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Produktdetails
  • Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Bd.17/1
  • Verlag: Böhlau
  • Seitenzahl: 441
  • Deutsch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 935g
  • ISBN-13: 9783412067014
  • ISBN-10: 3412067016
  • Artikelnr.: 09789848
Autorenporträt
Dr. Andreas Hilger ist Historiker mit den Forschungsschwerpunkten Geschichte der UdSSR und deutsch-sowjetische Beziehungen. Er ist am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden und an der Osteuropäischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität Köln tätig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2004

Brutale Repression
Deutsche Zivilisten vor sowjetischen Militärtribunalen

Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Ute Schmidt (Herausgeber): Sowjetische Militärtribunale. Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945-1955. Böhlau Verlag, Köln 2003. 900 Seiten, 69,90 [Euro].

Mit den sowjetischen Besatzungstruppen kamen 1945 deren Militärgerichte nach Deutschland - und schon bald begannen sie, auch Zivilisten zu verfolgen. Eine Gruppe renommierter Historiker hat jetzt mit Unterstützung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden den Versuch unternommen, diesem dunklen Kapitel nachzugehen. Führend dabei ist Andreas Hilger, der sich bereits mit sehr soliden Veröffentlichungen zur Lage der deutschen Kriegsgefangenen einen Namen gemacht hat. An den Anfang haben die Herausgeber zwei Beiträge über die juristischen Grundlagen der Verurteilung deutscher Zivilpersonen durch die sowjetischen Militärgerichte gestellt. Es ist kriegsvölkerrechtlich ja keineswegs unproblematisch, wenn Gerichte der Besatzungsmacht ihr eigenes Recht auf Taten anwenden, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung diesem Recht nicht unterlagen. Deutlich wird schon hier, daß diese "Rechtsprechung" vieles zugleich war: Ahndung tatsächlicher Kriegsverbrechen, Wahrung berechtigter Sicherheitsinteressen der sowjetischen Besatzungsmacht, aber eben auch zunehmend Durchsetzung des stalinistischen Herrschaftsanspruchs der SED. Überwogen 1945 und 1946 Verurteilungen nach dem Ukas über die Ahndung deutscher Kriegsverbrechen auf dem Gebiet der Sowjetunion zwischen 1941 und 1944, so wurden ab 1947 immer mehr "Diversanten", "Spione" und "Saboteure" nach Paragraph 58 des russischen Strafgesetzbuchs abgeurteilt.

An diesen rechtstheoretischen Teil schließen sich mehrere Studien zur tatsächlichen Spruchpraxis an. Spätestens die Beiträge über Urteile gegen SED-Angehörige - zumeist ehemalige Sozialdemokraten, die den Einheitskurs nicht mitzutragen gewillt waren - und gegen Angehörige der anderen Blockparteien lassen überdeutlich hervortreten, daß "Justiz" im Stalinismus vor allem dazu dienen sollte, Mißliebige und Andersdenkende zu eliminieren. Die Durchführung der Verfahren entsprach in keiner Weise rechtsstaatlichen Normen: Häufig gab es keine Verteidiger, Entlastungszeugen wurden nicht gehört, die Ermittlung der Sachverhalte erfolgte schematisch, und vor Beginn der Hauptverhandlung stand das Strafmaß zumeist schon fest.

Entsprechend drastisch waren die Urteile: Zwar galt von 1947 bis etwa 1950 die Todesstrafe in der UdSSR als abgeschafft, aber an ihre Stelle trat dann zumeist eine 25jährige Haftstrafe. Angesichts der Lebensbedingungen in den "Speziallagern" (häufig genug ehemalige NS-Konzentrationslager wie Sachsenhausen oder Buchenwald) oder in den sowjetischen Arbeitslagern lief eine langjährige Haftstrafe für viele auf nichts anderes als ein Todesurteil hinaus. Alle übrigen waren auf Jahre hinaus von ihrer Umwelt abgeschnitten, und ihre Angehörigen wußten nicht einmal, ob die Abgeholten noch lebten oder wo sie sich aufhielten.

War die Urteils- und Vollstreckungspraxis der sowjetischen Militärtribunale Ausdruck stalinistischer Herrschaft, so mußten die unzähligen Häftlinge nach dem Tod des Diktators 1953 zu einer Belastung für Moskau und Ostberlin gleichermaßen werden. Die "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" in West-Berlin, die evangelische Kirche unter Bischof Dibelius und Propst Grüber, ja sogar einzelne Gliederungen der SED forderten immer nachdrücklicher Aufklärung über das Schicksal Verhafteter oder deren Entlassung. Daß die "Rechtsprechung" der Militärtribunale überwiegend Funktion des Herrschaftssystems gewesen war, zeigt sich zuletzt daran, daß im Zuge der Entstalinisierung die meisten Verurteilten entlassen wurden. Fast alle waren bis Ende 1956 wieder frei, teils in die DDR, teils auch nach Westdeutschland zurückgekehrt - bis auf wenige, die bis in die sechziger Jahre hinein in Haft blieben, und bis auf jene, die in den Kellern sowjetischer Gefängnisse erschossen worden waren.

Nach der Wende hat die russische Justiz Verfahren in Gang gesetzt, um zu Unrecht Verurteilte im nachhinein zu rehabilitieren. Der frappierendste Aufsatz dieses gewichtigen Bandes ist der des für Rehabilitierungen zuständigen Abteilungsleiters in der russischen Militärstaatsanwaltschaft. Hier liest man viel von deutschen Kriegsverbrechen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges und von deren gerechter Sühne. Den weit überwiegenden Teil der Ausführungen nimmt die Rechtfertigung der seinerzeitigen Justizpraxis ein, die in den meisten Fällen heute eine Rehabilitierung auszuschließen scheint.

Immer häufiger ist zu hören, die Phase der kritischen Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit in Rußland sei schon wieder vorbei; im Zeichen eines neuen Nationalismus werde auch der Stalinismus wieder positiver gesehen. Unter einem aus dem KGB stammenden russischen Präsidenten kann das kaum überraschen. Der hier abgedruckte Aufsatz, von den Herausgebern zu Recht mit einer einführenden Erläuterung versehen, bestätigt solche Befürchtungen. Den Erkenntnissen des übrigen Buches über den Mißbrauch juristischer Formen zur Herrschaftssicherung und zur brutalen Repression schlägt er ins Gesicht.

WINFRIED HEINEMANN

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In dem ersten Band einer insgesamt zweibändig geplanten Studie über Sowjetische Militärtribunale zwischen 1941 und 1955 stellen ein Forschungsteam des Hannah-Arendt-Instituts aus Dresden und das Institut für Archivauswertung die Ergebnisse ihres erst jetzt möglich gewordenen Aktenstudiums von 31 Prozessen gegen ehemalige Wehrmachtsangehörige vor, berichtet Rezensent Helmut Altrichter. Der zweite Band werde sich mit der Verurteilung deutscher Zivilisten befassen. Helmut Altrichter folgt den einzelnen Stufen der Repatriierung, Verurteilung, Amnestie oder Übergabe an die deutsche Justiz zu Zeiten des Kalten Krieges. Die Moskaureise Adenauers 1955 half, dieses Kapitel abzuschließen. Die Studie beschäftige sich "präzise und betont sachlich" vor allem mit den politischen Hintergründen juristischer Entscheidungen in der Bundesrepublik, der DDR und der Sowjetunion, das heißt, mit Rechtsstaatlichkeit und Rechtsfindung. Auch wenn erstmals mit genauem Zahlenmaterial gearbeitet werde und in Prozenten Auskunft gegeben werden könne, für welche Delikte die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen wann verurteilt wurden, könne die Frage, Kriegsverbrecher oder Spätheimkehrer?, nicht entschieden werden. Dennoch zeigt sich der Rezensent sehr beeindruckt von diesem Band, weil er gerade deutlich mache, "warum die Tatsache der Verurteilung und die Einsicht in die russischen Prozessakten darauf keine Antwort geben".

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es zeugt von einer neuen, noch vor eineinhalb Jahrzehnten unvorstellbaren Offenheit, dass es einem Forscherteam des Hannah-Arendt-Instituts Dresden und des Instituts für Archivauswertung möglich war, die Personalakten von 31 Prozessen, deren Gesamtzahl auf rund 34.000 geschätzt wird, in russischen Archiven einzusehen und deren Angaben in eine Datenbank zu bringen. Ihre Ergebnisse präsentiert der vorliegende Band, der zugleich präzise und betont sachlich den Stand der Forschung zusammenfasst. (...) Kriegsverbrecher oder Spätheimkehrer? Der Band führt vor Augen, warum die Tatsache der Verurteilung und die Einsicht in die russischen Prozessakten darauf keine Antwort geben. Ein Folgeband über die Verurteilung deutscher Zivilisten in der SBZ und DDR durch sowjetische Militärtribunale ist angekündigt." (Helmut Altkircher, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.05.2002)