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Ein Abend im Jahr 1906 wird für August Perlmann, den bekannten Hypnosearzt einer Londoner Klinik, zum Wendepunkt seines Lebens. Sylvie Blum, eine junge, todkranke Patientin, scheint besessen von der Idee, jemand anders zu sein.

Produktbeschreibung
Ein Abend im Jahr 1906 wird für August Perlmann, den bekannten Hypnosearzt einer Londoner Klinik, zum Wendepunkt seines Lebens. Sylvie Blum, eine junge, todkranke Patientin, scheint besessen von der Idee, jemand anders zu sein.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2001

Transatlantische Séance
Brooks Hansen stochert in den Abgründen der Seele

Auch ohne Tiefenpsychologie kann man in dem Londoner Seelenarzt August Perlmann leicht einen kryptischen Doppelgänger seines Wiener Kollegen Sigmund Freud erkennen. Perlmann wurde 1867 im Ghetto eines in jeder Hinsicht böhmischen Dorfes geboren, Freud 1856 im nordmährischen Pribor; beide ließen sich von Charcot in die Grundlagen der Hysterie und 1889 bei Hippolyte Bernheim in Nancy in die klinische Suggestionstherapie einführen. Freud nahm Kokain, Perlmann zog Haschisch, Opium und Absinth vor, aber beide blieben nüchterne Materialisten. Erstaunlich bei so viel biographischen und therapeutischen Parallelen ist nur, daß der "Schamane von Little Britain" seinen Seelenbruder anfangs verächtlich als "Wiener Juden mit einer Neigung zum Theoretisieren" abtut und erst am Ende seiner Versuchung die "Traumdeutung" zur Hand nimmt. Hätte er sie vorher gelesen, hätte er ahnen können, was das Weib, das schöne zumal, will: den Hypnotiseur hypnotisieren, den Heiler heilen - und dabei den männlichen Glauben an die Rationalität erschüttern.

Die Hypnose ist für den seriösen Nervenarzt nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Die "crédivité", der Zustand erhöhter Empfänglichkeit, macht nicht nur den Patienten anfällig für irrationale Einflüsterungen und okkulte Phänomene. Der Fall jener Sylvie Blum, die im September 1906 mit Anzeichen einer unerklärlichen Wasserscheu in seine Klinik eingeliefert wird, hätte selbst einen Jahrmarktsscharlatan wie Dr. Caligari in den Wahnsinn treiben können. Die Dreizehnjährige behauptet, eine wiedergeborene Halbgöttin namens Oona zu sein, die vor der Sintflut in eine tragische Liebesaffäre auf Atlantis verstrickt gewesen sei; vor den Nachstellungen des "Fürsten der Finsternis" will sie sich auf das Schiff Y'aromel gerettet haben, das sie mit der blühenden Phantasie eines Erich von Däniken als amphibischen Zwitter zwischen U-Boot und biblischem Walfisch beschreibt. Für Perlmann ist der Fall klar: hysterische Schizophrenie. Aber warum liegt der Wirtskörper Sylvie in Depression und katatoner Starre, während sich Oona, das angebliche Phantasieprodukt eines kranken Kopfes, wie ein aufgewecktes, völlig gesundes Mädchen verhält? Perlmanns Therapie "Körper ernähren, Geist aushungern" schlägt nicht an. Im Gegenteil: Der atlantische Geist trotzt allen hypnotischen Exorzismen und trollt sich erst nach einer denkwürdigen Séance.

Wer dabei an Seelenwanderung und spiritistischen Humbug denkt, liegt nicht ganz falsch. Hansen zitiert die Vordenker der Theosophie von Rudolf Steiner bis Madame Blavatsky; Annie Besant tritt sogar leibhaftig auf, wie auch ihr Geliebter George Bernard Shaw. Die übersinnlichen Materialisationen und das esoterische Raunen von Turaniern, Akkadiern und "Rassen der vierten Wurzel" sind jedenfalls nur für Reinkarnationstherapeuten und esoterische Mythomanen erträglich.

Hansen läßt freilich bis zuletzt offen, ob es sich bei dem "Affentheater" um den Roman einer Hysterikerin oder die Taschenspielertricks ihrer Freunde, um Albträume oder Drogenhalluzinationen Perlmanns handelt. Wenn der große Hypnotiseur sich von einem anämischen Teenager so aus der Fassung bringen läßt, müssen höhere Mächte im Spiel sein: Liebe und Musik. Tatsächlich versäumt Perlmann kaum ein bedeutendes Konzert in Covent Garden oder auf dem Kontinent. Er verabscheut Mahler, bewundert Grieg und Weltes mechanische Pianos und leistet sich eine Musikphilosophie, die der Anti-Faustus in ermüdenden Exkursen seinem Tagebuch anvertraut. Die europäische Musik leidet demnach unter dem "Joch der deutschen Hegemonie" und strebt nach der Abschaffung der Melodie. Die Morgenröte einer neuen transzendental-volkstümlichen Musik leuchtet im Osten: Rimskij-Korsakow, Skrjabin, Mussorgskij und das Ballett Diaghilews werden die Welt von deutschem Formalismus und dekadentem Salongeklimper erlösen.

Überhaupt bereitet der Weltgeist seine nächste Renaissance in der heidnischen Seele Rußlands vor: ex oriente lux. Die Revolution von 1905 war ein erster Hoffnungsschimmer, die weibliche Lichtträgerin ist Madame Barrett, Schwester eines von Perlmann verehrten Komponisten (der sein Talent freilich an ein ästhetizistisches "horizontales Schwelgen" verschleuderte) und Muse des Arztes. Sie ist eine mondäne, mysteriöse Dame, charismatisch und spirituell begabt wie Madame Blavatsky, exzentrisch und verführerisch wie Alma Mahler. Mit ihr liefert Perlmann sich einen Zweikampf um die Seele seiner Patientin, bei dem ärztliche Autorität und männliche Würde auf der Strecke bleiben: Die suggestive Aura von Madame macht ihn noch hilfloser und hysterischer als seine Patientin.

Der New Yorker Autor beschwört die Welt der Lebemänner und Lebensreformer, Dandys und Femmes fatales herauf. Er füllt die Salons, Bordelle und Konzerthallen noch einmal mit Opium und schwülem Räucherwerk, läßt Donner und Blitz herniederfahren. Die bengalische Beleuchtung erhellt die Außenseiterexistenz eines jüdischen Seelendoktors im viktorianischen London und verrät viel über die nervöse Atmosphäre des Fin de siècle. Aber dann orchestriert Hansen wieder die "triumphalen Dissonanzen" alter lydischer Prozessionshymnen, läßt Götter und Menhire tanzen und das Ektoplasma wabern, bis die Skepsis des Neuropsychologen in heiliger Scheu erstirbt und selbst die zynischsten Spötter das Fürchten lernen. Am Ende ist Perlmann wieder Herr seiner Sinne und des Heilverfahrens. Allein, die geheilte Sylvie stirbt wenig später an der Syphilis, und auch der Schlafwandler Perlmann kann sich des Gefühls nicht erwehren, nur "zur eigenen Dummheit erwacht zu sein".

Hansens Buch, 1999 unter dem Titel "Perlman's Ordeal" erschienen, ist eine eigenwillige Komposition von Ideen-, Zeit- und Liebesroman, eine somnambule Séance, die sich über weite Strecken als Bewußtmachung der dunklen Vorgeschichte der Psychoanalyse lesen läßt und dann doch in ihren Mythen und Machinationen ertrinkt. Freud hätte sich wohl kaum von elfenhaften Hysterikerinnen, kolossalen Diven und backenbärtigen Schauspielern über verrückte Tische ziehen lassen. Aber Alexander Barretts Musik - sein Hauptwerk heißt nicht umsonst "Nonsense" - schien ja auch "sagen zu wollen, daß hinsichtlich des Themas ein großes Maß an Unsinn so lange vertretbar sei, wie ein Stück Rhythmus habe". Den kann man dieser Versuchung des ungläubigen Seelensuchers nicht absprechen, auch wenn man sich doch lieber unter die "Regenschirme des gesunden Menschenverstandes" duckt und das Ende der transatlantischen Sintflut herbeisehnt.

MARTIN HALTER

Brooks Hansen: "Die Versuchung des August Perlmann". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Henning Ahrens. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001, 331 S., geb., 48,- DM

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Martin Halter kann sich für dieses Buch offenbar nicht wirklich erwärmen. Einiges in diesem Roman ist seiner Ansicht nach bestenfalls für "Reinkarnationstherapeuten und esoterische Mythomanen erträglich". Und so informiert Halter den Leser über die Therapieversuche des Seelenarztes August Perlmann an einem dreizehnjährigen Mädchen, das behauptet, "eine wiedergeborene Halbgöttin namens Oona" zu sein, und die nach vielen vergeblichen Versuchen letztlich durch eine Séance geheilt wird. Insgesamt sieht Halter zwar in dieser Welt aus Dandys, Opium, Salons und Reformern wie Rudolf Steiner die "Atmosphäre des Fin de siècle" gut getroffen. Und auch die "eigenwillige Komposition von Ideen-, Zeit- und Liebesroman" scheint der Rezensent tolerieren zu können. Doch insgesamt wird Halters Nervenkostüm dann offenbar doch etwa überstrapaziert von den Hysterikern, Göttern, indischen Mythen, Albträumen und Drogenhalluzinationen, in denen dieser Roman "ertrinkt".

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"Anschaulich, auf den Punkt gebracht, intelligent - ein verblüffendes Werk." (Los Angeles Times) "Von einer ansteckenden Magie, der schwer zu widerstehen ist." (The Boston Book Review) "Ein ernsthaftes Vergnügen um Mythos und Wissenschaft." (Time)