Was geschieht, wenn sich eine hoffnungsvolle deutsche Jungdramatikerin und ein hochrenommierter, aber seit Jahrzehnten von einer Schreibhemmung blockierter jüdischer Schriftsteller zusammentun, um das definitive Theaterstück über Auschwitz zu schreiben? Tali jedenfalls, die 17jährige Tochter des Autors George Zwikatz, der in den sechziger Jahren mit dem Versepos "Hopalong Cassidy" berühmt geworden ist, befürchtet das Schlimmste. Sie will alles daran setzen, um den Vater aus den Klauen der professionellen Gesamtschuldbewältigerin zu befreien und das Werk "Purgatorium", den prospektiven Liebling aller politisch korrekten Feuilletons, zu verhindern. Und da fällt einer mit allen Wassern gewaschenen jüdischen Berliner Göre schon etliches ein - bis sie zu ihrem Entsetzen feststellen muß, daß ihr die gehaßte Konkurrentin um die Gunst des Vaters unter der Hand zum Objekt einer ihr völlig neuen sexuellen Leidenschaft mutiert ist...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.1999Ein federleichter Elefant
Schrecken spottet der Beschreibung: Martin Klugers Psychodrama
Kann das gutgehen? Der berühmte jüdische Dichter George Zwikatz, der seine gesamte Familie in Auschwitz verloren hat, und seine Geliebte Karin Lindner, bekannt als philosemitisches Gewissen des deutschen Nachkriegstheaters, beschließen, gemeinsam das definitive Theaterstück über den Holocaust zu verfassen. In ihrem "Purgatorium" besichtigt eine bundesrepublikanische Reisegruppe Auschwitz. "Plötzlich gingen die Türen zu, eine Art Zeitmaschinenurknall hatte stattgefunden, und den Bürgern dämmerte allmählich, daß sie bald vergast werden würden, da sie ja wußten: das war wohl irgendwann irgendwie irgendwo mal geschehen." Die Gaskammer auf der Bühne als Gipfel künstlerischer Vergangenheitsbewältigung? Das geht natürlich nicht gut.
Kann das gutgehen? Zwikatz' siebzehnjährige rebellische Tochter Tali hat sich unsterblich in Papas neue Liebe verknallt und versucht mit berlinerischem Sprach- und Aberwitz, die Liaison der beiden zu torpedieren. Obwohl sie das Theaterprojekt für ausgemachten Blödsinn hält, verblüfft sie unter falschem Namen ein germanistisches Hauptseminar mit gewagten Thesen über die sensationelle Koproduktion und steht am Ende gar selbst unter der Regie Karin Lindners auf der Bühne. Das "Purgatorium" als Gefühlskatalysator für eine lesbische Schwärmerei? Das geht natürlich nicht gut.
Kann das gutgehen? Der 1948 geborene und vor allem als Drehbuchautor ("Rama Dama", "Felidae") erfolgreiche Schriftsteller Martin Kluger benutzt einen kolportagehaften Plot, um aus der Perspektive einer jungen Jüdin provozierende Fragen nach dem aktuellen Verhältnis von Deutschen und Juden zu stellen, und siedelt die Geschichte auch Ende der Achtziger zwischen Historikerstreit und Mauerfall an. Eine Beziehungskomödie als Projektionsfläche für eine Holocaust-Debatte? Wider Erwarten: Das geht gut. Weil es natürlich nicht gut ausgeht.
Die weise wie wortgewandte Ich-Erzählerin Tali Zwikatz nämlich erweist sich als erzählerischer Glücksgriff, der verhindert, daß der Roman bereits auf den ersten Seiten unerträglich wird. Denn Kluger faßt sein Thema gleich bei den Hörnern: Vater und Tochter reisen erstmals nach Auschwitz. Auf acht rücksichtslos erzählten Seiten wird die prekäre jüdische Identität Talis bedrückend-eindrücklich vergegenwärtigt, ihr gleichgültiger, ja flapsiger Beschreibungston wirkt wie ein Schock. "Es wartete, ganz harmlos. Es sah aus wie die Kadettenanstalt von Lichterfelde. Es sah aus wie eine Schule." Doch ein einziger Satz macht Talis Abwehr von Betroffenheitsritualen als lebensnotwendige Schutzvorrichtung erkennbar: "Am Ende der Rampe wollte ich für immer bleiben."
Keiner ihrer makabren Scherze ist ohne tiefe Bedeutung, kein Schelmenstück ist ohne den versteckten Bezug zur Verzweiflung. "Sinnierend standen die Selbstmörder vor den Fahrscheinautomaten der U-Bahn." Der Tod kommnt daher wie einer ihrer alternativen Kumpel aus Schöneberg. Tali verkauft vor der Gedächtniskirche Seidenkrawatten mit Judenstern und der Aufschrift "I was in Auschwitz" (und wird darauf wegen antisemitischer Hetze verhaftet) und steigt bei dem ökologischen "Beerdigungs-take away Cool ans andere Ufer" als "aura-sensitive GrabrednerIn" ein, wobei sie ihrem Vater eine Probegrabrede widmet ("Eines unserer alten Spiele: Ich deklamierte seinen Nachruf, er lachte sich halbtot").
Um ihre eigene Identität zu erstreiten, muß sich Tali sowohl ihrer Funktion "als Anschauungsobjekt für den Schuld-Unterricht" als auch ihrer Hauptrolle im väterlichen Gedächtnistheater entziehen. Tali wurde nach der in der Gaskammer umgebrachten Schwester ihres Vaters benannt, der auch Georges bekanntestes Gedicht gewidmet ist, einem der "auswendig zu lernenden Meisterwerke deutscher Nachkriegszunge". Ihre Lust zur Provokation folgt einem Zwang zum Anderssein: ",Katholizismus', notierte ich in mein Ringbuch: ,Wenn Scheiße passiert, hab ich's verdient'. Protestantismus: ,Scheiße passiert nicht, wenn ich härter arbeite'. Judaismus: ,Warum passiert Scheiße immer nur mir?'"
Auch Talis Abscheu vor "So so-Kulturdeutschen" mit "unsichtbaren Pickelhauben", an deren Spitzen "Wimpel mit der Aufschrift ,Mein bester Freund ist Jude'" wehen, darf nicht als zeitgeistige Abrechnung mit dem Erinnerungsdiskurs schlechthin mißverstanden werden. Im Gegenteil zeigt sich ja gerade Talis eigene Ambivalenz in ihrer unglücklichen Beziehung zu Karin ("Großer Geier, Liebe!"), die mit ihren Irrungen und Wirrungen zugleich die Handlung in Schwung hält. Das Handwerkliche, das sich nicht scheut, komische Effekte auszuspielen, gerät dem Buch zum Vorteil, denn Kluger umschifft so im wendigen Unterhaltungsdampfer die Klippen einer künstlerischen Beschäftigung mit der Shoah, an denen schon manch überladene Frachtschiffe auf Grund gelaufen sind.
Im aberwitzigen "Purgatorium"-Stück spitzt Kluger dieses Dilemma auf bitter-satirische Weise zu. "Gasgeruch aus Spezialdüsen war geplant für das Ende, Lieferant: Very Special Effects GmbH Köln Gürzenich". Als George bei der Premiere Tali in der Rolle seiner ermordeten Schwester erblickt, erleidet er einen tödlichen Herzinfarkt. Nach dieser überraschenden Wendung mutiert Karin endgültig zur Amokläuferin des Gedächtnisdiskurses: Bei einem Festakt läßt sie sich und George dafür feiern, mit der simulierten Vergasung des Theaterpublikums Türen "zu einem neuen, zugegeben radikaleren, aber wahrhaftigeren Dialog" zwischen Deutschen und Juden aufgestoßen zu haben. "Ich sah das anders", kommentiert die endlich ernüchterte Tali: "Es gab keinen Dialog. Es gab nur sechs Millionen Monologe, die keiner mehr hören wollte."
Primo Levi hat berichtet, daß er in Dante-Versen sein Häftlingsschicksal in Auschwitz spiegeln konnte. Peter Weiss, dessen "Ermittlung" bereits die "Göttliche Komödie" zitiert, arbeitet jahrelang vergeblich an einem megalomanen Dante-Projekt, das Auschwitz auf exemplarische Weise literarisch verarbeiten wollte. Auch "Die Verscheuchte" besteht aus 33 Kapiteln und gibt sich damit selber ironisch als Sequel des "Purgatoriums" zu erkennen. Die Provokation liegt in der leichten Form, die manchem als frivol erscheinen mag, tatsächlich jedoch als Zeichen eines trotzigen Dennoch Talis Lebenswillen einzig angemessen ist.
Während ihrem Vater die Vergangenheit zur tödlichen Begleiterin wurde, wählt sie die Zukunft zur Lebensgefährtin: "Tali lebt", wenn auch als (aus Deutschland) "Verscheuchte". Da Kluger das Gewicht seines Themas auf die belastbaren Schultern seiner Heldin wuchtet, entgeht er selbst dem Vorwurf, sich verhoben zu haben. Tali findet, wie immer, die unpassenden Worte dafür: "PAPAGEIEN: Und Sie plädieren wirklich für die Abschaffung der Literaturkritik? MESSIAS: Ich meine, ist doch easy zu sagen, daß ein Elefant, auch wenn er Diamantenaugen und hermelingefütterte Stoßzähne hat, kein tolles Warzenschwein ist, oder? Und darauf läuft doch die ganze Kritikersülze raus, stimmt's?" RICHARD KÄMMERLINGS
Martin Kluger: "Die Verscheuchte". Roman. Ullstein Verlag, Berlin 1998. 182 S., geb., 34,- DM.
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Schrecken spottet der Beschreibung: Martin Klugers Psychodrama
Kann das gutgehen? Der berühmte jüdische Dichter George Zwikatz, der seine gesamte Familie in Auschwitz verloren hat, und seine Geliebte Karin Lindner, bekannt als philosemitisches Gewissen des deutschen Nachkriegstheaters, beschließen, gemeinsam das definitive Theaterstück über den Holocaust zu verfassen. In ihrem "Purgatorium" besichtigt eine bundesrepublikanische Reisegruppe Auschwitz. "Plötzlich gingen die Türen zu, eine Art Zeitmaschinenurknall hatte stattgefunden, und den Bürgern dämmerte allmählich, daß sie bald vergast werden würden, da sie ja wußten: das war wohl irgendwann irgendwie irgendwo mal geschehen." Die Gaskammer auf der Bühne als Gipfel künstlerischer Vergangenheitsbewältigung? Das geht natürlich nicht gut.
Kann das gutgehen? Zwikatz' siebzehnjährige rebellische Tochter Tali hat sich unsterblich in Papas neue Liebe verknallt und versucht mit berlinerischem Sprach- und Aberwitz, die Liaison der beiden zu torpedieren. Obwohl sie das Theaterprojekt für ausgemachten Blödsinn hält, verblüfft sie unter falschem Namen ein germanistisches Hauptseminar mit gewagten Thesen über die sensationelle Koproduktion und steht am Ende gar selbst unter der Regie Karin Lindners auf der Bühne. Das "Purgatorium" als Gefühlskatalysator für eine lesbische Schwärmerei? Das geht natürlich nicht gut.
Kann das gutgehen? Der 1948 geborene und vor allem als Drehbuchautor ("Rama Dama", "Felidae") erfolgreiche Schriftsteller Martin Kluger benutzt einen kolportagehaften Plot, um aus der Perspektive einer jungen Jüdin provozierende Fragen nach dem aktuellen Verhältnis von Deutschen und Juden zu stellen, und siedelt die Geschichte auch Ende der Achtziger zwischen Historikerstreit und Mauerfall an. Eine Beziehungskomödie als Projektionsfläche für eine Holocaust-Debatte? Wider Erwarten: Das geht gut. Weil es natürlich nicht gut ausgeht.
Die weise wie wortgewandte Ich-Erzählerin Tali Zwikatz nämlich erweist sich als erzählerischer Glücksgriff, der verhindert, daß der Roman bereits auf den ersten Seiten unerträglich wird. Denn Kluger faßt sein Thema gleich bei den Hörnern: Vater und Tochter reisen erstmals nach Auschwitz. Auf acht rücksichtslos erzählten Seiten wird die prekäre jüdische Identität Talis bedrückend-eindrücklich vergegenwärtigt, ihr gleichgültiger, ja flapsiger Beschreibungston wirkt wie ein Schock. "Es wartete, ganz harmlos. Es sah aus wie die Kadettenanstalt von Lichterfelde. Es sah aus wie eine Schule." Doch ein einziger Satz macht Talis Abwehr von Betroffenheitsritualen als lebensnotwendige Schutzvorrichtung erkennbar: "Am Ende der Rampe wollte ich für immer bleiben."
Keiner ihrer makabren Scherze ist ohne tiefe Bedeutung, kein Schelmenstück ist ohne den versteckten Bezug zur Verzweiflung. "Sinnierend standen die Selbstmörder vor den Fahrscheinautomaten der U-Bahn." Der Tod kommnt daher wie einer ihrer alternativen Kumpel aus Schöneberg. Tali verkauft vor der Gedächtniskirche Seidenkrawatten mit Judenstern und der Aufschrift "I was in Auschwitz" (und wird darauf wegen antisemitischer Hetze verhaftet) und steigt bei dem ökologischen "Beerdigungs-take away Cool ans andere Ufer" als "aura-sensitive GrabrednerIn" ein, wobei sie ihrem Vater eine Probegrabrede widmet ("Eines unserer alten Spiele: Ich deklamierte seinen Nachruf, er lachte sich halbtot").
Um ihre eigene Identität zu erstreiten, muß sich Tali sowohl ihrer Funktion "als Anschauungsobjekt für den Schuld-Unterricht" als auch ihrer Hauptrolle im väterlichen Gedächtnistheater entziehen. Tali wurde nach der in der Gaskammer umgebrachten Schwester ihres Vaters benannt, der auch Georges bekanntestes Gedicht gewidmet ist, einem der "auswendig zu lernenden Meisterwerke deutscher Nachkriegszunge". Ihre Lust zur Provokation folgt einem Zwang zum Anderssein: ",Katholizismus', notierte ich in mein Ringbuch: ,Wenn Scheiße passiert, hab ich's verdient'. Protestantismus: ,Scheiße passiert nicht, wenn ich härter arbeite'. Judaismus: ,Warum passiert Scheiße immer nur mir?'"
Auch Talis Abscheu vor "So so-Kulturdeutschen" mit "unsichtbaren Pickelhauben", an deren Spitzen "Wimpel mit der Aufschrift ,Mein bester Freund ist Jude'" wehen, darf nicht als zeitgeistige Abrechnung mit dem Erinnerungsdiskurs schlechthin mißverstanden werden. Im Gegenteil zeigt sich ja gerade Talis eigene Ambivalenz in ihrer unglücklichen Beziehung zu Karin ("Großer Geier, Liebe!"), die mit ihren Irrungen und Wirrungen zugleich die Handlung in Schwung hält. Das Handwerkliche, das sich nicht scheut, komische Effekte auszuspielen, gerät dem Buch zum Vorteil, denn Kluger umschifft so im wendigen Unterhaltungsdampfer die Klippen einer künstlerischen Beschäftigung mit der Shoah, an denen schon manch überladene Frachtschiffe auf Grund gelaufen sind.
Im aberwitzigen "Purgatorium"-Stück spitzt Kluger dieses Dilemma auf bitter-satirische Weise zu. "Gasgeruch aus Spezialdüsen war geplant für das Ende, Lieferant: Very Special Effects GmbH Köln Gürzenich". Als George bei der Premiere Tali in der Rolle seiner ermordeten Schwester erblickt, erleidet er einen tödlichen Herzinfarkt. Nach dieser überraschenden Wendung mutiert Karin endgültig zur Amokläuferin des Gedächtnisdiskurses: Bei einem Festakt läßt sie sich und George dafür feiern, mit der simulierten Vergasung des Theaterpublikums Türen "zu einem neuen, zugegeben radikaleren, aber wahrhaftigeren Dialog" zwischen Deutschen und Juden aufgestoßen zu haben. "Ich sah das anders", kommentiert die endlich ernüchterte Tali: "Es gab keinen Dialog. Es gab nur sechs Millionen Monologe, die keiner mehr hören wollte."
Primo Levi hat berichtet, daß er in Dante-Versen sein Häftlingsschicksal in Auschwitz spiegeln konnte. Peter Weiss, dessen "Ermittlung" bereits die "Göttliche Komödie" zitiert, arbeitet jahrelang vergeblich an einem megalomanen Dante-Projekt, das Auschwitz auf exemplarische Weise literarisch verarbeiten wollte. Auch "Die Verscheuchte" besteht aus 33 Kapiteln und gibt sich damit selber ironisch als Sequel des "Purgatoriums" zu erkennen. Die Provokation liegt in der leichten Form, die manchem als frivol erscheinen mag, tatsächlich jedoch als Zeichen eines trotzigen Dennoch Talis Lebenswillen einzig angemessen ist.
Während ihrem Vater die Vergangenheit zur tödlichen Begleiterin wurde, wählt sie die Zukunft zur Lebensgefährtin: "Tali lebt", wenn auch als (aus Deutschland) "Verscheuchte". Da Kluger das Gewicht seines Themas auf die belastbaren Schultern seiner Heldin wuchtet, entgeht er selbst dem Vorwurf, sich verhoben zu haben. Tali findet, wie immer, die unpassenden Worte dafür: "PAPAGEIEN: Und Sie plädieren wirklich für die Abschaffung der Literaturkritik? MESSIAS: Ich meine, ist doch easy zu sagen, daß ein Elefant, auch wenn er Diamantenaugen und hermelingefütterte Stoßzähne hat, kein tolles Warzenschwein ist, oder? Und darauf läuft doch die ganze Kritikersülze raus, stimmt's?" RICHARD KÄMMERLINGS
Martin Kluger: "Die Verscheuchte". Roman. Ullstein Verlag, Berlin 1998. 182 S., geb., 34,- DM.
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