Nach einem der blutigsten Kriege der Geschichte und nach dem gewaltsamen Ende einer zwölfjährigen Diktatur sahen sich die Menschen konfrontiert mit der Schuld an dem 1945 überall publik gemachten Faktum des Holocaust. Unter knappen alliierten Kalorienzuweisungen lebten sie in bombardierten Städten in einem geschrumpften Land, in dem Millionen von Vertriebenen untergebracht werden mussten, während die Welt sich in Schrecken von Deutschland abgewandt hatte. Kein Wunder, dass viele "die Versuchung, zu verzweifeln" (Georges Bernanos) kannten und manche ihr erlagen. In ihren Texten, Bildern und Filmen zeichneten Zeitgenossen wie Robert Capa, Stig Dagerman, Martha Gellhorn, Erich Kästner, Wolfgang Koeppen, Kurt Vonnegut oder Billy Wilder ein oft düsteres Bild der Nachkriegszeit, zu dem vor allem schwarzer Humor - aber auch religiöse Hoffnung - ein Gegengewicht bildete.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2018Einer mit dem doppelten Blick
Bruckstücke eines Neuanfangs: Werner Sollors blickt zurück auf Bilder, Texte und Filme der Jahre 1945 bis 1948
Werner Sollors' "Die Versuchung zu verzweifeln" ist das Buch einer Generation, die in den späten dreißiger oder frühen vierziger Jahren geboren wurde und ihre Kindheit in den Nachkriegsjahren verbrachte. Die Erfolgsgeschichte des westdeutschen "Neuanfangs" hat die düstere Gemütslage dieser Zeit verdeckt. Das Buch, dessen Titel Georges Bernanos' Roman "Unter der Sonne Satans" entnommen ist, wirft ein helles Licht auf dunkle Jahre - trotz der Abhandlungen, Romane oder Filme, die diese Jahre bereits zum Gegenstand machten. Sollors' Darstellung hebt sich insofern von ihnen ab, als sie ihre Einsicht in den historischen Augenblick aus Dokumenten bezieht, die vor allem die doppelte Sicht der Deutschen auf Amerika und umgekehrt der Amerikaner auf Deutschland inszenieren. Insofern impliziert sie einen Betrachter, der zwischen Kulturen und Kontinenten "zu Hause" ist.
Besonders eindrucksvoll ist Sollors' Analyse einer Fotografie von George Rodgers aus dem gerade befreiten KZ Bergen Belsen. Der Blick des fotografierten Jungen, der, wie es scheint, angestrengt versucht, die Leichen am Straßenrand nicht zu sehen, wurde zunächst als der eines jungen Deutschen gedeutet, der gleichsam stellvertretend für die Schuldverweigerung des Kollektivs den Kopf abwendet - bis Jahre später die wahre Identität des Kindes entdeckt wurde. Es war ein jüdischer Junge aus Holland, der Bergen-Belsen überlebt hatte. Es ist diese Vieldeutigkeit der Dokumente und der "doppelte Blick" des Autors, der sich weder kollektiv mit der Rolle des Täters noch mit der des Opfers identifizieren kann, die Sollors' Projekt antreiben und es auch autobiographisch positionieren: über die Bilder von Kindern und Halbwüchsigen, die sich mit der Beweislast der NS-Zeit konfrontiert sehen.
Das Buch gründet auf persönlichen Erinnerungen, die so stark und doch auch so undeutlich sind, dass sie die wissenschaftliche Aufarbeitung der dargestellten Zeitspanne nur in Klammern begleiten dürfen. Sollors, der aus Schlesien stammt, in der Nähe von Frankfurt aufwuchs und an der Harvard-Universität vor allem als Kenner der afroamerikanischen Literatur Karriere machte, ist genaugenommen kein Zeitzeuge. Vielmehr bringt er die Quellen zum Sprechen. Sie erzählen die Geschichten einer Generation, die Bilder verstehen lernen musste, welche sich ihrem Verständnis entzogen, doch nach Klärung verlangten: die Bilder von Leichenbergen aus den befreiten Konzentrationslagern, von den Trümmerfeldern der deutschen Städte, die auf andere Weise die Frage von Schuld und Mitschuld aufwarfen, von Flüchtlingen aus dem Osten. Sie erzählen aber auch Geschichten der Begegnung, vor allem mit der Kultur der amerikanischen Sieger, die der eigenen einen moralischen Spiegel vorhielt, aber gleichzeitig auch die amerikanische Rassenpolitik ins Spiel brachte.
Die sieben Kapitel markieren Zeitpunkte zwischen dem 29. März 1945 und dem 20. August 1948, aber auch unterschiedliche Aspekte dieser Periode und verschiedene Genres ihrer Darstellung: Tagebücher (wie das der anonymen Autorin von "Eine Frau in Berlin" über die Massenvergewaltigungen nach der russischen Eroberung der Stadt); Fotografien von Margaret Burke-White, Robert Capa, Toni Vaccaro und George Rodger aus dem besiegten Deutschland; politiktheoretische Auseinandersetzungen wie die zwischen dem von den Nationalsozialisten vertriebenen Politologen Karl Löwenstein und dem mit ihnen kollaborierenden Carl Schmitt; nur wenig bekannte oder längst vergessene deutsche wie amerikanische Romane und Erzählungen; Filme wie Robert Stemmles "Toxi" über Mischlingskinder in Deutschland und Billy Wilders "A Foreign Affair" über das Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit, in denen die Vergangenheit zugleich weiterlebt und - vor allem in Wilders Film - ironisch überwunden wird.
Sollors' Analysen stützen sich auf umfangreiche Recherche. Der Unterschied zwischen der inneren Verfasstheit damals und einem "aufgeklärteren" Heute ist frappierend, deprimierend jedoch auch die Erkenntnis, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung für national-sozialistisches Gedankengut anfällig geblieben ist. Daher weist dieses Buch über die Vergangenheit hinaus auf eine Gegenwart, die erneut Flüchtlingen und Vertriebenen ein "Zuhause" geben muss, doch auch dazu neigt, Integration durch Abschottung zu ersetzen, und den Zusammenhalt einer Gesellschaft in Frage stellt, die - zumindest vorübergehend - mehr als nur eine Sprache und Kultur umfasst.
HEINZ ICKSTADT
Werner Sollors: "Die Versuchung, zu verzweifeln". Geschichten aus den 1940er Jahren.
Aus dem Englischen von Sabine Bayerl. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017. 398 S. geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bruckstücke eines Neuanfangs: Werner Sollors blickt zurück auf Bilder, Texte und Filme der Jahre 1945 bis 1948
Werner Sollors' "Die Versuchung zu verzweifeln" ist das Buch einer Generation, die in den späten dreißiger oder frühen vierziger Jahren geboren wurde und ihre Kindheit in den Nachkriegsjahren verbrachte. Die Erfolgsgeschichte des westdeutschen "Neuanfangs" hat die düstere Gemütslage dieser Zeit verdeckt. Das Buch, dessen Titel Georges Bernanos' Roman "Unter der Sonne Satans" entnommen ist, wirft ein helles Licht auf dunkle Jahre - trotz der Abhandlungen, Romane oder Filme, die diese Jahre bereits zum Gegenstand machten. Sollors' Darstellung hebt sich insofern von ihnen ab, als sie ihre Einsicht in den historischen Augenblick aus Dokumenten bezieht, die vor allem die doppelte Sicht der Deutschen auf Amerika und umgekehrt der Amerikaner auf Deutschland inszenieren. Insofern impliziert sie einen Betrachter, der zwischen Kulturen und Kontinenten "zu Hause" ist.
Besonders eindrucksvoll ist Sollors' Analyse einer Fotografie von George Rodgers aus dem gerade befreiten KZ Bergen Belsen. Der Blick des fotografierten Jungen, der, wie es scheint, angestrengt versucht, die Leichen am Straßenrand nicht zu sehen, wurde zunächst als der eines jungen Deutschen gedeutet, der gleichsam stellvertretend für die Schuldverweigerung des Kollektivs den Kopf abwendet - bis Jahre später die wahre Identität des Kindes entdeckt wurde. Es war ein jüdischer Junge aus Holland, der Bergen-Belsen überlebt hatte. Es ist diese Vieldeutigkeit der Dokumente und der "doppelte Blick" des Autors, der sich weder kollektiv mit der Rolle des Täters noch mit der des Opfers identifizieren kann, die Sollors' Projekt antreiben und es auch autobiographisch positionieren: über die Bilder von Kindern und Halbwüchsigen, die sich mit der Beweislast der NS-Zeit konfrontiert sehen.
Das Buch gründet auf persönlichen Erinnerungen, die so stark und doch auch so undeutlich sind, dass sie die wissenschaftliche Aufarbeitung der dargestellten Zeitspanne nur in Klammern begleiten dürfen. Sollors, der aus Schlesien stammt, in der Nähe von Frankfurt aufwuchs und an der Harvard-Universität vor allem als Kenner der afroamerikanischen Literatur Karriere machte, ist genaugenommen kein Zeitzeuge. Vielmehr bringt er die Quellen zum Sprechen. Sie erzählen die Geschichten einer Generation, die Bilder verstehen lernen musste, welche sich ihrem Verständnis entzogen, doch nach Klärung verlangten: die Bilder von Leichenbergen aus den befreiten Konzentrationslagern, von den Trümmerfeldern der deutschen Städte, die auf andere Weise die Frage von Schuld und Mitschuld aufwarfen, von Flüchtlingen aus dem Osten. Sie erzählen aber auch Geschichten der Begegnung, vor allem mit der Kultur der amerikanischen Sieger, die der eigenen einen moralischen Spiegel vorhielt, aber gleichzeitig auch die amerikanische Rassenpolitik ins Spiel brachte.
Die sieben Kapitel markieren Zeitpunkte zwischen dem 29. März 1945 und dem 20. August 1948, aber auch unterschiedliche Aspekte dieser Periode und verschiedene Genres ihrer Darstellung: Tagebücher (wie das der anonymen Autorin von "Eine Frau in Berlin" über die Massenvergewaltigungen nach der russischen Eroberung der Stadt); Fotografien von Margaret Burke-White, Robert Capa, Toni Vaccaro und George Rodger aus dem besiegten Deutschland; politiktheoretische Auseinandersetzungen wie die zwischen dem von den Nationalsozialisten vertriebenen Politologen Karl Löwenstein und dem mit ihnen kollaborierenden Carl Schmitt; nur wenig bekannte oder längst vergessene deutsche wie amerikanische Romane und Erzählungen; Filme wie Robert Stemmles "Toxi" über Mischlingskinder in Deutschland und Billy Wilders "A Foreign Affair" über das Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit, in denen die Vergangenheit zugleich weiterlebt und - vor allem in Wilders Film - ironisch überwunden wird.
Sollors' Analysen stützen sich auf umfangreiche Recherche. Der Unterschied zwischen der inneren Verfasstheit damals und einem "aufgeklärteren" Heute ist frappierend, deprimierend jedoch auch die Erkenntnis, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung für national-sozialistisches Gedankengut anfällig geblieben ist. Daher weist dieses Buch über die Vergangenheit hinaus auf eine Gegenwart, die erneut Flüchtlingen und Vertriebenen ein "Zuhause" geben muss, doch auch dazu neigt, Integration durch Abschottung zu ersetzen, und den Zusammenhalt einer Gesellschaft in Frage stellt, die - zumindest vorübergehend - mehr als nur eine Sprache und Kultur umfasst.
HEINZ ICKSTADT
Werner Sollors: "Die Versuchung, zu verzweifeln". Geschichten aus den 1940er Jahren.
Aus dem Englischen von Sabine Bayerl. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017. 398 S. geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main