Mit dem 19. Jahrhundert beginnt die Vorgeschichte der Gegenwart. Es war das Zeitalter der großen politischen Ideologien und der Verwissenschaftlichung des Daseins, der Eisenbahn und der Industrie, der Massenemigration zwischen den Kontinenten und der ersten Welle wirtschaftlicher und kommunikativer Globalisierung, des Nationalismus und der imperialen Expansion Europas in alle Teile der Erde. Zugleich ist das 19. Jahrhundert aus heutiger Sicht fern und fremd geworden: eine faszinierende Welt von gestern. Dieses Buch porträtiert und analysiert die Epoche in weltgeschichtlicher Sicht: als eine Zeit dramatischer Umbrüche in Europa, Asien, Afrika und Amerika und als eine Ära entstehender Globalität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.2009Das Panoramabild eines Jahrhunderts
Intellektuelles Feuerwerk und Lesegenuss: Jürgen Osterhammels Weltgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist ein großer Wurf.
Die jüngsten großen Nationalgeschichten der späten Neuzeit Deutschlands gefielen sich darin, mit Aussagen darüber zu beginnen, was "im Anfang" ihrer Geschichte gewesen sei: Napoleon beziehungsweise Bismarck (Thomas Nipperdey), das Fehlen einer Revolution (Hans-Ulrich Wehler), das Reich (Heinrich August Winkler) oder Brandenburg (Christopher Clark). Jürgen Osterhammels eingängiger und gleichzeitig systematisch-komplexer großer Wurf einer Weltgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ersetzt den Eröffnungspaukenschlag durch eine auf den ersten Blick eher kuriose Erinnerung an ein Ende: daran, dass mit dem Tod von Darwins Schildkröte Harriet 2006 in Australien die allerletzte bekannte, freilich stumme Augenzeugin des neunzehnten Jahrhunderts das Zeitliche gesegnet hat.
Bei näherem Hinsehen reißt diese Geschichte fast alle Hauptthemen von Osterhammels Erzählung an: die Archivierungsleidenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, ohne die man nicht wüsste, wer Harriet war; die Reisen von Wissenschaftlern, Sträflingen, Arbeitern, Unternehmern, Tieren, Pflanzen, Kunstwerken und Ideen zwischen entlegensten Teilen der Welt, aus denen ein australischer Staat mit botanischen und zoologischen Gärten hervorging; die Reichweite weltumspannender Imperien, die auch die Galapagos-Inseln und Australien verbanden. Schließlich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Darwin ist zwar einer der bekanntesten Intellektuellen des neunzehnten Jahrhunderts geworden, war aber einer jener Privatgelehrten, die in dem universitären Wissenschaftsbetrieb, den dieses Jahrhundert zum Erfolgsmodell erhob, keinen Platz hatten.
Osterhammels Geschichte argumentiert - wie diese Episode beispielhaft zeigt - mit konkreten, überaus klug ausgewählten Beispielen, die dem analytischen Rahmen, den er eher anbietet als aufdrängt, seine besondere Plausibilität verleihen. Diese Technik verführt zu einer so kurzweiligen Lektüre, dass die enorme Syntheseleistung des Autors eigentlich erst am Schluss in vollem Umfang sichtbar wird - im Personenregister noch mehr als im Literaturverzeichnis.
Wie der Titel des Buches deutlich macht, geht es Osterhammel nicht um eine teleologische Erzählung von Nationalisierung, Modernisierung, Globalisierung oder Standardisierung, sondern zunächst darum, Veränderungen in allen Teilen der Welt zu erfassen und dann zu fragen, ob diese in eine bestimmte Richtung gingen. Die Überprüfung fördert globale Parallelen ebenso zutage wie dramatische Kontraste: etwa zwischen einem europäischen oder osmanischen Archivwesen, die Verwaltungshandeln penibel für die Ewigkeit dokumentierten, und dem chinesischen Historischen Museum, das seine Unterlagen 1921 als Altpapier veräußern wollte, oder zwischen Urbanisierung in Europa und relativer Deurbanisierung in Asien.
Am Anfang des Buches werden vermeintliche Selbstverständlichkeiten - der Chronologie, der Geographie, der mentalen Landkarten - als mögliche orts- und zeitgebundene Vorurteile in Frage gestellt. Damit steht auch für einen Moment der Rahmen des Buches selbst in Frage, da deutlich wird, wie wenig etwa die Französische Revolution auf die Welt ausstrahlte. Osterhammel argumentiert, später - in Epochen, die er Viktorianisches Zeitalter (zwischen etwa 1850 und 1880) und "fin de siècle" (zwischen etwa 1880 und 1917/19) tauft - habe sich das geändert, was zugleich erklärt, wieso der Schwerpunkt der Darstellung eher in der zweiten Hälfte des rechnerischen Jahrhunderts liegt.
Osterhammel scheint dieses neunzehnte Jahrhundert durch fünf Merkmale geprägt: "asymmetrische Effizienzsteigerung", welche den Globus in reiche und arme Regionen zerfallen ließ; wachsende Mobilität; "Referenzverdichtung", also eine engere kommunikative Vernetzung der Welt, vor allem durch den Telegraphen; "Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie" und schließlich "Emanzipation" aus Zwangsarbeit und konfessioneller Homogenität.
Die Kapitel des Buches bieten ein Panorama von Bevölkerungsentwicklung und -bewegung, Lebenschancen und Lebenswelten in Stadt, Land sowie an den "Frontiers" der expandierenden europäisch inspirierten "Zivilisationen" in Nord- und Südamerika, Russland, Südafrika und Ozeanien. Sie enthalten pointierte Analysen von Politik und Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion. Es ist naheliegend, dass die hierzulande weniger bekannten Entwicklungen in Amerika, Afrika und Asien dabei oft breiteren Raum einnehmen als die (west)europäischen Nationalgeschichten.
Die Verteilung der Gewichte ist gelegentlich überraschend; so ist der Abschnitt über Systeme sozialer Sicherung etwa so lang wie der über das Restaurant. Sie ergibt sich aber folgerichtig aus den zentralen Problemstellungen, die das Buch umkreist. Für die Frage, was eigentlich dafür verantwortlich war, dass trotz ähnlicher Voraussetzungen europäische und nordamerikanische Staaten einerseits, asiatische und afrikanische Länder andererseits im Laufe des Jahrhunderts auf immer weiter auseinanderklaffende ökonomische Entwicklungspfade gerieten, ist weniger zentral, wie Gesellschaften mit Elend umgingen, als vielmehr, wann sich Konsumgesellschaften etablierten, die eine kommerzielle oder industrielle Wachstumsdynamik generieren konnten.
Osterhammel vermeidet simplifizierende Thesen, schlägt aber klare Schneisen durch nur scheinbar bekanntes Terrain. Ein Kernthema des Bandes ist die Abschaffung der Sklaverei und der meisten anderen Formen unfreier Arbeit. Die Bedeutung der Sklaverei für Ökonomie, Politik, Staatsbildungsprozesse und moralische Debatten des neunzehnten Jahrhunderts wird ebenso dokumentiert wie die Fülle der Gründe für ihre Abschaffung zwischen 1804 (endgültig auf Haiti) und 1888 (in Brasilien).
Hier überwiegen Unterschiede Gemeinsamkeiten, Ungleichzeitigkeiten - etwa die Intensivierung des Sklavenhandels nach Südamerika neben seinem Abklingen nach Nordamerika und in die Karibik - chronologische Parallelen, von der auffälligen Gleichzeitigkeit der Emanzipation von Sklaven in den Vereinigten Staaten und Leibeigenen in Russland einmal abgesehen. Selbst diese Geschichte ist freilich keine Geschichte ungetrübten Fortschritts: Formale Emanzipation veränderte die wirtschaftliche Ungleichheit kaum und ging mit neuen Begründungen für die Ausgrenzung derjenigen einher, die im Verlauf des Jahrhunderts erstmals zu Staatsbürgern geworden waren.
Dort, wo Osterhammel neben der Vernetzung der Welt durch Telegraph, Dampfschiffe und Eisenbahnen Gemeinsamkeiten sieht, entwickelt er seine vielleicht provokanteste These: Das neunzehnte Jahrhundert sei selbst in Europa nicht Jahrhundert des Nationalismus und der Nationalstaaten, sondern Jahrhundert stabiler, zukunftsträchtiger Imperien gewesen, nicht nur der Reiche Großbritannien, Russland und China, sondern auch der "Imperien" Deutschland, Italien und der Vereinigten Staaten, also genau der Länder, die sonst als typische "neue" Nationalstaaten gelten. Diese Imperien seien erst im zwanzigsten Jahrhundert entweder untergegangen (wie das deutsche Imperium), hätten sich neu formiert (wie Russland und China) oder seien von anderen Imperien beerbt worden (wie das britische Empire durch die Vereinigten Staaten).
Nachdem er diese These durch einen Abgleich der verschiedenen Definitionen von Nationalstaaten mit der Realität von Staats- und Bevölkerungsstrukturen belegt hat, widersteht Osterhammel konsequenterweise der Versuchung, den Nationalismus dann doch in konventioneller Weise zum Thema des Buches zu machen. Was man unter diesem Stichwort suchen würde, findet sich unter Überschriften wie Zivilisierung und Ausgrenzung.
Der Kern des Buches, in dem pointillistische Beobachtungen auf raffinierte Weise zu Analysen verdichtet werden, bietet nicht nur ein intellektuelles Feuerwerk, sondern auch großes Lesevergnügen - die optische Begeisterung muss sich freilich auf den schönen Schriftsatz beschränken, denn nach Bildern, Karten oder Grafiken sucht man vergeblich.
Fände sich nicht das Foto des Autors auf dem Umschlag, könnte man angesichts der stupenden Gelehrsamkeit ein Alterswerk vermuten. Da dies nicht der Fall ist, darf man sehr gespannt sein, in welche Richtung Jürgen Osterhammel sein bereits jetzt epochemachendes OEuvre zeitgemäßer Weltgeschichtsschreibung fortführen wird.
ANDREAS FAHRMEIR
Jürgen Osterhammel: "Die Verwandlung der Welt". Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Verlag C. H. Beck, München 2009. 1568 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Intellektuelles Feuerwerk und Lesegenuss: Jürgen Osterhammels Weltgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist ein großer Wurf.
Die jüngsten großen Nationalgeschichten der späten Neuzeit Deutschlands gefielen sich darin, mit Aussagen darüber zu beginnen, was "im Anfang" ihrer Geschichte gewesen sei: Napoleon beziehungsweise Bismarck (Thomas Nipperdey), das Fehlen einer Revolution (Hans-Ulrich Wehler), das Reich (Heinrich August Winkler) oder Brandenburg (Christopher Clark). Jürgen Osterhammels eingängiger und gleichzeitig systematisch-komplexer großer Wurf einer Weltgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ersetzt den Eröffnungspaukenschlag durch eine auf den ersten Blick eher kuriose Erinnerung an ein Ende: daran, dass mit dem Tod von Darwins Schildkröte Harriet 2006 in Australien die allerletzte bekannte, freilich stumme Augenzeugin des neunzehnten Jahrhunderts das Zeitliche gesegnet hat.
Bei näherem Hinsehen reißt diese Geschichte fast alle Hauptthemen von Osterhammels Erzählung an: die Archivierungsleidenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, ohne die man nicht wüsste, wer Harriet war; die Reisen von Wissenschaftlern, Sträflingen, Arbeitern, Unternehmern, Tieren, Pflanzen, Kunstwerken und Ideen zwischen entlegensten Teilen der Welt, aus denen ein australischer Staat mit botanischen und zoologischen Gärten hervorging; die Reichweite weltumspannender Imperien, die auch die Galapagos-Inseln und Australien verbanden. Schließlich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Darwin ist zwar einer der bekanntesten Intellektuellen des neunzehnten Jahrhunderts geworden, war aber einer jener Privatgelehrten, die in dem universitären Wissenschaftsbetrieb, den dieses Jahrhundert zum Erfolgsmodell erhob, keinen Platz hatten.
Osterhammels Geschichte argumentiert - wie diese Episode beispielhaft zeigt - mit konkreten, überaus klug ausgewählten Beispielen, die dem analytischen Rahmen, den er eher anbietet als aufdrängt, seine besondere Plausibilität verleihen. Diese Technik verführt zu einer so kurzweiligen Lektüre, dass die enorme Syntheseleistung des Autors eigentlich erst am Schluss in vollem Umfang sichtbar wird - im Personenregister noch mehr als im Literaturverzeichnis.
Wie der Titel des Buches deutlich macht, geht es Osterhammel nicht um eine teleologische Erzählung von Nationalisierung, Modernisierung, Globalisierung oder Standardisierung, sondern zunächst darum, Veränderungen in allen Teilen der Welt zu erfassen und dann zu fragen, ob diese in eine bestimmte Richtung gingen. Die Überprüfung fördert globale Parallelen ebenso zutage wie dramatische Kontraste: etwa zwischen einem europäischen oder osmanischen Archivwesen, die Verwaltungshandeln penibel für die Ewigkeit dokumentierten, und dem chinesischen Historischen Museum, das seine Unterlagen 1921 als Altpapier veräußern wollte, oder zwischen Urbanisierung in Europa und relativer Deurbanisierung in Asien.
Am Anfang des Buches werden vermeintliche Selbstverständlichkeiten - der Chronologie, der Geographie, der mentalen Landkarten - als mögliche orts- und zeitgebundene Vorurteile in Frage gestellt. Damit steht auch für einen Moment der Rahmen des Buches selbst in Frage, da deutlich wird, wie wenig etwa die Französische Revolution auf die Welt ausstrahlte. Osterhammel argumentiert, später - in Epochen, die er Viktorianisches Zeitalter (zwischen etwa 1850 und 1880) und "fin de siècle" (zwischen etwa 1880 und 1917/19) tauft - habe sich das geändert, was zugleich erklärt, wieso der Schwerpunkt der Darstellung eher in der zweiten Hälfte des rechnerischen Jahrhunderts liegt.
Osterhammel scheint dieses neunzehnte Jahrhundert durch fünf Merkmale geprägt: "asymmetrische Effizienzsteigerung", welche den Globus in reiche und arme Regionen zerfallen ließ; wachsende Mobilität; "Referenzverdichtung", also eine engere kommunikative Vernetzung der Welt, vor allem durch den Telegraphen; "Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie" und schließlich "Emanzipation" aus Zwangsarbeit und konfessioneller Homogenität.
Die Kapitel des Buches bieten ein Panorama von Bevölkerungsentwicklung und -bewegung, Lebenschancen und Lebenswelten in Stadt, Land sowie an den "Frontiers" der expandierenden europäisch inspirierten "Zivilisationen" in Nord- und Südamerika, Russland, Südafrika und Ozeanien. Sie enthalten pointierte Analysen von Politik und Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion. Es ist naheliegend, dass die hierzulande weniger bekannten Entwicklungen in Amerika, Afrika und Asien dabei oft breiteren Raum einnehmen als die (west)europäischen Nationalgeschichten.
Die Verteilung der Gewichte ist gelegentlich überraschend; so ist der Abschnitt über Systeme sozialer Sicherung etwa so lang wie der über das Restaurant. Sie ergibt sich aber folgerichtig aus den zentralen Problemstellungen, die das Buch umkreist. Für die Frage, was eigentlich dafür verantwortlich war, dass trotz ähnlicher Voraussetzungen europäische und nordamerikanische Staaten einerseits, asiatische und afrikanische Länder andererseits im Laufe des Jahrhunderts auf immer weiter auseinanderklaffende ökonomische Entwicklungspfade gerieten, ist weniger zentral, wie Gesellschaften mit Elend umgingen, als vielmehr, wann sich Konsumgesellschaften etablierten, die eine kommerzielle oder industrielle Wachstumsdynamik generieren konnten.
Osterhammel vermeidet simplifizierende Thesen, schlägt aber klare Schneisen durch nur scheinbar bekanntes Terrain. Ein Kernthema des Bandes ist die Abschaffung der Sklaverei und der meisten anderen Formen unfreier Arbeit. Die Bedeutung der Sklaverei für Ökonomie, Politik, Staatsbildungsprozesse und moralische Debatten des neunzehnten Jahrhunderts wird ebenso dokumentiert wie die Fülle der Gründe für ihre Abschaffung zwischen 1804 (endgültig auf Haiti) und 1888 (in Brasilien).
Hier überwiegen Unterschiede Gemeinsamkeiten, Ungleichzeitigkeiten - etwa die Intensivierung des Sklavenhandels nach Südamerika neben seinem Abklingen nach Nordamerika und in die Karibik - chronologische Parallelen, von der auffälligen Gleichzeitigkeit der Emanzipation von Sklaven in den Vereinigten Staaten und Leibeigenen in Russland einmal abgesehen. Selbst diese Geschichte ist freilich keine Geschichte ungetrübten Fortschritts: Formale Emanzipation veränderte die wirtschaftliche Ungleichheit kaum und ging mit neuen Begründungen für die Ausgrenzung derjenigen einher, die im Verlauf des Jahrhunderts erstmals zu Staatsbürgern geworden waren.
Dort, wo Osterhammel neben der Vernetzung der Welt durch Telegraph, Dampfschiffe und Eisenbahnen Gemeinsamkeiten sieht, entwickelt er seine vielleicht provokanteste These: Das neunzehnte Jahrhundert sei selbst in Europa nicht Jahrhundert des Nationalismus und der Nationalstaaten, sondern Jahrhundert stabiler, zukunftsträchtiger Imperien gewesen, nicht nur der Reiche Großbritannien, Russland und China, sondern auch der "Imperien" Deutschland, Italien und der Vereinigten Staaten, also genau der Länder, die sonst als typische "neue" Nationalstaaten gelten. Diese Imperien seien erst im zwanzigsten Jahrhundert entweder untergegangen (wie das deutsche Imperium), hätten sich neu formiert (wie Russland und China) oder seien von anderen Imperien beerbt worden (wie das britische Empire durch die Vereinigten Staaten).
Nachdem er diese These durch einen Abgleich der verschiedenen Definitionen von Nationalstaaten mit der Realität von Staats- und Bevölkerungsstrukturen belegt hat, widersteht Osterhammel konsequenterweise der Versuchung, den Nationalismus dann doch in konventioneller Weise zum Thema des Buches zu machen. Was man unter diesem Stichwort suchen würde, findet sich unter Überschriften wie Zivilisierung und Ausgrenzung.
Der Kern des Buches, in dem pointillistische Beobachtungen auf raffinierte Weise zu Analysen verdichtet werden, bietet nicht nur ein intellektuelles Feuerwerk, sondern auch großes Lesevergnügen - die optische Begeisterung muss sich freilich auf den schönen Schriftsatz beschränken, denn nach Bildern, Karten oder Grafiken sucht man vergeblich.
Fände sich nicht das Foto des Autors auf dem Umschlag, könnte man angesichts der stupenden Gelehrsamkeit ein Alterswerk vermuten. Da dies nicht der Fall ist, darf man sehr gespannt sein, in welche Richtung Jürgen Osterhammel sein bereits jetzt epochemachendes OEuvre zeitgemäßer Weltgeschichtsschreibung fortführen wird.
ANDREAS FAHRMEIR
Jürgen Osterhammel: "Die Verwandlung der Welt". Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Verlag C. H. Beck, München 2009. 1568 S., geb., 49,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jürgen Osterhammels opulente Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts hat den Rezensenten (bei dem es sich offenbar um Stephan Speicher handelt) überaus beeindruckt. Er würdigt den Autor, Professor für Neuere und neueste Geschichte, als einen der "besten Leute seines Fachs". Mit Respekt spricht er vom gewaltigen Literaturstudium, das hinter dieser Arbeit steht. Besonders hebt er hervor, wie der Autor sein Thema angeht, nämlich nicht chronologisch oder geografisch. Osterhammel wähle als Überschriften vielmehr Begriffe, wie "Staat", "Netze", "Hierarchien", die es erlaubten, die "Materialmasse" neu zu ordnen. Speicher verdeutlicht dies am Beispiel der Rubrik "Frontier", unter der der Autor die Landnahme und Ressourcenerschließung in den USA höchst aufschlussreich beschreibt und dann mit der in Südamerika und Russland vergleicht. Er sieht bei Osterhammel eine Tendenz zur "methodisch differenzierten Vielfalt", die ihm zwar "reflexionsstark", aber andererseits auch "thesenarm" erscheint. Ausführlich erörtert Speicher Stärken und Schwächen von Osterhammels Darstellungsprinzip am Beispiel Chinas. Ein wenig bedauerlich findet er, dass Osterhammel die Philosophie und die Künste außen vor lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Elegant geschriebenes, wissensgetränktes Panoptikum, das einen westlichen Leser für ihn abgelegene Weltgegenden kennenlernen lässt."
NZZ am Sonntag, Die 100 besten Bücher des 21. Jahrhunderts, Peer Teuwsen
NZZ am Sonntag, Die 100 besten Bücher des 21. Jahrhunderts, Peer Teuwsen