Der Publizist Peter Glotz, der 1945 selbst aus dem Sudentenland vertrieben wurde, erzählt am Beispiel Böhmens von der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Er schildert den Mechanismus der Verfeindung, die Entstehung des Nationalismus, der 1848 seinen Anfang nahm. Er zeigt, wie sich Tschechen und Deutsch-Böhmen im Laufe der Zeit Schritt für Schritt voneinander entfernt haben und beschreibt, wie es endete: in Unrecht und unsagbarem Leid. Wie aktuell das Problem ist, belegen die zahlreichen ethnischen Konflikte, die in unserer Gegenwart Flucht und Vertreibung mit sich bringen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2003Harte Bretter bohren
Die Vertreibung als deutsch-tschechische Katastrophe
Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück. Ullstein Verlag, München 2003. 287 Seiten, 22,- [Euro].
Das Thema der Vertreibung ist in Deutschland zwar längst nicht mehr tabu, aber es scheint an das stillschweigende Einverständnis gebunden zu sein, daß sich alle dazu äußern dürfen außer den Betroffenen, denn die stehen weiter unter Revanchismusverdacht. Exemplarisch vorgeführt wurde diese Ausgrenzung in der öffentlichen Debatte um die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen, in der sich Peter Glotz als einziger prominenter deutscher Sozialdemokrat für das Recht auf Erinnerung und den Standort Berlin ausgesprochen hat. Sein Buch nimmt auf diese Debatte nicht explizit Bezug, kann allerdings in ihrem Zusammenhang mit besonderem Interesse rechnen.
Die Literatur über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, die abseits der historischen Forschung entstanden ist, ist äußerst vielfältig, umfangreich und oft auch problematisch. Gerade weil die deutschen Fachhistoriker das Thema jahrzehntelang vernachlässigt haben, trat der ungebändigte Strom der Erinnerungen und Reflexionen der Vertriebenen nicht selten über die Ufer. Der Wunsch, Zeugnis abzulegen, damit das erlittene Unrecht nicht in Vergessenheit gerät, ist für die seriöse deutsch-böhmische Publizistik ebenso charakteristisch wie der immer wieder aufs neue unternommene Versuch, sich selbst und den anderen die Katastrophen von 1938 und 1945 zu erklären.
Hier reiht sich Glotz, geboren 1939 in Eger (Cheb), ein: als bewußter "Europäer", als Vertriebener und als Sozialdemokrat. Sein Buch teilt die Vorzüge wie die Mängel der Tradition, der es verpflichtet ist. Glotz ist der Ansicht, daß die Demokratie über den Nationalstaat nicht nur hinauswachsen müsse, sondern das auch könne. Er beruft sich auf den Österreicher Karl Renner und auf den Tschechen Bohumír Smeral, auf den Mährischen Ausgleich, der gescheitert ist, aber von Glotz dennoch als Vorbild für "komplizierte Minderheitsabkommen" genommen wird, die allemal besser seien "als brutale Entflechtungen". Dies steht nun außer Streit, leider aber entscheidet nicht die Nachwelt darüber, ob ein Ausgleichsmodell praktikabel ist.
"Erzwingt die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Emanzipation schließlich auch die politische, und zwar in Form des Nationalstaates", fragt Glotz und antwortet: "Das sicher nicht. Es gibt viele Gegenbeispiele auf der Welt, von Kanada über die Schweiz bis zu Indien. In den böhmischen Ländern aber fanden Deutsche und Tschechen keinen Ausgleich."
Glotz entgeht der deterministischen Falle, sein Ringen um eine Antwort auf die Frage nach der Ursache der deutsch-tschechischen Katastrophe aber droht zur Tautologie zu verkommen: Der Nationalismus hat sich durchgesetzt, weil Deutsche und Tschechen keinen Ausgleich zustande brachten; sie brachten ihn nicht zustande, weil sie Nationalisten waren. Die Schuld am Nationalismus gibt Glotz dem armen Herder. Die Deutschen mahnt er, sie sollten "nie vergessen, daß es ein Deutscher war, der die erste nationalistische Theorie erfand, die sich dann in den böhmischen Ländern und in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas festfraß". Er zitiert die berühmte Stelle über die friedfertigen Slawen, an denen "sich mehrere Nationen, am meisten aber die vom deutschen Stamme", versündigt hätten. Herder, so Glotz, habe damit dem Tschechen Palacky Argumente geliefert und "zwei ziemlich schreckliche Jahrhunderte" geprägt. Tatsächlich? Über Masaryks Wende vom Föderalismus zu Nationalismus an der Schwelle des Ersten Weltkrieges schreibt Glotz: "Irgendwann" müsse er "geahnt haben, daß in diesem Historischen Moment nur ein Nationalist die große Rolle spielen konnte".
Der Leser profitiert von dem über weite Strecken durchaus ergiebigen Querfeldeinlauf des Autors durch mehrere Jahrhunderte böhmischer und europäischer Geschichte desto mehr, je besser es ihm gelingt, über die großzügig gestreuten Urteile hinwegzulesen. Über die Massaker am 4. März 1919, als tschechische Soldaten auf Streikkundgebungen unbewaffneter deutscher Arbeiter schossen, schreibt Glotz etwa: "Es war genauso, wie es neulich in irakischen Städten war, in denen amerikanische Soldaten gelegentlich Dutzende von Zivilpersonen töteten." War es wirklich genauso?
Gelegentlich unterlaufen Glotz auch faktische Fehler. So kam zum Beispiel der Antrag im Tschechischen Nationalrat, Edvard Benes für seine Verdienste um den Staat zu würdigen, nicht von der Regierung, die - ganz im Gegenteil - von einem solchen Schritt ausdrücklich abgeraten hat, sondern von einer Gruppe von Abgeordneten. Nicht zu Unrecht wird die Arbeit an deutsch-tschechischen Beziehungen oft mit dem Bohren harter Bretter verglichen. Beim Bohren kommt es darauf an, den Bohrer richtig anzusetzen, sonst bricht er ab.
KARL-PETER SCHWARZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Vertreibung als deutsch-tschechische Katastrophe
Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück. Ullstein Verlag, München 2003. 287 Seiten, 22,- [Euro].
Das Thema der Vertreibung ist in Deutschland zwar längst nicht mehr tabu, aber es scheint an das stillschweigende Einverständnis gebunden zu sein, daß sich alle dazu äußern dürfen außer den Betroffenen, denn die stehen weiter unter Revanchismusverdacht. Exemplarisch vorgeführt wurde diese Ausgrenzung in der öffentlichen Debatte um die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen, in der sich Peter Glotz als einziger prominenter deutscher Sozialdemokrat für das Recht auf Erinnerung und den Standort Berlin ausgesprochen hat. Sein Buch nimmt auf diese Debatte nicht explizit Bezug, kann allerdings in ihrem Zusammenhang mit besonderem Interesse rechnen.
Die Literatur über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, die abseits der historischen Forschung entstanden ist, ist äußerst vielfältig, umfangreich und oft auch problematisch. Gerade weil die deutschen Fachhistoriker das Thema jahrzehntelang vernachlässigt haben, trat der ungebändigte Strom der Erinnerungen und Reflexionen der Vertriebenen nicht selten über die Ufer. Der Wunsch, Zeugnis abzulegen, damit das erlittene Unrecht nicht in Vergessenheit gerät, ist für die seriöse deutsch-böhmische Publizistik ebenso charakteristisch wie der immer wieder aufs neue unternommene Versuch, sich selbst und den anderen die Katastrophen von 1938 und 1945 zu erklären.
Hier reiht sich Glotz, geboren 1939 in Eger (Cheb), ein: als bewußter "Europäer", als Vertriebener und als Sozialdemokrat. Sein Buch teilt die Vorzüge wie die Mängel der Tradition, der es verpflichtet ist. Glotz ist der Ansicht, daß die Demokratie über den Nationalstaat nicht nur hinauswachsen müsse, sondern das auch könne. Er beruft sich auf den Österreicher Karl Renner und auf den Tschechen Bohumír Smeral, auf den Mährischen Ausgleich, der gescheitert ist, aber von Glotz dennoch als Vorbild für "komplizierte Minderheitsabkommen" genommen wird, die allemal besser seien "als brutale Entflechtungen". Dies steht nun außer Streit, leider aber entscheidet nicht die Nachwelt darüber, ob ein Ausgleichsmodell praktikabel ist.
"Erzwingt die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Emanzipation schließlich auch die politische, und zwar in Form des Nationalstaates", fragt Glotz und antwortet: "Das sicher nicht. Es gibt viele Gegenbeispiele auf der Welt, von Kanada über die Schweiz bis zu Indien. In den böhmischen Ländern aber fanden Deutsche und Tschechen keinen Ausgleich."
Glotz entgeht der deterministischen Falle, sein Ringen um eine Antwort auf die Frage nach der Ursache der deutsch-tschechischen Katastrophe aber droht zur Tautologie zu verkommen: Der Nationalismus hat sich durchgesetzt, weil Deutsche und Tschechen keinen Ausgleich zustande brachten; sie brachten ihn nicht zustande, weil sie Nationalisten waren. Die Schuld am Nationalismus gibt Glotz dem armen Herder. Die Deutschen mahnt er, sie sollten "nie vergessen, daß es ein Deutscher war, der die erste nationalistische Theorie erfand, die sich dann in den böhmischen Ländern und in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas festfraß". Er zitiert die berühmte Stelle über die friedfertigen Slawen, an denen "sich mehrere Nationen, am meisten aber die vom deutschen Stamme", versündigt hätten. Herder, so Glotz, habe damit dem Tschechen Palacky Argumente geliefert und "zwei ziemlich schreckliche Jahrhunderte" geprägt. Tatsächlich? Über Masaryks Wende vom Föderalismus zu Nationalismus an der Schwelle des Ersten Weltkrieges schreibt Glotz: "Irgendwann" müsse er "geahnt haben, daß in diesem Historischen Moment nur ein Nationalist die große Rolle spielen konnte".
Der Leser profitiert von dem über weite Strecken durchaus ergiebigen Querfeldeinlauf des Autors durch mehrere Jahrhunderte böhmischer und europäischer Geschichte desto mehr, je besser es ihm gelingt, über die großzügig gestreuten Urteile hinwegzulesen. Über die Massaker am 4. März 1919, als tschechische Soldaten auf Streikkundgebungen unbewaffneter deutscher Arbeiter schossen, schreibt Glotz etwa: "Es war genauso, wie es neulich in irakischen Städten war, in denen amerikanische Soldaten gelegentlich Dutzende von Zivilpersonen töteten." War es wirklich genauso?
Gelegentlich unterlaufen Glotz auch faktische Fehler. So kam zum Beispiel der Antrag im Tschechischen Nationalrat, Edvard Benes für seine Verdienste um den Staat zu würdigen, nicht von der Regierung, die - ganz im Gegenteil - von einem solchen Schritt ausdrücklich abgeraten hat, sondern von einer Gruppe von Abgeordneten. Nicht zu Unrecht wird die Arbeit an deutsch-tschechischen Beziehungen oft mit dem Bohren harter Bretter verglichen. Beim Bohren kommt es darauf an, den Bohrer richtig anzusetzen, sonst bricht er ab.
KARL-PETER SCHWARZ
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