Diese Gedichte, entstanden vor allem in den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, begleiten Wolfgang Hilbig auf seinem Weg vom unbekannten Arbeiter in eine schriftstellerische und damit öffentliche Existenz - ein Weg, der sich durchaus als ein Gang in "die versprengung" erweist. Wolfgang Hilbigs Gedichte sind existenzielle Gebilde, expressiv und obsessiv, jede Form und jeden Inhalt sprengend. Es ist ein "Schreiben bei Gewitterlicht" (Karl Krolow), dessen Widerschein auf diesen Seiten glüht: ein rasender Wortrausch, dessen ungeheure Intensität kein Entkommen erlaubt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2008Die Zärtlichkeit meiner Rose im Schädel
Für die Schublade zu schreiben, fand er unwürdig, und doch musste er es in der DDR lange tun. Jetzt sind die Scherben von damals zusammengefügt - und funkeln: Wolfgang Hilbigs gesammelte Gedichte.
Von Harald Hartung
Mitte der sechziger Jahre, in Meuselwitz, dem verdrecktesten Braunkohleort der DDR, schrieb ein junger Mann, der zum Bohrwerksdreher ausgebildet worden war und von wechselnden Jobs lebte, Verse in ein DIN-A5-Heft, versah diese dreiundfünfzig Gedichte mit Motti und Kapitelgliederungen und gab ihnen den Titel "Scherben für damals und jetzt". Das war vermutlich 1964, um die Zeit, da man ihn zu einem Zirkel schreibender Arbeiter nach Leipzig delegierte. Wolfgang Hilbig mag sich damals die Publikation dieser Gedichte versprochen haben.
Es kam anders. Die Stasi beschlagnahmte das Heft. Und der Autor muss es verlorengegeben haben. Er hatte nicht mit dem bürokratischen Ordnungssinn der Stasi gerechnet. Aus ihrem Nachlass gelangte das konfiszierte Manuskript, jede Seite versehen mit dem Stempel der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, in die Hände seines Eigentümers zurück. Der Titel von einst erhielt damit eine späte Rechtfertigung: Die Scherben von damals wurden wieder zusammengefügt, ordnen sich jetzt dem Gesamtwerk ein. Man darf das eine Sensation nennen. Die dreiundfünfzig Gedichte kann man nun in der Gesamtausgabe des im Vorjahr verstorbenen Autors lesen. Sie eröffnen den zweiten Teil dieser Ausgabe, der einen erstaunlich umfangreichen Bestand an nachgelassener Lyrik enthält. Auf zweihundert Seiten ist hier dokumentiert, wie ein Autor knapp fünfzehn Jahre lang ohne Aussicht darauf schrieb, dass ihn eine größere Öffentlichkeit wahrnahm. Hilbig folgte einfach nur seinem Traum, Dichter zu werden.
Diese Hoffnung wider alle Hoffnung muss ihn alle die Jahre beflügelt haben, in Meuselwitz, später in Ost-Berlin. Der meistens als Heizer tätige Nachtarbeiter, der in der bleiernen Erschöpfung der Arbeitswoche nach Freiräumen suchte, im Boxen, Raufen, im exzessiven Trinken, fand sein Lebenselixier im Schreiben, das aus nicht minder exzessiver Lektüre erwuchs. Hilbig zeigt in seinen dreiundfünfzig Scherben die bekannten Schwächen des Autodidakten. Er bedichtet die Maimorgensonne und das Fröschlein am Ufer des Quells, reimt Schwermut auf Herzblut und schaut gläubig zu Hermann Hesse auf.
Aber er öffnet sich auch der Moderne. Die Sequenz "Die Sprache eines Feuerfressers" bezieht sich auf Tristan Corbière, und das ist gewiss kein Allerweltsname. Sie beschwört, gespeist durch seine Erfahrung als Heizer, auf kraftvolle Weise das Feuer: "Ich geboren, / unterm Feuer der Zeit, / verkohlt, verräuchert, entmoralisiert". Der junge Dichter schreibt ein vorweggenommenes Epitaph: "auf meinen Grabstein hau man mir / ein Herz, durchbohrt mit einem Schwert." Hier kündigt sich jenes Pathos an, das bei Hilbig mit dem Leiden zusammenhängt. Doch Hilbig besaß Nehmerqualitäten und hielt es für eine Perversion, für die Schublade zu schreiben. 1968 schickte er an die "Neue Deutsche Literatur" folgende Anzeige: "Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte? Nur ernstgemeinte Zuschriften an W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstraße 19b." Die Redaktion druckte die Annonce, unsicher im Dschungel der Anweisungen oder überrascht von Hilbigs provokatorischer Chuzpe. Es gab keine Reaktion, weder in Ost noch West. Und so dauerte es noch weitere zehn Jahre, ehe Hilbigs erstes Buch erschien, der Gedichtband "abwesenheit".
Er erschien, vermittelt von Karl Corino, bei S. Fischer in Frankfurt. Noch am Vorabend der Manuskriptübergabe glaubte Hilbig das Manuskript verloren. Er hatte in der Leipziger Wohnung eines Freundes daraus vorgelesen und rief: "Das wurde von der Stasi geklaut." In diesem Falle freilich nicht: Das Konvolut fand sich, von Rotweinflecken gesprenkelt, unter dem Reisstrohteppich des Bücherzimmers. Die West-Veröffentlichung trug Hilbig eine Strafe von 2000 Mark ein, weil sie vom Büro für Urheberrechte nicht genehmigt war. Eine unbeabsichtigte Reklame. Das nun erlangte Renommee schützte ihn fortan vor weiteren Schikanen der DDR-Literaturbürokratie. Hilbig war endlich bekannt, und das in beiden deutschen Staaten. Spätestens nach Hilbigs Übersiedlung in den Westen 1985 wuchs der Ruhm, 2002 kam der Büchner-Preis.
Bemerkenswert, was er den Umständen vorher abrang. "Auschwitz-Prozeß", aus dem Juli 1965, ist ein galliger Kommentar zu den Mechanismen der Verdrängung. Illusionslose Klarsicht bewährte sich auch in eigener Sache. "Hiobswoche" von 1966 zeichnet schon früh den fatalen Zirkel des Alkoholismus: "das war die Woche in der ich die Menschen nur / durch Schwämme erblickt hab in der ich all / mein Geld vernichtet hab und meine Liebe und / die Zärtlichkeit meiner Rose im Schädel." Doch die Rose im Schädel war nicht endgültig zu vernichten. Dieser Hiob wollte kein heiliger Trinker sein. Im Jahr der "Hiobswoche" wählte er sich einen dichtenden Arzt zum Eideshelfer. Für "vom traum der dichtkunst" nahm er das Motto von William Carlos Williams: "new books of poetry will be written". In diesem Gedicht gibt es einen scheinbar autoaggressiven Schluss: "tretet mir auf den mund tretet / mir doch auf den mund." Das kann nur sagen, wer weiß, dass seine Stimme unauslöschlich ist.
Zumindest einen Versuch der Staatsmacht, Hilbig mundtot zu machen, hat es gegeben. Im Mai 1978 wurde er beschuldigt, nach der Maifeier eine Fahne, also ein staatliches Emblem, heruntergeholt und verbrannt zu haben. Die Anklage wegen "Rowdytums", die auf der Aussage eines schwer alkoholisierten Zeugen basierte, musste fallengelassen werden, und Hilbig kam nach knapp zwei Monaten frei, aber das Gefängnistrauma wirkte nach.
Man liest Hilbigs nunmehr gesammelte Lyrik anders, wenn man die Gedichte der Schweigejahre hinzunimmt. Man liest auch die bekannten Gedichtbände, die den Ruhm begründeten, pointierter, nämlich als die Summen dreier poetischer Epochen. Da fungiert "abwesenheit" (1979) als eine Absage an staatliche Bevormundung; "versprengung" (1986) als anarchisch-revoltierende Zerstäubung von Subjekt und Sinnbezug; und die späten "Bilder vom Erzählen" (2001) als Heimkehr zu den großen Figuren des abendländischen Erbes. Es ist die Heimkehr zum "Traumbuch der Moderne", zu Poe, Eliot und Ezra Pound, der das Ithaka der Poesie wiederfinden wollte.
In dieser großen Abendphantasie teilt sich auch Hilbig einen Platz zu, keinen überzogenen, doch auch keinen allzu bescheidenen. Die letzten Zeilen aus diesem letzten Gedichtband enden mit dem Aufruf zu neuem Aufbruch: "was gestern licht und wert war ist verschwendet - / und es ist Nacht und Zeit daß du dich wandelst." Das ist, mit dem Titel des Gedichts, "Pro domo et mundo" gesprochen, für Haus und Welt. Es zitiert den Titel einer Aphorismensammlung von Karl Kraus. Und so verstand Hilbig, um Kraus, fortzuspinnen, das Haus als das alte Haus der Sprache und sich als den Letzten derer, die darin wohnen.
- Wolfgang Hilbig: "Gedichte". Mit einem Nachwort von Uwe Kolbe. (Werke Bd. 1.) Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann, Oliver Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 538 S., geb., 22,90 [Euro].
- Karen Lohse: "Wolfgang Hilbig". Eine motivische Biographie. Plöttner Verlag, Leipzig 2008. 144 S., geb., 17,90 [Euro].
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Für die Schublade zu schreiben, fand er unwürdig, und doch musste er es in der DDR lange tun. Jetzt sind die Scherben von damals zusammengefügt - und funkeln: Wolfgang Hilbigs gesammelte Gedichte.
Von Harald Hartung
Mitte der sechziger Jahre, in Meuselwitz, dem verdrecktesten Braunkohleort der DDR, schrieb ein junger Mann, der zum Bohrwerksdreher ausgebildet worden war und von wechselnden Jobs lebte, Verse in ein DIN-A5-Heft, versah diese dreiundfünfzig Gedichte mit Motti und Kapitelgliederungen und gab ihnen den Titel "Scherben für damals und jetzt". Das war vermutlich 1964, um die Zeit, da man ihn zu einem Zirkel schreibender Arbeiter nach Leipzig delegierte. Wolfgang Hilbig mag sich damals die Publikation dieser Gedichte versprochen haben.
Es kam anders. Die Stasi beschlagnahmte das Heft. Und der Autor muss es verlorengegeben haben. Er hatte nicht mit dem bürokratischen Ordnungssinn der Stasi gerechnet. Aus ihrem Nachlass gelangte das konfiszierte Manuskript, jede Seite versehen mit dem Stempel der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, in die Hände seines Eigentümers zurück. Der Titel von einst erhielt damit eine späte Rechtfertigung: Die Scherben von damals wurden wieder zusammengefügt, ordnen sich jetzt dem Gesamtwerk ein. Man darf das eine Sensation nennen. Die dreiundfünfzig Gedichte kann man nun in der Gesamtausgabe des im Vorjahr verstorbenen Autors lesen. Sie eröffnen den zweiten Teil dieser Ausgabe, der einen erstaunlich umfangreichen Bestand an nachgelassener Lyrik enthält. Auf zweihundert Seiten ist hier dokumentiert, wie ein Autor knapp fünfzehn Jahre lang ohne Aussicht darauf schrieb, dass ihn eine größere Öffentlichkeit wahrnahm. Hilbig folgte einfach nur seinem Traum, Dichter zu werden.
Diese Hoffnung wider alle Hoffnung muss ihn alle die Jahre beflügelt haben, in Meuselwitz, später in Ost-Berlin. Der meistens als Heizer tätige Nachtarbeiter, der in der bleiernen Erschöpfung der Arbeitswoche nach Freiräumen suchte, im Boxen, Raufen, im exzessiven Trinken, fand sein Lebenselixier im Schreiben, das aus nicht minder exzessiver Lektüre erwuchs. Hilbig zeigt in seinen dreiundfünfzig Scherben die bekannten Schwächen des Autodidakten. Er bedichtet die Maimorgensonne und das Fröschlein am Ufer des Quells, reimt Schwermut auf Herzblut und schaut gläubig zu Hermann Hesse auf.
Aber er öffnet sich auch der Moderne. Die Sequenz "Die Sprache eines Feuerfressers" bezieht sich auf Tristan Corbière, und das ist gewiss kein Allerweltsname. Sie beschwört, gespeist durch seine Erfahrung als Heizer, auf kraftvolle Weise das Feuer: "Ich geboren, / unterm Feuer der Zeit, / verkohlt, verräuchert, entmoralisiert". Der junge Dichter schreibt ein vorweggenommenes Epitaph: "auf meinen Grabstein hau man mir / ein Herz, durchbohrt mit einem Schwert." Hier kündigt sich jenes Pathos an, das bei Hilbig mit dem Leiden zusammenhängt. Doch Hilbig besaß Nehmerqualitäten und hielt es für eine Perversion, für die Schublade zu schreiben. 1968 schickte er an die "Neue Deutsche Literatur" folgende Anzeige: "Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte? Nur ernstgemeinte Zuschriften an W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstraße 19b." Die Redaktion druckte die Annonce, unsicher im Dschungel der Anweisungen oder überrascht von Hilbigs provokatorischer Chuzpe. Es gab keine Reaktion, weder in Ost noch West. Und so dauerte es noch weitere zehn Jahre, ehe Hilbigs erstes Buch erschien, der Gedichtband "abwesenheit".
Er erschien, vermittelt von Karl Corino, bei S. Fischer in Frankfurt. Noch am Vorabend der Manuskriptübergabe glaubte Hilbig das Manuskript verloren. Er hatte in der Leipziger Wohnung eines Freundes daraus vorgelesen und rief: "Das wurde von der Stasi geklaut." In diesem Falle freilich nicht: Das Konvolut fand sich, von Rotweinflecken gesprenkelt, unter dem Reisstrohteppich des Bücherzimmers. Die West-Veröffentlichung trug Hilbig eine Strafe von 2000 Mark ein, weil sie vom Büro für Urheberrechte nicht genehmigt war. Eine unbeabsichtigte Reklame. Das nun erlangte Renommee schützte ihn fortan vor weiteren Schikanen der DDR-Literaturbürokratie. Hilbig war endlich bekannt, und das in beiden deutschen Staaten. Spätestens nach Hilbigs Übersiedlung in den Westen 1985 wuchs der Ruhm, 2002 kam der Büchner-Preis.
Bemerkenswert, was er den Umständen vorher abrang. "Auschwitz-Prozeß", aus dem Juli 1965, ist ein galliger Kommentar zu den Mechanismen der Verdrängung. Illusionslose Klarsicht bewährte sich auch in eigener Sache. "Hiobswoche" von 1966 zeichnet schon früh den fatalen Zirkel des Alkoholismus: "das war die Woche in der ich die Menschen nur / durch Schwämme erblickt hab in der ich all / mein Geld vernichtet hab und meine Liebe und / die Zärtlichkeit meiner Rose im Schädel." Doch die Rose im Schädel war nicht endgültig zu vernichten. Dieser Hiob wollte kein heiliger Trinker sein. Im Jahr der "Hiobswoche" wählte er sich einen dichtenden Arzt zum Eideshelfer. Für "vom traum der dichtkunst" nahm er das Motto von William Carlos Williams: "new books of poetry will be written". In diesem Gedicht gibt es einen scheinbar autoaggressiven Schluss: "tretet mir auf den mund tretet / mir doch auf den mund." Das kann nur sagen, wer weiß, dass seine Stimme unauslöschlich ist.
Zumindest einen Versuch der Staatsmacht, Hilbig mundtot zu machen, hat es gegeben. Im Mai 1978 wurde er beschuldigt, nach der Maifeier eine Fahne, also ein staatliches Emblem, heruntergeholt und verbrannt zu haben. Die Anklage wegen "Rowdytums", die auf der Aussage eines schwer alkoholisierten Zeugen basierte, musste fallengelassen werden, und Hilbig kam nach knapp zwei Monaten frei, aber das Gefängnistrauma wirkte nach.
Man liest Hilbigs nunmehr gesammelte Lyrik anders, wenn man die Gedichte der Schweigejahre hinzunimmt. Man liest auch die bekannten Gedichtbände, die den Ruhm begründeten, pointierter, nämlich als die Summen dreier poetischer Epochen. Da fungiert "abwesenheit" (1979) als eine Absage an staatliche Bevormundung; "versprengung" (1986) als anarchisch-revoltierende Zerstäubung von Subjekt und Sinnbezug; und die späten "Bilder vom Erzählen" (2001) als Heimkehr zu den großen Figuren des abendländischen Erbes. Es ist die Heimkehr zum "Traumbuch der Moderne", zu Poe, Eliot und Ezra Pound, der das Ithaka der Poesie wiederfinden wollte.
In dieser großen Abendphantasie teilt sich auch Hilbig einen Platz zu, keinen überzogenen, doch auch keinen allzu bescheidenen. Die letzten Zeilen aus diesem letzten Gedichtband enden mit dem Aufruf zu neuem Aufbruch: "was gestern licht und wert war ist verschwendet - / und es ist Nacht und Zeit daß du dich wandelst." Das ist, mit dem Titel des Gedichts, "Pro domo et mundo" gesprochen, für Haus und Welt. Es zitiert den Titel einer Aphorismensammlung von Karl Kraus. Und so verstand Hilbig, um Kraus, fortzuspinnen, das Haus als das alte Haus der Sprache und sich als den Letzten derer, die darin wohnen.
- Wolfgang Hilbig: "Gedichte". Mit einem Nachwort von Uwe Kolbe. (Werke Bd. 1.) Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann, Oliver Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 538 S., geb., 22,90 [Euro].
- Karen Lohse: "Wolfgang Hilbig". Eine motivische Biographie. Plöttner Verlag, Leipzig 2008. 144 S., geb., 17,90 [Euro].
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