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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Bin ich begabt?
Im Gespräch mit großen Geistern: Der Theaterzauberkünstler Gert Voss / Von Frank Busch

Was für ein Leben! Geboren in Schanghai, aufgewachsen im Nachkriegsdeutschland, Studentenjahre in Tübingen, Schauspielunterricht in München, Aufstieg von Konstanz über Braunschweig, Stuttgart und Bochum zum Olymp des Wiener Burgtheaters und zu einem der berühmtesten Schauspieler deutscher Sprache. Gert Voss hat erreicht, wovon man am Theater träumt: Er war mehrfach Schauspieler des Jahres, ist Träger des Gertrud-Eysoldt-Ringes und des Titels Kammerschauspieler, er wurde mit der Kainz-Medaille ausgezeichnet und mit dem Kortner-Preis wie mit dem Nestroy-Preis geehrt. Mehr noch: Ihm ist zugefallen, wovon niemand zu träumen wagen würde. Thomas Bernhard hat ihm ein literarisches Denkmal gesetzt, indem er ihm wie zwei Schauspielerinnen den Titel eines Stückes widmete: "Ritter, Dene, Voss". Eine Legende zu Lebzeiten.

So gradlinig, wie es scheint, ist die Karriere des Schauspielers jedoch nicht verlaufen, so einfach, wie es klingt, hat es sich Gert Voss nie gemacht. Ein begabtes Kind, zweifellos. Mit seinem Bruder hat er schon während seiner ersten sechs Lebensjahre in Schanghai auf der Straße Dialoge in fremden Sprachen imitiert. Nachdem die Familie 1947 nach Deutschland zurückkehren mußte, begeisterte er sich als Jugendlicher für amerikanische Filme. Er entwarf und zeichnete ganze Drehbücher, und sein Wunsch war es, Filmregisseur zu werden. Doch der Vater, ganz der deutsche Kaufmann, als der er nach dem Ersten Weltkrieg nach China gegangen war, stellte sich gegen diesen "Quatschberuf", wir er es nannte. Beim Studium in Tübingen landete er schon bald beim Studententheater, später ging er nach München zur Schauspiellehrerin Ellen Mahlke. Die fragte er: "Sagen Sie mir ganz offen: Bin ich begabt oder ungewöhnlich begabt?" Die Antwort verrät er nicht.

Aus dem, was Gert Voss von sich erzählt, entwickelt sich das Bild eines für Geschichten, Stimmungen und Charaktere empfänglichen Jugendlichen, der unter den autoritären Lehrern der fünfziger Jahre litt. Platz für seine Phantasie fand er in den abenteuerlichen Trümmern des zerbombten Hamburg und im amerikanischen Kino. Aus den Einzelheiten ergibt sich so das Bild eines Schicksals, das viele sensible und phantasievolle Jugendliche in den materiellen Zeiten des Wirtschaftswunders der fünfziger Jahre mit ihm teilten. Das Geheimnis, wie sich aus der Summe dieser Einzelheiten zunächst ein beachtlicher und später ein ganz und gar außergewöhnlicher Schauspieler entwickelte, vermag aber auch das umfangreichste Gespräch nicht zu enthüllen.

Klaus Dermutz, der sein Buch über Gert Voss als Frage-und-Antwort-Spiel mit dem Schauspieler angelegt hat, sucht des Rätsels Lösung näher zu kommen, indem er den Schwerpunkt vom Biographischen zum Theatertheoretischen verlagert. Auf die Kapitel über "Kindheit in China" und "Jugend in Deutschland" folgen zwei, die den "Wanderjahren" des jungen Schauspielers mit den Stationen Konstanz, Braunschweig, München, Stuttgart und Bochum gewidmet sind, danach endet die an einer äußerlichen Chronologie orientierte Beschreibung des Werdegangs. Die folgenden Kapitel sind nach den Autoren benannt, mit deren Stücken und Figuren sich Gert Voss in das Gedächtnis einer ganzen Generation von Theaterzuschauern eingegraben hat: unter anderen Shakespeare, Tschechow, Beckett und Thomas Bernhard. Der Autor kann dabei nicht verbergen, daß er Theaterkritiker ist, denn seine Fragen zielen vor allem auf die Ästhetik und auf literarische und filmische Vorbilder, die Gert Voss in seinen Rollen beeinflußt haben. Der Vorteil, das Anekdotische und Verklatschte vieler Schauspielerbiographien zu meiden, wird dabei um den Preis erkauft, daß die Gespräche manchmal etwas blutleer wirken.

Trotzdem ist in dem, was Gert Voss erzählt, immer wieder zu erkennen, wie sehr das Theater geprägt wird von Alltäglichkeiten und Zufällen, wie von den Persönlichkeiten der Menschen, die da aufeinandertreffen. Im Jahr 1990 probte er in Wien zum ersten Mal unter der Regie Taboris. Er spielte Othello und richtete sein Augenmerk auf die Sprache des Mohren von Venedig: "Ich wollte, daß man ihm anmerken konnte, daß er sich diese Sprache wie ein Ausländer angeeignet hat. Auch in diesem Punkt war George von einer grenzenlosen Toleranz. Er mußte wochenlang ertragen, wie ich einen ausländischen Slang in die Sprache hineinarbeitete, den ich mir aus der Erinnerung an unser chinesisches Personal in Schanghai rekonstruierte." Daß die Spiele der Kindheit gerade in der Arbeit mit George Tabori wieder auftauchen, hängt wahrscheinlich mit der offenen Atmosphäre des geduldigen Zuhörens zusammen, die dieser Regisseur bei den Proben verbreitet.

Wenn ich Regisseure in meinem Herzen habe, dann sind das George Tabori und Peter Zadek", gesteht Gert Voss. Dieses Bekenntnis zu Tabori und Zadek richtet sich freilich unausgesprochen auch gegen den dritten Regisseur, der für seine Laufbahn entscheidend gewesen ist: Claus Peymann. Mit ihm war das Stuttgarter Theater, an dem Gert Voss Anfang der sechziger Jahre engagiert war, in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt, mit ihm hatte der Schauspieler seinen großen Erfolg als Cheruskerfürst Hermann in der Bochumer Inszenierung von Kleists "Hermannsschlacht" und für ihn gewann Gert Voss das Wiener Publikum, als er 1987 am Burgtheater Richard III. spielte. Ein Vater, der seinen Sohn nicht immer liebevoll an die Hand genommen hat: Nachdem er 1975 in Peymanns Inszenierung der "Räuber" den Karl gespielt hatte, habe ihm der Regisseur sieben Jahre lang nur kleinere Rollen gegeben, erzählt Gert Voss.

In seiner Erinnerung liegen biblische sieben Jahre der Dürre zwischen den "Räubern" und der "Hermannsschlacht". Tatsächlich hat er aber bereits im Jahr zuvor den Sultan Saladin in Peymanns gefeierter Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" gespielt. Durch einen Blick in das sorgfältig zusammengestellte Verzeichnis der Inszenierungen am Ende des Bandes kann sich jeder davon überzeugen. Eine Ahnung, was hinter diesen Schatten der Erinnerung steht, bekommt man freilich schon in dem Gespräch, das Klaus Dermutz mit George Tabori geführt hat: "Gert Voss war einer von Peymanns Lieblingsschauspielern, aber die Beziehung ist kühl geworden", sagt der Regisseur. An diesem Punkt merkt man, daß alle Beteiligten noch leben, obwohl sie längst Theatergeschichte gemacht haben. Das Buch kann deshalb keine allwissende Biographie sein. Es ist eine behutsame Annäherung an die fabelhafte Welt eines Theaterzauberkünstlers geworden.

Klaus Dermutz: "Die Verwandlungskünste des Gert Voss". Unter Mitarbeit von Karin Meßlinger. Residenz Verlag, Salzburg 2001. 256 S., 85 Abb., geb., 68,26 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Spätestens der Titel des Thomas-Bernhard-Stücks "Ritter, Dene, Voss" hat, so der Rezensent Frank Busch, den Schauspieler Gert Voss zur "Legende zu Lebzeiten" gemacht. Der besprochene Band ist entstanden als Gespräch zwischen Dermutz und Voss; was der Künstler über seine Anfänge erzählt, ergibt, in den Worten des Rezensenten, "das Bild eines für Geschichten, Stimmungen und Charaktere empfänglichen Jugendlichen". Die Frage, was Voss zum großartigen Schauspieler gemacht hat, lässt sich, findet Busch, durch Rückfragen an die Biografie jedoch nicht klären. Klaus Dermutz sieht das wohl ähnlich, daher verlagert er den Schwerpunkt seiner Fragen bald aufs "Theatertheoretische". Die negative Folge, so Busch, ist, dass die Gespräche gelegentlich "etwas blutleer" wirken. Persönliches kommt dennoch immer wieder vor, Tabori und Zadek werden als wichtigste Anreger unter den Regisseuren kenntlich, Claus Peymann kommt weniger gut weg. Bei allem Für und Wider lobt der Rezensent das Buch zuletzt doch als "behutsame Annäherung an die fabelhafte Welt eines Theaterzauberkünstlers".

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