Einer der wichtigsten Autoren Portugals
Gibt es eine Formel für den Schrecken? Theodor Busbeck, Arzt und Historiker, ist besessen von der Idee, das Übel folge einer inneren Logik, und er arbeitet fieberhaft daran, künftige Schrecken im Voraus berechnen zu können. Seine Exfrau und Patientin Mylia trotzt seit Jahren den Prognosen der Ärzte über ihren immanenten Tod; Ernst Spengler, ihr ehemaliger Geliebter, ist seit seinem Aufenthalt in der Nervenklinik ein gebrochener Mann und des Lebens überdrüssig, und Hinnerk Obst ist ein vom Krieg Gezeichneter. In einer schicksalhaften Nacht treffen all diese Personen aufeinander, und die Gewalt scheint unausweichlich ...
Mit lakonisch eindringlicher Stimme erzählt Tavares eine verstörende Geschichte. "Die Versehrten" ist eine atemlos-spannende Tragödie und zugleich eine philosophische Parabel über das 20. Jahrhundert, »ein vielschichtiges und bewegendes Drama über die Entfremdung in der heutigen Welt« (Alberto Manguel).
Gibt es eine Formel für den Schrecken? Theodor Busbeck, Arzt und Historiker, ist besessen von der Idee, das Übel folge einer inneren Logik, und er arbeitet fieberhaft daran, künftige Schrecken im Voraus berechnen zu können. Seine Exfrau und Patientin Mylia trotzt seit Jahren den Prognosen der Ärzte über ihren immanenten Tod; Ernst Spengler, ihr ehemaliger Geliebter, ist seit seinem Aufenthalt in der Nervenklinik ein gebrochener Mann und des Lebens überdrüssig, und Hinnerk Obst ist ein vom Krieg Gezeichneter. In einer schicksalhaften Nacht treffen all diese Personen aufeinander, und die Gewalt scheint unausweichlich ...
Mit lakonisch eindringlicher Stimme erzählt Tavares eine verstörende Geschichte. "Die Versehrten" ist eine atemlos-spannende Tragödie und zugleich eine philosophische Parabel über das 20. Jahrhundert, »ein vielschichtiges und bewegendes Drama über die Entfremdung in der heutigen Welt« (Alberto Manguel).
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieses Kammerspiel der menschlichen Psyche gefällt Nicole Henneberg wegen seiner an Jose Saramago erinnernden stilistischen Lakonie und Kargheit sowie der Radikalität, mit der Goncalo M. Tavares seine ambivalenten Figuren in einer einzigen Nacht aufeinander treffen lässt. Der Ideenroman beeindruckt die Rezensentin durch das Aufspüren feinster, allgemeinen Maßstäben widersprechenden Empfindungen, die, unmerklich fast, sogar ihre eigene Wahrnehmung vermeintlich natürlicher Ordnungsmuster infrage stellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2013Es gibt keine Unschuld
Kältekammer der Freiheit: In seinem kunstvoll radikalen Ideenroman schickt Gonçalo M. Tavares seine Figuren durch die irdische Hölle.
Der Roman "Die Versehrten" von Gonçalo M. Tavares lässt sich auch als Lehrstück lesen: Aristoteles, Augustinus, Kant und Goethe kommen zwar nicht namentlich darin vor, ihre Thesen über die Natur des Bösen hingegen schon - was kein Zufall ist, denn der Autor lehrt Erkenntnistheorie an der Universität von Lissabon.
Sein kunstvoll lakonischer, radikaler Ideenroman spielt in einer einzigen Nacht und lotet die Seelenabgründe von vier Menschen aus, die von Angst und Unruhe aus ihren Wohnungen auf die Straße getrieben werden und in einem lebensentscheidenden Moment aufeinandertreffen. Der karge Stil und die kühle Diktion erinnern an José Saramago, der denn auch persönlich eine begeisterte Laudatio hielt, als Tavares 2005 mit dem Prémio José Saramago ausgezeichnet wurde.
Das rätselhafte und verstörende Zentrum dieses labyrinthischen Kammerspiels ist Mylia, eine zarte, schöne Frau, die aber schnell gewalttätig und ausfallend werden kann - sie ist schizophren und leidet unter den Folgen einer Zwangssterilisation in einer psychiatrischen Klinik. Ihr Mann, Theodor Busbeck, hatte sie dort einliefern lassen, als ihre körperlichen Angriffe auf ihn immer häufiger wurden. Busbeck ist nicht nur ein bekannter Psychiater, sondern auch ein bewunderter Forscher: Er durchkämmt die Geschichte der Grausamkeit und des Leidens in der Welt, legt Statistiken an und entwickelt Kurven, die Zyklen von Gewalt vorausbestimmen sollen. Dem Herzschlag der Welt glaubt er auf der Spur zu sein und erkennt in Taten, die reiner Bösartigkeit entsprangen (wie die Massenmorde der Nationalsozialisten), den wahren Motor der Geschichte. Seine Begeisterung für das Thema macht ihn blind für die Grausamkeiten, die vor seinen Augen in der psychiatrischen Klinik geschehen oder die er selbst seiner Frau antut.
Alle Figuren und ihre Handlungen sind ambivalent in diesem Roman, dessen Stärke darin besteht, in feinste Wahrnehmungen und Empfindungen einzudringen und genau festzuhalten, wo diese das gesellschaftliche Maß und seine Ordnungsmuster sprengen. Auf unheimliche Weise verändert sich damit auch der Blick des Lesers, der plötzlich die Willkür hinter vermeintlich natürlichen Regeln sieht.
Jedes der knappen Kapitel liefert, in der Zeit vor und zurück springend, ein Stückchen einer verhängnisvollen Geschichte, deren Schicksalsmomente sich im Lauf des Romans als zwingend und doch als zufällig erweisen. Alle fünf Protagonisten - neben Mylia und Theodor noch der geh- und sprachbehinderte Sohn Mylias aus einer früheren Beziehung, ihr Geliebter Ernst und der Kriegsveteran Hinnerk - sind leidenschaftlich Suchende, die sich an leere Rituale und brüchige Beziehungen klammern und so immer tiefer in ihrem eigenen Kosmos versinken. Vielleicht werden sie deshalb von einer Kirche magnetisch angezogen. Doch das verschlossene Gotteshaus erweist sich als besonders desillusionierender Ort: Er öffnet sich für Mylia, die Hartnäckigste, erst dann, als sie eine ungeheuerliche Schuld behauptet - die in ihrer ausweglosen Absurdität einer griechischen Tragödie entsprungen scheint.
Es gibt keinen Unschuldigen in dieser Welt, die Menschen fühlen sich verlassen und in die Enge getrieben. Wonach sie sich sehnen, ahnen sie nur dunkel, daher sind sie der geheimen Verbindung, die das Böse mit der Transzendenz des Guten unterhält, hilflos ausgeliefert. Im Roman ist der exemplarische Ort, der diese Not nackt vorführen will, die Irrenanstalt, die allerdings unter dieser erzählerischen Beweislast zum thesenhaften Pappmodell schrumpft: Beherrscht von demütigenden Machtspiele und hybriden Ärzte (die "kranke" Gedanken einfach für amoralisch erklären), scheint sie direkt dem Denken von Michel Foucault entsprungen.
Doch Hinnerk und Mylia sind gerade in ihre Widersprüchlichkeit beeindruckende Figuren, die durch Phantasie, Verletzlichkeit und wütenden Eigensinn überzeugen - und durch ihr Ringen um Sprache. Sie verkörpern den Kampf um die menschliche Würde, die sich in gesunden wie in kranken Tagen gegen ein Gefühl doppelter Fremdheit behaupten muss: sich selbst und einer vielleicht sinnlosen Welt gegenüber.
NICOLE HENNEBERG
Gonçalo M. Tavares: "Die Versehrten". Roman. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kältekammer der Freiheit: In seinem kunstvoll radikalen Ideenroman schickt Gonçalo M. Tavares seine Figuren durch die irdische Hölle.
Der Roman "Die Versehrten" von Gonçalo M. Tavares lässt sich auch als Lehrstück lesen: Aristoteles, Augustinus, Kant und Goethe kommen zwar nicht namentlich darin vor, ihre Thesen über die Natur des Bösen hingegen schon - was kein Zufall ist, denn der Autor lehrt Erkenntnistheorie an der Universität von Lissabon.
Sein kunstvoll lakonischer, radikaler Ideenroman spielt in einer einzigen Nacht und lotet die Seelenabgründe von vier Menschen aus, die von Angst und Unruhe aus ihren Wohnungen auf die Straße getrieben werden und in einem lebensentscheidenden Moment aufeinandertreffen. Der karge Stil und die kühle Diktion erinnern an José Saramago, der denn auch persönlich eine begeisterte Laudatio hielt, als Tavares 2005 mit dem Prémio José Saramago ausgezeichnet wurde.
Das rätselhafte und verstörende Zentrum dieses labyrinthischen Kammerspiels ist Mylia, eine zarte, schöne Frau, die aber schnell gewalttätig und ausfallend werden kann - sie ist schizophren und leidet unter den Folgen einer Zwangssterilisation in einer psychiatrischen Klinik. Ihr Mann, Theodor Busbeck, hatte sie dort einliefern lassen, als ihre körperlichen Angriffe auf ihn immer häufiger wurden. Busbeck ist nicht nur ein bekannter Psychiater, sondern auch ein bewunderter Forscher: Er durchkämmt die Geschichte der Grausamkeit und des Leidens in der Welt, legt Statistiken an und entwickelt Kurven, die Zyklen von Gewalt vorausbestimmen sollen. Dem Herzschlag der Welt glaubt er auf der Spur zu sein und erkennt in Taten, die reiner Bösartigkeit entsprangen (wie die Massenmorde der Nationalsozialisten), den wahren Motor der Geschichte. Seine Begeisterung für das Thema macht ihn blind für die Grausamkeiten, die vor seinen Augen in der psychiatrischen Klinik geschehen oder die er selbst seiner Frau antut.
Alle Figuren und ihre Handlungen sind ambivalent in diesem Roman, dessen Stärke darin besteht, in feinste Wahrnehmungen und Empfindungen einzudringen und genau festzuhalten, wo diese das gesellschaftliche Maß und seine Ordnungsmuster sprengen. Auf unheimliche Weise verändert sich damit auch der Blick des Lesers, der plötzlich die Willkür hinter vermeintlich natürlichen Regeln sieht.
Jedes der knappen Kapitel liefert, in der Zeit vor und zurück springend, ein Stückchen einer verhängnisvollen Geschichte, deren Schicksalsmomente sich im Lauf des Romans als zwingend und doch als zufällig erweisen. Alle fünf Protagonisten - neben Mylia und Theodor noch der geh- und sprachbehinderte Sohn Mylias aus einer früheren Beziehung, ihr Geliebter Ernst und der Kriegsveteran Hinnerk - sind leidenschaftlich Suchende, die sich an leere Rituale und brüchige Beziehungen klammern und so immer tiefer in ihrem eigenen Kosmos versinken. Vielleicht werden sie deshalb von einer Kirche magnetisch angezogen. Doch das verschlossene Gotteshaus erweist sich als besonders desillusionierender Ort: Er öffnet sich für Mylia, die Hartnäckigste, erst dann, als sie eine ungeheuerliche Schuld behauptet - die in ihrer ausweglosen Absurdität einer griechischen Tragödie entsprungen scheint.
Es gibt keinen Unschuldigen in dieser Welt, die Menschen fühlen sich verlassen und in die Enge getrieben. Wonach sie sich sehnen, ahnen sie nur dunkel, daher sind sie der geheimen Verbindung, die das Böse mit der Transzendenz des Guten unterhält, hilflos ausgeliefert. Im Roman ist der exemplarische Ort, der diese Not nackt vorführen will, die Irrenanstalt, die allerdings unter dieser erzählerischen Beweislast zum thesenhaften Pappmodell schrumpft: Beherrscht von demütigenden Machtspiele und hybriden Ärzte (die "kranke" Gedanken einfach für amoralisch erklären), scheint sie direkt dem Denken von Michel Foucault entsprungen.
Doch Hinnerk und Mylia sind gerade in ihre Widersprüchlichkeit beeindruckende Figuren, die durch Phantasie, Verletzlichkeit und wütenden Eigensinn überzeugen - und durch ihr Ringen um Sprache. Sie verkörpern den Kampf um die menschliche Würde, die sich in gesunden wie in kranken Tagen gegen ein Gefühl doppelter Fremdheit behaupten muss: sich selbst und einer vielleicht sinnlosen Welt gegenüber.
NICOLE HENNEBERG
Gonçalo M. Tavares: "Die Versehrten". Roman. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
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