch Urwald und Steppe, befährt den Orinoko, kostet Gifte, zählt Kopfläuse, kriecht in Erdlöcher, besteigt Vulkane und begegnet Seeungeheuern und Menschenfressern. Der andere, der Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß, der sein Leben nicht ohne Frauen verbringen kann und doch in der Hochzeitsnacht aus dem Bett springt, um eine Formel zu notieren - er beweist auch im heimischen Göttingen, dass der Raum sich krümmt. Alt, berühmt und ein wenig sonderbar geworden, treffen sich die beiden 1828 in Berlin. Doch kaum steigt Gauß aus seiner Kutsche, verstricken sie sich in die politischen Wirren Deutschlands nach dem Sturz Napoleons. Mit Fantasie und viel Humor beschreibt Daniel Kehlmann das Leben zweier Genies, ihre Sehnsüchte und Schwächen, ihre Gradwanderung zwischen Einsamkeit und Liebe, Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg - ein philosophischer Abenteuerroman von seltener Kraft und Brillanz.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machen sich zwei junge Deutsche an die Vermessung der Welt. Der eine, Alexander von Humboldt, kämpft sich durch Urwald und Steppe, befährt den Orinoko, kostet Gifte, zählt Kopfläuse, kriecht in Erdlöcher, besteigt Vulkane und begegnet Seeungeheuern und Menschenfressern. Der andere, der Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß, der sein Leben nicht ohne Frauen verbringen kann und doch in der Hochzeitsnacht aus dem Bett springt, um eine Formel zu notieren - er beweist auch im heimischen Göttingen, dass der Raum sich krümmt. Alt, berühmt und ein wenig sonderbar geworden, treffen sich die beiden 1828 in Berlin. Doch kaum steigt Gauß aus seiner Kutsche, verstricken sie sich in die politischen Wirren Deutschlands nach dem Sturz Napoleons. Mit Fantasie und viel Humor beschreibt Daniel Kehlmann das Leben zweier Genies, ihre Sehnsüchte und Schwächen, ihre Gradwanderung zwischen Einsamkeit und Liebe, Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg - ein philosophischer Abenteuerroman von seltener Kraft und Brillanz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2012Auf den Gipfeln der Welt
Zum Beispiel beim Lesen der Bergpassagen in der "Vermessung der Welt" erkennt man die ganze Meisterschaft des Bestsellerautors Daniel Kehlmann
"Ein Erzähler operiert mit Wirklichkeiten", hat Daniel Kehlmann in seinem Essay "Wo ist Carlos Montúfar?" geschrieben. Das klingt plausibel und logisch und doch auch theoretisch und unglaubwürdig, weil diese Wirklichkeiten oftmals genau da aufhören, wo es interessant wird, wo es ungemütlich wird, wo es weh tut - kurz, wo man sich einen wie Kehlmann nicht vorstellen kann. Der 37-jährige Österreicher hat das Image eines realitätsverweigernden Nerds, eines superschlauen Strebers. Seinem Kollegen Thomas Glavinic scheint er damit dermaßen auf die Nerven gegangen zu sein, dass er ihn in "Das bin doch ich" als Romanfigur auftauchen lässt: Als nervender SMS-Schreiber Daniel Kehlmann, der unermüdlich mitteilt, wie sich seine Bücher verkaufen. Es gäbe also Gründe dafür, die Wirklichkeiten Daniel Kehlmanns in Frage zu stellen. Aber bevor man das tut, sollte man "Die Vermessung der Welt" aufschlagen, seinen erfolgreichsten Roman, und das Kapitel "Der Berg" lesen.
Alexander von Humboldt und sein Assistent Aimé Bonpland machen sich auf, den Chimborazo zu besteigen, einen Berg in Südamerika, dessen Gipfel damals, im Jahr 1802, als der höchste der Welt galt. Es ist ein wissenschaftliches, aber zugleich auch ein tollkühnes alpines Unternehmen, bei dem sie fast 6000 Meter erreichten und einen neuen Höhenrekord aufstellten. Eine Sensation. Zumal sie ohne Daunenjacken, Handschuhe, Seile und Steigeisen über den Gletscher stiegen und keine Ahnung hatten, wie sich die Höhe auf sie auswirken würde. Die erste zarte Andeutung, dass sich ihre Wahrnehmungen langsam verzerrten, liest sich bei Kehlmann so: "Wo sie jetzt gingen, gab es keine Pflanzen mehr, nur braungelbe Flechten auf den aus dem Schnee ragenden Steinen. Bonpland hörte sehr laut seinen eigenen Herzschlag und das Zischen des über die Schneedecke streichenden Windes. Als ein kleiner Schmetterling vor ihm aufflog, erschrak er." Wenig später, sie mögen auf etwa 4500 Metern gewesen sein, war die Luft so dünn, dass die Höhenkrankheit erste Halluzinationen hervorrief: "Er wolle kein Spielverderber sein, sagte Bonpland, aber etwas stimme nicht. Dort rechts von ihnen, nein, etwas weiter, nein, links, richtig, dort. Das Ding, das wie ein Stern aus Watte aussehe. Oder wie ein Haus. Er gehe wohl recht in der Annahme, daß das nur für ihn da sei?
Humboldt nickte."
Das Erstaunliche an dieser Beschreibung ist, dass sie der Wirklichkeit standhält. Reinhold Messner hat "Die Vermessung der Welt" in einer italienischen Sportzeitung als eine der realistischsten Beschreibungen des Bergsteigens gelobt. Völlig zu Recht. Denn wer schon einmal in großer Höhe war, der weiß, dass der Sauerstoffmangel Bewegungen und Denkvorgänge erschreckend verlangsamt und Halluzinationen die absurdesten Bilder produzieren. Höhenbergsteiger erzählen davon, dass sie kristallklar beobachtet haben, wie andere Bergsteiger vor ihren Augen davongeflogen und brennende Köpfe den Abhang hinuntergerollt sind.
Daniel Kehlmann ist in München geboren und in Wien aufgewachsen, beides Städte, die die Berge vor der Haustür haben. Kehlmann ist kein Bergsteiger, aber Bergwanderer, "nicht ganz schwindelfrei" und, "sobald es wirklich schwierig wird, nicht mehr ganz trittsicher", wie er eingesteht. Er war als Kind mit seinen Eltern oft am Dachstein, aber an einem Seil sei er noch nie gegangen und wirkliches Klettern käme für ihn nicht in Betracht, "leider". Tatsächlich aber spielen die Berge auch in seinen anderen Büchern eine Rolle. In "Ich und Kaminski" zieht sich ein grantiger Künstler in die Alpen zurück, und auch das Cover von "Ruhm" zeigt verschneite Gipfel. Er könne ganz gut Ski fahren, sagt Kehlmann, doch seine höchsten Gipfel waren solche, auf die eine Seilbahn fährt. Er gibt sich bescheiden, räumt ein, dass er nie in "extremen Umständen" in den Bergen unterwegs war und sich im Berg-Kapitel eine "Ungenauigkeit der Phantasie" erlaubt habe. Die Kombination aus Ungenauigkeit und Phantasie kommt der alpinen Realität auf 5000 Metern sehr nahe. Kehlmann jedenfalls weiß genau, wie hochalpines Terrain aussieht und wie es sich anfühlt: "Vorgebeugt stapften sie an zu Säulen gespaltenen Felsmauern entlang. Hoch droben, für Momente erkennbar, dann wieder verschwunden, führte ein verschneiter Grat zum Gipfel. Instinktiv neigten sie sich beim Gehen nach links, wo der Abhang schräg und frostverglast abfiel. Zu ihrer Rechten öffnete sich senkrecht die Schlucht."
Man findet in der deutschsprachigen Literatur nicht viele Texte, die eine Extremsituation am Berg ähnlich realistisch und glaubwürdig darstellen. Humboldts Originaltext "Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen" gibt es natürlich, ein Text, den Kehlmann sehr genau gelesen hat. "Wir stiegen sehr hoch, höher, als ich gehofft hatte", schrieb Humboldt. "In uns kam ein Schimmer von Hoffnung auf, den Gipfel erreichen zu können. Aber eine große Spal-. . ." - und dann unterbricht Humboldt seine Aufzeichnungen andeutungsvoll.
Der hüfthohe Schnee, die Orientierungslosigkeit, das Nasenbluten und die Nahtoderfahrung erinnern auch an das "Schnee"-Kapitel in Thomas Manns Zauberberg und auch an Büchners "Lenz", der im fortschreitenden Wahnsinn durchs Gebirge irrt: "Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte." Bei Kehlmann heißt es: "Nun änderte es nichts daran, daß dort, wo der Himmel sein sollte, jetzt der Erdboden hing und sie verkehrt herum, also mit dem Kopf nach unten, abwärts gingen."
Die alpine Ästhetik rückt Kehlmanns Text in die Nähe von Marlen Haushofers "Die Wand", und die Dramatik des Höhenbergsteigens ist allenfalls in Ludwig Hohls "Bergfahrt" und Christoph Ransmayrs "Der fliegende Berg" zu finden. Ransmayr ist extra für diesen Roman mit seinem Freund Reinhold Messner in die Berge gestiegen. Kehlmann war nie mit Messner unterwegs, hat aber dessen Bücher sehr genau gelesen, wie er sagt - um sich ein Bild von den in der Höhe auftretenden Halluzinationen zu machen. Als Messner 1978 gemeinsam mit dem Österreicher Peter Habeler erstmals ohne künstlichen Sauerstoff auf den Everest gestiegen ist, hat er auf einem Tonbandgerät sämtliche Dialoge aufgezeichnet und in dem Buch "Everest - Expedition zum Endpunkt" unverändert aufgeschrieben. Es sind lange, irrsinnige Dialoge über Mützen und Bärte, die an jenes Kehlmannsche Gespräch zwischen Humboldt und Bonpland erinnern, als sie auf fast 6000 Meter Höhe vor einer riesigen Gletscherspalte stehen und realisieren, dass sie umkehren müssen:
"Sie seien beide nicht mehr bei Sinnen. Wenn sie jetzt nicht abstiegen, kämen sie nie zurück.
Man könnte, sagte Bonpland, auch einfach behaupten, man wäre oben gewesen.
Humboldt sagte, er wolle das nicht gehört haben.
Er habe das auch nicht gesagt. Das sei der andere gewesen!
Überprüfen könne es ja keiner, sagte Humboldt nachdenklich.
Eben, sagte Bonpland.
Er habe das nicht gesagt, rief Humboldt. Was gesagt, fragte Bonpland.
Sie sahen einander ratlos an."
Auf dem Gletscher des Chimborazo, zwischen Spalten und Schneebrücken, zwischen Halluzination und Sauerstoffmangel, zwischen Heldentum und Scheitern, schafft es Kehlmann sogar noch, mit der charmanten Möglichkeit zu spielen, dass Humboldt und Bonpland damals über eine Gipfellüge nachgedacht haben könnten.
Ist Daniel Kehlmann ein Berg-Spezialist? Er ist ein Spezialist in allen Dingen, über die er schreibt. Er kennt die Welt der Wirklichkeit so gut wie die der Literatur. Und die Nähe, die Wahrhaftigkeit und Schönheit, mit der er darüber schreibt, das ist seine große Kunst.
ANDREAS LESTI
"Die Vermessung der Welt" ist als Taschenbuch bei rororo erschienen (9,99 Euro).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Beispiel beim Lesen der Bergpassagen in der "Vermessung der Welt" erkennt man die ganze Meisterschaft des Bestsellerautors Daniel Kehlmann
"Ein Erzähler operiert mit Wirklichkeiten", hat Daniel Kehlmann in seinem Essay "Wo ist Carlos Montúfar?" geschrieben. Das klingt plausibel und logisch und doch auch theoretisch und unglaubwürdig, weil diese Wirklichkeiten oftmals genau da aufhören, wo es interessant wird, wo es ungemütlich wird, wo es weh tut - kurz, wo man sich einen wie Kehlmann nicht vorstellen kann. Der 37-jährige Österreicher hat das Image eines realitätsverweigernden Nerds, eines superschlauen Strebers. Seinem Kollegen Thomas Glavinic scheint er damit dermaßen auf die Nerven gegangen zu sein, dass er ihn in "Das bin doch ich" als Romanfigur auftauchen lässt: Als nervender SMS-Schreiber Daniel Kehlmann, der unermüdlich mitteilt, wie sich seine Bücher verkaufen. Es gäbe also Gründe dafür, die Wirklichkeiten Daniel Kehlmanns in Frage zu stellen. Aber bevor man das tut, sollte man "Die Vermessung der Welt" aufschlagen, seinen erfolgreichsten Roman, und das Kapitel "Der Berg" lesen.
Alexander von Humboldt und sein Assistent Aimé Bonpland machen sich auf, den Chimborazo zu besteigen, einen Berg in Südamerika, dessen Gipfel damals, im Jahr 1802, als der höchste der Welt galt. Es ist ein wissenschaftliches, aber zugleich auch ein tollkühnes alpines Unternehmen, bei dem sie fast 6000 Meter erreichten und einen neuen Höhenrekord aufstellten. Eine Sensation. Zumal sie ohne Daunenjacken, Handschuhe, Seile und Steigeisen über den Gletscher stiegen und keine Ahnung hatten, wie sich die Höhe auf sie auswirken würde. Die erste zarte Andeutung, dass sich ihre Wahrnehmungen langsam verzerrten, liest sich bei Kehlmann so: "Wo sie jetzt gingen, gab es keine Pflanzen mehr, nur braungelbe Flechten auf den aus dem Schnee ragenden Steinen. Bonpland hörte sehr laut seinen eigenen Herzschlag und das Zischen des über die Schneedecke streichenden Windes. Als ein kleiner Schmetterling vor ihm aufflog, erschrak er." Wenig später, sie mögen auf etwa 4500 Metern gewesen sein, war die Luft so dünn, dass die Höhenkrankheit erste Halluzinationen hervorrief: "Er wolle kein Spielverderber sein, sagte Bonpland, aber etwas stimme nicht. Dort rechts von ihnen, nein, etwas weiter, nein, links, richtig, dort. Das Ding, das wie ein Stern aus Watte aussehe. Oder wie ein Haus. Er gehe wohl recht in der Annahme, daß das nur für ihn da sei?
Humboldt nickte."
Das Erstaunliche an dieser Beschreibung ist, dass sie der Wirklichkeit standhält. Reinhold Messner hat "Die Vermessung der Welt" in einer italienischen Sportzeitung als eine der realistischsten Beschreibungen des Bergsteigens gelobt. Völlig zu Recht. Denn wer schon einmal in großer Höhe war, der weiß, dass der Sauerstoffmangel Bewegungen und Denkvorgänge erschreckend verlangsamt und Halluzinationen die absurdesten Bilder produzieren. Höhenbergsteiger erzählen davon, dass sie kristallklar beobachtet haben, wie andere Bergsteiger vor ihren Augen davongeflogen und brennende Köpfe den Abhang hinuntergerollt sind.
Daniel Kehlmann ist in München geboren und in Wien aufgewachsen, beides Städte, die die Berge vor der Haustür haben. Kehlmann ist kein Bergsteiger, aber Bergwanderer, "nicht ganz schwindelfrei" und, "sobald es wirklich schwierig wird, nicht mehr ganz trittsicher", wie er eingesteht. Er war als Kind mit seinen Eltern oft am Dachstein, aber an einem Seil sei er noch nie gegangen und wirkliches Klettern käme für ihn nicht in Betracht, "leider". Tatsächlich aber spielen die Berge auch in seinen anderen Büchern eine Rolle. In "Ich und Kaminski" zieht sich ein grantiger Künstler in die Alpen zurück, und auch das Cover von "Ruhm" zeigt verschneite Gipfel. Er könne ganz gut Ski fahren, sagt Kehlmann, doch seine höchsten Gipfel waren solche, auf die eine Seilbahn fährt. Er gibt sich bescheiden, räumt ein, dass er nie in "extremen Umständen" in den Bergen unterwegs war und sich im Berg-Kapitel eine "Ungenauigkeit der Phantasie" erlaubt habe. Die Kombination aus Ungenauigkeit und Phantasie kommt der alpinen Realität auf 5000 Metern sehr nahe. Kehlmann jedenfalls weiß genau, wie hochalpines Terrain aussieht und wie es sich anfühlt: "Vorgebeugt stapften sie an zu Säulen gespaltenen Felsmauern entlang. Hoch droben, für Momente erkennbar, dann wieder verschwunden, führte ein verschneiter Grat zum Gipfel. Instinktiv neigten sie sich beim Gehen nach links, wo der Abhang schräg und frostverglast abfiel. Zu ihrer Rechten öffnete sich senkrecht die Schlucht."
Man findet in der deutschsprachigen Literatur nicht viele Texte, die eine Extremsituation am Berg ähnlich realistisch und glaubwürdig darstellen. Humboldts Originaltext "Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen" gibt es natürlich, ein Text, den Kehlmann sehr genau gelesen hat. "Wir stiegen sehr hoch, höher, als ich gehofft hatte", schrieb Humboldt. "In uns kam ein Schimmer von Hoffnung auf, den Gipfel erreichen zu können. Aber eine große Spal-. . ." - und dann unterbricht Humboldt seine Aufzeichnungen andeutungsvoll.
Der hüfthohe Schnee, die Orientierungslosigkeit, das Nasenbluten und die Nahtoderfahrung erinnern auch an das "Schnee"-Kapitel in Thomas Manns Zauberberg und auch an Büchners "Lenz", der im fortschreitenden Wahnsinn durchs Gebirge irrt: "Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte." Bei Kehlmann heißt es: "Nun änderte es nichts daran, daß dort, wo der Himmel sein sollte, jetzt der Erdboden hing und sie verkehrt herum, also mit dem Kopf nach unten, abwärts gingen."
Die alpine Ästhetik rückt Kehlmanns Text in die Nähe von Marlen Haushofers "Die Wand", und die Dramatik des Höhenbergsteigens ist allenfalls in Ludwig Hohls "Bergfahrt" und Christoph Ransmayrs "Der fliegende Berg" zu finden. Ransmayr ist extra für diesen Roman mit seinem Freund Reinhold Messner in die Berge gestiegen. Kehlmann war nie mit Messner unterwegs, hat aber dessen Bücher sehr genau gelesen, wie er sagt - um sich ein Bild von den in der Höhe auftretenden Halluzinationen zu machen. Als Messner 1978 gemeinsam mit dem Österreicher Peter Habeler erstmals ohne künstlichen Sauerstoff auf den Everest gestiegen ist, hat er auf einem Tonbandgerät sämtliche Dialoge aufgezeichnet und in dem Buch "Everest - Expedition zum Endpunkt" unverändert aufgeschrieben. Es sind lange, irrsinnige Dialoge über Mützen und Bärte, die an jenes Kehlmannsche Gespräch zwischen Humboldt und Bonpland erinnern, als sie auf fast 6000 Meter Höhe vor einer riesigen Gletscherspalte stehen und realisieren, dass sie umkehren müssen:
"Sie seien beide nicht mehr bei Sinnen. Wenn sie jetzt nicht abstiegen, kämen sie nie zurück.
Man könnte, sagte Bonpland, auch einfach behaupten, man wäre oben gewesen.
Humboldt sagte, er wolle das nicht gehört haben.
Er habe das auch nicht gesagt. Das sei der andere gewesen!
Überprüfen könne es ja keiner, sagte Humboldt nachdenklich.
Eben, sagte Bonpland.
Er habe das nicht gesagt, rief Humboldt. Was gesagt, fragte Bonpland.
Sie sahen einander ratlos an."
Auf dem Gletscher des Chimborazo, zwischen Spalten und Schneebrücken, zwischen Halluzination und Sauerstoffmangel, zwischen Heldentum und Scheitern, schafft es Kehlmann sogar noch, mit der charmanten Möglichkeit zu spielen, dass Humboldt und Bonpland damals über eine Gipfellüge nachgedacht haben könnten.
Ist Daniel Kehlmann ein Berg-Spezialist? Er ist ein Spezialist in allen Dingen, über die er schreibt. Er kennt die Welt der Wirklichkeit so gut wie die der Literatur. Und die Nähe, die Wahrhaftigkeit und Schönheit, mit der er darüber schreibt, das ist seine große Kunst.
ANDREAS LESTI
"Die Vermessung der Welt" ist als Taschenbuch bei rororo erschienen (9,99 Euro).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2007Teutonische Angst vor der Freiheit
Was hat das mit uns zu tun? Das Ausland liest Daniel Kehlmann
Daniel Kehlmanns schlankes Buch „Die Vermessung der Welt” ist ein erstaunlicher Erfolg. Einem Essay ähnlicher als dem Roman, der das Werk zu sein vorgibt, beherrscht es seit Monaten die deutschen Bestsellerlisten mit einer Geschichte aus dem Bildungsvorrat einer älteren Welt: Es ist ein kluges, unterhaltsames, flüssig erzähltes Buch, reich an Anekdoten und immer wieder sehr komisch. Aber es ist nicht das eine literarische Werk, das sich, literarisch oder wie auch immer, so riesenhaft über alle anderen Werke der gegenwärtigen deutschen Dichtkunst erhebt, dass alle anderen Bücher mit ihren bescheidenen Auflagen wie Zwerge danebenstehen müssen.
Im November ist die „Vermessung der Welt” auch in den Vereinigten Staaten erschienen, und die Rezensionen sind bislang freundlich, wobei sich das Interesse am naturwissenschaftlichen Gegenstand mit der Verwunderung über ein Land mischt, in dem sich ein solchermaßen gelehrtes Buch in bald einer Million Exemplaren verkauft: „Auf dem amerikanischen Buchmarkt”, erläutert Ron Charles, der Literaturkritiker der Washington Post, setzte ein solcher Erfolg „einen kindlichen Zauberer oder wenigstens eine Verschwörung jesuitischer Gauner voraus”. Und Tom LeClair, der Kollege von der New York Times, sekundiert: „Was für ein wundervolles Land muss Deutschland sein” – das Land, in dem ein Buch, das etwas so Ungewöhnliches wie eine Art Thomas-Pynchon-Roman im Taschenformat sei, Joanne K. Rowling und Dan Brown von der Spitze der Bestsellerlisten vertreibe.
Doch am Ende der Rezension deutet sich ein Zweifel an: Das Buch sei deutlich zu schlank für seine Absicht, meint Tom LeClair. Es ähnele einer Karte mehr als einer Landschaft, und seine Helden seien gelegentlich so schematisch gezeichnet wie die Figuren eines Cartoons. An dieser Stelle hat der Rezensent etwas bemerkt: dass es die Konstellation der beiden Gestalten ist, die Daniel Kehlmann interessiert, weit mehr als ihre Wissenschaft und ihre menschlichen Eigenschaften – weshalb sich die Handlung des Buches mit dem bloßen Faktum, dass sich die beiden Protagonisten begegnen, ja auch erschöpft.
In Frankreich ist „Die Vermessung der Welt” Anfang Januar erschienen, und die Reaktionen sind eher verhalten. Ganz anders in Großbritannien, auch wenn das Buch dort erst im April veröffentlicht wird. Daniel Kehlmanns Londoner Verlag Quercus kündigt für diesen Roman die größte Werbeaktion der jungen, aber teuren Firmengeschichte an. Das Times Literary Supplement vom 15. Dezember 2006 eilte der Reklame mit einer langen, positiven, wenngleich distanzierten Rezension voraus, in deren Zentrum der Befund steht, dieses Werk sei nur zum Schein ein historischer Roman. „Kehlmanns frühes neunzehntes Jahrhundert”, stellt Marco Roth, der Rezensent, fest, „ist eine lang zurückliegende Epoche, die jedoch immer noch nah genug wirkt, um nostalgische Erinnerungen an eine Zeit zu wecken, als sich an allen Ecken und Enden Entdeckungen machen ließen, als es noch Grund gab, an den Fortschritt zu glauben, an die Verbesserung des menschlichen Lebens durch Wissenschaft und Technik.” Daniel Kehlmanns großes Vorhaben sei das „willentliche Vergessen” dessen, was die Geschichte mit uns selbst zu tun hat, wie sie uns schuf, „im Guten wie im Bösen”.
Historische Gleichgültigkeit
Und hat Roth nicht recht? Daniel Kehlmann präsentiert seinen Lesern eine Idylle aus der heroischen Zeit der deutschen Wissenschaft, aus Verhältnissen, in denen die Wissenschaft noch unkompliziert und die Aufklärung ein Projekt zur Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit war. Alexander von Humboldt gibt in dieser Geschichte den kosmopolitischen, weltoffenen, tüchtigen Deutschen, und Carl Friedrich Gauß liefert dazu den Gegenpart aus der Typenkomödie, den skurrilen Professor. Das Erzählen von Theorie ist das Anliegen dieses Buches, Bildung in leichter, unakademischer, unterhaltsamer Form. Dieser Anspruch hat zur Folge, dass Daniel Kehlmann mit seinem Stoff umgeht wie das „Klassik Radio” mit den symphonischen Werken des neunzehnten Jahrhunderts: Er spielt die schöne Melodie und den langsamen Satz, mit viel Vibrato und lustigen Einlagen, und eine Abneigung gegen alles Abstrakte ist dabei nicht zu übersehen.
Marco Roth findet in seiner klugen Rezension ein Wort für Daniel Kehlmanns Umgang mit dieser Aversion: die „strukturelle Ironie”, die Kalkulation mit dem „wissenden Gelächter”, das hinter dem großen Entdeckungsreisenden den typischen Preußen und hinter dem von seiner Wissenschaft besessenen Professor die existentielle, „teutonische” Angst vor der Freiheit zu erkennen meine. Dieser Vorbehalt sei kein prinzipieller Einwand gegen Daniel Kehlmanns Buch, beteuert Marco Roth. Erfolgreiche britische und amerikanische Geschichtsromane seien schließlich nicht minder ignorant gegenüber der Geschichte, und ein gewisses Maß an historischer Indifferenz gehöre zum Genre. Deutlich, aber unausgesprochen bleibt dabei, was die Beliebtheit gerade diesen Buches bei den Lesern begründet: Es muss etwas Symptomatisches geben, das alles Literarische übersteigt und den Bestseller entstehen lässt. Und das wird, in diesem Fall, der Traum von einer guten, aber leichten Schule sein. THOMAS STEINFELD
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Was hat das mit uns zu tun? Das Ausland liest Daniel Kehlmann
Daniel Kehlmanns schlankes Buch „Die Vermessung der Welt” ist ein erstaunlicher Erfolg. Einem Essay ähnlicher als dem Roman, der das Werk zu sein vorgibt, beherrscht es seit Monaten die deutschen Bestsellerlisten mit einer Geschichte aus dem Bildungsvorrat einer älteren Welt: Es ist ein kluges, unterhaltsames, flüssig erzähltes Buch, reich an Anekdoten und immer wieder sehr komisch. Aber es ist nicht das eine literarische Werk, das sich, literarisch oder wie auch immer, so riesenhaft über alle anderen Werke der gegenwärtigen deutschen Dichtkunst erhebt, dass alle anderen Bücher mit ihren bescheidenen Auflagen wie Zwerge danebenstehen müssen.
Im November ist die „Vermessung der Welt” auch in den Vereinigten Staaten erschienen, und die Rezensionen sind bislang freundlich, wobei sich das Interesse am naturwissenschaftlichen Gegenstand mit der Verwunderung über ein Land mischt, in dem sich ein solchermaßen gelehrtes Buch in bald einer Million Exemplaren verkauft: „Auf dem amerikanischen Buchmarkt”, erläutert Ron Charles, der Literaturkritiker der Washington Post, setzte ein solcher Erfolg „einen kindlichen Zauberer oder wenigstens eine Verschwörung jesuitischer Gauner voraus”. Und Tom LeClair, der Kollege von der New York Times, sekundiert: „Was für ein wundervolles Land muss Deutschland sein” – das Land, in dem ein Buch, das etwas so Ungewöhnliches wie eine Art Thomas-Pynchon-Roman im Taschenformat sei, Joanne K. Rowling und Dan Brown von der Spitze der Bestsellerlisten vertreibe.
Doch am Ende der Rezension deutet sich ein Zweifel an: Das Buch sei deutlich zu schlank für seine Absicht, meint Tom LeClair. Es ähnele einer Karte mehr als einer Landschaft, und seine Helden seien gelegentlich so schematisch gezeichnet wie die Figuren eines Cartoons. An dieser Stelle hat der Rezensent etwas bemerkt: dass es die Konstellation der beiden Gestalten ist, die Daniel Kehlmann interessiert, weit mehr als ihre Wissenschaft und ihre menschlichen Eigenschaften – weshalb sich die Handlung des Buches mit dem bloßen Faktum, dass sich die beiden Protagonisten begegnen, ja auch erschöpft.
In Frankreich ist „Die Vermessung der Welt” Anfang Januar erschienen, und die Reaktionen sind eher verhalten. Ganz anders in Großbritannien, auch wenn das Buch dort erst im April veröffentlicht wird. Daniel Kehlmanns Londoner Verlag Quercus kündigt für diesen Roman die größte Werbeaktion der jungen, aber teuren Firmengeschichte an. Das Times Literary Supplement vom 15. Dezember 2006 eilte der Reklame mit einer langen, positiven, wenngleich distanzierten Rezension voraus, in deren Zentrum der Befund steht, dieses Werk sei nur zum Schein ein historischer Roman. „Kehlmanns frühes neunzehntes Jahrhundert”, stellt Marco Roth, der Rezensent, fest, „ist eine lang zurückliegende Epoche, die jedoch immer noch nah genug wirkt, um nostalgische Erinnerungen an eine Zeit zu wecken, als sich an allen Ecken und Enden Entdeckungen machen ließen, als es noch Grund gab, an den Fortschritt zu glauben, an die Verbesserung des menschlichen Lebens durch Wissenschaft und Technik.” Daniel Kehlmanns großes Vorhaben sei das „willentliche Vergessen” dessen, was die Geschichte mit uns selbst zu tun hat, wie sie uns schuf, „im Guten wie im Bösen”.
Historische Gleichgültigkeit
Und hat Roth nicht recht? Daniel Kehlmann präsentiert seinen Lesern eine Idylle aus der heroischen Zeit der deutschen Wissenschaft, aus Verhältnissen, in denen die Wissenschaft noch unkompliziert und die Aufklärung ein Projekt zur Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit war. Alexander von Humboldt gibt in dieser Geschichte den kosmopolitischen, weltoffenen, tüchtigen Deutschen, und Carl Friedrich Gauß liefert dazu den Gegenpart aus der Typenkomödie, den skurrilen Professor. Das Erzählen von Theorie ist das Anliegen dieses Buches, Bildung in leichter, unakademischer, unterhaltsamer Form. Dieser Anspruch hat zur Folge, dass Daniel Kehlmann mit seinem Stoff umgeht wie das „Klassik Radio” mit den symphonischen Werken des neunzehnten Jahrhunderts: Er spielt die schöne Melodie und den langsamen Satz, mit viel Vibrato und lustigen Einlagen, und eine Abneigung gegen alles Abstrakte ist dabei nicht zu übersehen.
Marco Roth findet in seiner klugen Rezension ein Wort für Daniel Kehlmanns Umgang mit dieser Aversion: die „strukturelle Ironie”, die Kalkulation mit dem „wissenden Gelächter”, das hinter dem großen Entdeckungsreisenden den typischen Preußen und hinter dem von seiner Wissenschaft besessenen Professor die existentielle, „teutonische” Angst vor der Freiheit zu erkennen meine. Dieser Vorbehalt sei kein prinzipieller Einwand gegen Daniel Kehlmanns Buch, beteuert Marco Roth. Erfolgreiche britische und amerikanische Geschichtsromane seien schließlich nicht minder ignorant gegenüber der Geschichte, und ein gewisses Maß an historischer Indifferenz gehöre zum Genre. Deutlich, aber unausgesprochen bleibt dabei, was die Beliebtheit gerade diesen Buches bei den Lesern begründet: Es muss etwas Symptomatisches geben, das alles Literarische übersteigt und den Bestseller entstehen lässt. Und das wird, in diesem Fall, der Traum von einer guten, aber leichten Schule sein. THOMAS STEINFELD
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Ein großes Buch, ein genialer Streich. Frankfurter Rundschau
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Hubert Spiegel ist von diesem Roman so "subtil, intelligent und witzig" unterhalten worden, wie er es mit deutschsprachiger Literatur nur selten erlebt hat. Doch das ist seinen begeisterten Ausführungen zufolge nur einer der vielen lobenswerten Punkte an Daniel Kehlmanns Roman über die Brüder Humboldt und den Mathematiker Friedrich Gauß. Kehlmann gehe zum Beispiel der Frage nach, wann das glanzvolle Projekt der Aufklärung in die "Entzauberung der Welt" umgeschlagen sei. Das Schöne an Kehlmanns Ansatz ist für den Rezensenten, dass er sich als Leser "mit einem Lächeln" auf diese Frage gestoßen sieht. Neben hoher Kunstfertigkeit bescheinigt Spiegel dem Autor außerdem ein humoristisches Talent. Zudem beeindruckt ihn, wie elegant Kehlmann dem Nicht-Naturwissenschaftler die mathematische Fragestellung von Gauss verständlich zu machen versteht, wie er seine Figuren zeichne und die Dialoge führe. Nur eines vermisst der Rezensent, und zwar das "Ungebärdige" großer Kunst, was immer das auch heißen mag.
© Perlentaucher Medien GmbH
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