In der Diskussion zur Krise moderner Demokratien erfreut sich das Losen einer wachsenden Aufmerksamkeit. Dabei wird oft auf die Verwendung von Losverfahren in der politischen Praxis der griechischen Antike verwiesen. Jedoch kam dem Losen auch in anderen Bereichen eine wichtige Funktion zu. Aaron Gebler fokussiert in seiner Studie ebendiese Bereiche und untersucht umfassend die Verwendung von Losverfahren in der attischen Demokratie im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. Er zeigt, dass die Verwendung des Loses im politischen Kontext möglicherweise aus dem militärischen Bereich übernommen wurde. Im Zuge einer Transformation der Partizipationskultur im griechischen Raum etablierte sich im 5. Jahrhundert v. Chr. das Losverfahren zu einer bedeutenden Technik. Wurde es im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. noch beliebig eingesetzt - meist als Problemlöser einer spezifischen Situation im militärischen Kontext, zur Verteilung von Erbschaften oder zur Befragung der Götter -, entwickelte sich dasLosverfahren spätestens ab den letzten Jahren des 6. Jahrhundert v. Chr. zu einem festen Bestandteil politischer Ordnungen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Uwe Walter liest fasziniert über den Einsatz des Losverfahrens im antiken Athen in Aaron Geblers Studie. Nicht nur als willkommene Ergänzung zu funktionalen Analysen wie etwa bei Jochen Bleicken dient ihm das Buch, sondern auch als differenzierte wie breite Darstellung, die der Frage nach den religiösen Aspekten beim Losverfahren ebenso nachgeht wie dem Sinn und Zweck des Losens im demokratischen Prozess. Dass Gebler eine Losmaschine nachbaut, aber die Funktionsweise nicht genauer erläutert, findet Walter verzeihlich. Ein altertumswissenschaftliches Referenzwerk ist das Buch für ihn schon durch die exakte und umfangreiche Quellenarbeit. Einziger Mangel für Walter: Das Fehlen spieltheoretischer Ansätze im Band.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2024Die Entscheidung durch das Los konnte auch Eliten gefallen
Aaron Gebler liefert neueren Debatten über aleatorische Elemente in der Demokratie eine solide altertumswissenschaftliche Grundlage
In der Debatte um Defizite der demokratischen Praxis kommen seit dem von John Burnheim vor vierzig Jahren vorgetragenen Konzept einer "Demarchy" öfters Vorschläge auf den Tisch, durch Losverfahren bei der Besetzung von Entscheidungsgremien mehr Gleichheit und eine breitere Partizipation am politischen Prozess zu generieren. Selbst Radikalkritiker wie David Van Reybrouck fanden durchaus Resonanz (F.A.Z. vom 11.2.2017), und kürzlich haben Wayne Waxman und Alison McCulloch in ihrem "Democracy Manifesto" (in platonischer Dialogform) zu begründen versucht, warum Wählen durch Losen ersetzt werden sollte. Andere vertieften diese Option historisch, so Hubertus Buchstein ("Demokratie und Lotterie") oder im vergangenen Jahr Yves Sintomer ("The Government of Chance"; dt. "Das demokratische Experiment").
In all diesen Büchern wird - mehr oder weniger informiert - das antike Athen als Wiege des Losverfahrens vorgestellt, bildete dieses doch dort ein Grundprinzip zur Sicherung des demokratischen Gedankens: Um Manipulation auszuschließen und persönliche Autorität zurückzudrängen, setzten die Athener nach den Perserkriegen bei der Bestimmung von Geschworenen und der Besetzung vieler Ämter auf das Los, da Wahlen ihrer Ansicht nach allzu sehr Faktoren wie soziale Prominenz, Bildung und Seilschaften zur Geltung brachten. Demgegenüber waren für den Demos Gleichheit sowie eine breite und vor allem selbstverständliche Teilnahme auch der weiter von der Stadt Athen entfernt lebenden Bürger am politischen wie juristischen Entscheiden hohe Ziele. Die Entscheidung selbst erfolgte dann selbstverständlich nicht durch das Los, sondern nach Mehrheit.
Eine willkommene Ergänzung der funktionalen Analyse, wie sie noch immer unübertroffen auf wenigen Seiten in Jochen Bleickens Studie zur athenischen Demokratie nachzulesen ist, liefert nun Aaron Gebler. Er zeigt, wie weit das Auslosen bei den Griechen verbreitet war, in verschiedenen Bereichen und seit frühester Zeit, zur Konfliktvermeidung, Legitimierung oder Beschleunigung: Bereits in den Epen Homers werden Beuteanteile, militärische Aufgaben und Startpositionen bei sportlichen Wettkämpfen per Los zugewiesen. Das setzte sich fort auf dem so wichtigen Feld der Landverteilung. Differenziert bewertet Gebler die scheinbar naheliegende religiöse Erklärung: Zwar waren Losorakel verbreitet, doch schon bei der Zuerkennung von Priesterämtern durch das Los sprach nicht die Gottheit, sondern diese Art der Auswahl diente wie auch auf allen anderen Feldern dazu, durch ein unparteiisches Verfahren Streit zu vermeiden und die Auswahl zu entpersonalisieren. Vollends im politischen Raum hatte das Losen rein gar nichts mit einem Gottesurteil zu tun.
Die breite Anlage der Studie führt zu einem überzeugenden Resultat. Indem Gebler die "Verankerung und damit langzeitige Erprobung des Verfahrens" auf so vielen Feldern aufweist, erscheint nicht mehr so überraschend, wie rasch und problemlos die Athener es im Kernbereich der politischen Steuerung etablieren konnten. Ihre Kreativität zeigte sich auch in der Konstruktion von Losmaschinen zur zügigen und manipulationsresistenten Auswahl der Geschworenen im Volksgericht. Gebler hat durch den Nachbau eines solchen Geräts einige Fragen experimentell einer Klärung näherbringen können; leider fehlt eine genauere Erklärung der Funktionsweise.
Die alle literarischen Zeugnisse erfassende Vorgehensweise macht die Studie zu einem nützlichen Referenzwerk, doch die Nachteile sind offenkundig: Auf die Dauer ermüdend klappert der Autor die Belegstellen ab, referiert Forschungsmeinungen zur stets defizitären Quellenlage, zur Historizität des Berichteten sowie möglichen Interpretationen und entscheidet sich für eine der Varianten. Spiel- und entscheidungstheoretische Vertiefungen hätten ihm womöglich weitergeholfen. Zwar verwirft er mit Recht die alte Faustregel, bei den Griechen sei die Losung ein Markenzeichen der Demokratie gewesen, während Aristokratien und Oligarchien individuelle Würdigkeit, Kompetenz sowie soziales Prestige hochhielten und daher lieber wählen ließen.
Indes konnte eine Losung auch für Eliten attraktiv sein, wenn sie in ein komplexeres Arrangement eingefügt war. Die Pointe einer für die Bestimmung der neun Archonten in Athen seit der Perserkriegszeit belegten Losung aus einhundert vorher Gewählten bleibt bei Gebler jedoch analytisch unterbestimmt: Wer sich in letzterer Gruppe zu etablieren vermochte und als grundsätzlich amtsfähig anerkannt war, erhielt schon dadurch öffentlich eine besondere, weil seltene Ehre bescheinigt, die beinahe an die tatsächliche Bekleidung des Amtes heranreichte, jedoch viel sicherer war. Die anschließende Losung basierte auf der Fiktion einer Auswahl aus Gleichen unter Gleichwertigen und erleichterte es, zu akzeptieren, wenn einer das Amt nicht erhielt - er war kein Unterlegener, sondern galt als gleich berechtigt und gleich qualifiziert.
Zu losen bedeutete gerade keine Nivellierung von Unterschieden, sondern hatte das Potential, die Herausgehobenen im Gegenteil sogar zusammenzuschmieden - das Verfahren schuf den Adel gleichsam neu und band ihn zugleich in die demokratische Polis ein. Konfliktträchtige Hierarchisierungen, die Bildung von Seilschaften oder zementierte Machtverhältnisse konnten so auch innerhalb von Eliten, deren Angehörige selbstverständlich ebenfalls untereinander höchst ungleich waren, durch die blinde Auswahl aus einem Kandidatenpool eingedämmt werden. In der Forschung wurde die Option, trotz ausgeprägter Wettbewerbsorientierung eine stabile Aristokratie zu bilden, zuletzt mit dem Konzept des Kartells analysiert, das der Autor indes nicht aufgreift. Nicht zufällig erwiesen sich die beiden oligarchischen Regimes in Athen, die das Losen sogleich zurückschnitten, als auch in sich höchst instabil und dysfunktional.
Welche Prinzipien und Priorisierungen lassen sich aus dem verbreiteten Gebrauch der Losung in der athenischen Demokratie ableiten? Die Legitimität durch die Rahmung der Verfahren stabilisierte die Akzeptanz des Systems, das überdies mit seinen Ergebnissen funktionierte und Tausende von offenbar zielführenden Entscheidungen produzierte - ob ein stärker expertokratisches Verfahren bessere Resultate erzielt hätte, erscheint auch im Rückblick keineswegs erwiesen. Soweit sich die Diskussion um aleatorische Elemente in der Demokratie auf das antike Griechenland bezieht, findet sie in Geblers Buch eine altertumswissenschaftlich solide Grundlage. Für ein theoretisch informiertes Weiterdenken und Durchspielen ist das Feld nach wie vor offen. UWE WALTER
Aaron Gebler: "Die Verwendung und Bedeutung von Losverfahren in Athen und im griechischen Raum vom 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr."
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2024.
310 S., Abb., br., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Aaron Gebler liefert neueren Debatten über aleatorische Elemente in der Demokratie eine solide altertumswissenschaftliche Grundlage
In der Debatte um Defizite der demokratischen Praxis kommen seit dem von John Burnheim vor vierzig Jahren vorgetragenen Konzept einer "Demarchy" öfters Vorschläge auf den Tisch, durch Losverfahren bei der Besetzung von Entscheidungsgremien mehr Gleichheit und eine breitere Partizipation am politischen Prozess zu generieren. Selbst Radikalkritiker wie David Van Reybrouck fanden durchaus Resonanz (F.A.Z. vom 11.2.2017), und kürzlich haben Wayne Waxman und Alison McCulloch in ihrem "Democracy Manifesto" (in platonischer Dialogform) zu begründen versucht, warum Wählen durch Losen ersetzt werden sollte. Andere vertieften diese Option historisch, so Hubertus Buchstein ("Demokratie und Lotterie") oder im vergangenen Jahr Yves Sintomer ("The Government of Chance"; dt. "Das demokratische Experiment").
In all diesen Büchern wird - mehr oder weniger informiert - das antike Athen als Wiege des Losverfahrens vorgestellt, bildete dieses doch dort ein Grundprinzip zur Sicherung des demokratischen Gedankens: Um Manipulation auszuschließen und persönliche Autorität zurückzudrängen, setzten die Athener nach den Perserkriegen bei der Bestimmung von Geschworenen und der Besetzung vieler Ämter auf das Los, da Wahlen ihrer Ansicht nach allzu sehr Faktoren wie soziale Prominenz, Bildung und Seilschaften zur Geltung brachten. Demgegenüber waren für den Demos Gleichheit sowie eine breite und vor allem selbstverständliche Teilnahme auch der weiter von der Stadt Athen entfernt lebenden Bürger am politischen wie juristischen Entscheiden hohe Ziele. Die Entscheidung selbst erfolgte dann selbstverständlich nicht durch das Los, sondern nach Mehrheit.
Eine willkommene Ergänzung der funktionalen Analyse, wie sie noch immer unübertroffen auf wenigen Seiten in Jochen Bleickens Studie zur athenischen Demokratie nachzulesen ist, liefert nun Aaron Gebler. Er zeigt, wie weit das Auslosen bei den Griechen verbreitet war, in verschiedenen Bereichen und seit frühester Zeit, zur Konfliktvermeidung, Legitimierung oder Beschleunigung: Bereits in den Epen Homers werden Beuteanteile, militärische Aufgaben und Startpositionen bei sportlichen Wettkämpfen per Los zugewiesen. Das setzte sich fort auf dem so wichtigen Feld der Landverteilung. Differenziert bewertet Gebler die scheinbar naheliegende religiöse Erklärung: Zwar waren Losorakel verbreitet, doch schon bei der Zuerkennung von Priesterämtern durch das Los sprach nicht die Gottheit, sondern diese Art der Auswahl diente wie auch auf allen anderen Feldern dazu, durch ein unparteiisches Verfahren Streit zu vermeiden und die Auswahl zu entpersonalisieren. Vollends im politischen Raum hatte das Losen rein gar nichts mit einem Gottesurteil zu tun.
Die breite Anlage der Studie führt zu einem überzeugenden Resultat. Indem Gebler die "Verankerung und damit langzeitige Erprobung des Verfahrens" auf so vielen Feldern aufweist, erscheint nicht mehr so überraschend, wie rasch und problemlos die Athener es im Kernbereich der politischen Steuerung etablieren konnten. Ihre Kreativität zeigte sich auch in der Konstruktion von Losmaschinen zur zügigen und manipulationsresistenten Auswahl der Geschworenen im Volksgericht. Gebler hat durch den Nachbau eines solchen Geräts einige Fragen experimentell einer Klärung näherbringen können; leider fehlt eine genauere Erklärung der Funktionsweise.
Die alle literarischen Zeugnisse erfassende Vorgehensweise macht die Studie zu einem nützlichen Referenzwerk, doch die Nachteile sind offenkundig: Auf die Dauer ermüdend klappert der Autor die Belegstellen ab, referiert Forschungsmeinungen zur stets defizitären Quellenlage, zur Historizität des Berichteten sowie möglichen Interpretationen und entscheidet sich für eine der Varianten. Spiel- und entscheidungstheoretische Vertiefungen hätten ihm womöglich weitergeholfen. Zwar verwirft er mit Recht die alte Faustregel, bei den Griechen sei die Losung ein Markenzeichen der Demokratie gewesen, während Aristokratien und Oligarchien individuelle Würdigkeit, Kompetenz sowie soziales Prestige hochhielten und daher lieber wählen ließen.
Indes konnte eine Losung auch für Eliten attraktiv sein, wenn sie in ein komplexeres Arrangement eingefügt war. Die Pointe einer für die Bestimmung der neun Archonten in Athen seit der Perserkriegszeit belegten Losung aus einhundert vorher Gewählten bleibt bei Gebler jedoch analytisch unterbestimmt: Wer sich in letzterer Gruppe zu etablieren vermochte und als grundsätzlich amtsfähig anerkannt war, erhielt schon dadurch öffentlich eine besondere, weil seltene Ehre bescheinigt, die beinahe an die tatsächliche Bekleidung des Amtes heranreichte, jedoch viel sicherer war. Die anschließende Losung basierte auf der Fiktion einer Auswahl aus Gleichen unter Gleichwertigen und erleichterte es, zu akzeptieren, wenn einer das Amt nicht erhielt - er war kein Unterlegener, sondern galt als gleich berechtigt und gleich qualifiziert.
Zu losen bedeutete gerade keine Nivellierung von Unterschieden, sondern hatte das Potential, die Herausgehobenen im Gegenteil sogar zusammenzuschmieden - das Verfahren schuf den Adel gleichsam neu und band ihn zugleich in die demokratische Polis ein. Konfliktträchtige Hierarchisierungen, die Bildung von Seilschaften oder zementierte Machtverhältnisse konnten so auch innerhalb von Eliten, deren Angehörige selbstverständlich ebenfalls untereinander höchst ungleich waren, durch die blinde Auswahl aus einem Kandidatenpool eingedämmt werden. In der Forschung wurde die Option, trotz ausgeprägter Wettbewerbsorientierung eine stabile Aristokratie zu bilden, zuletzt mit dem Konzept des Kartells analysiert, das der Autor indes nicht aufgreift. Nicht zufällig erwiesen sich die beiden oligarchischen Regimes in Athen, die das Losen sogleich zurückschnitten, als auch in sich höchst instabil und dysfunktional.
Welche Prinzipien und Priorisierungen lassen sich aus dem verbreiteten Gebrauch der Losung in der athenischen Demokratie ableiten? Die Legitimität durch die Rahmung der Verfahren stabilisierte die Akzeptanz des Systems, das überdies mit seinen Ergebnissen funktionierte und Tausende von offenbar zielführenden Entscheidungen produzierte - ob ein stärker expertokratisches Verfahren bessere Resultate erzielt hätte, erscheint auch im Rückblick keineswegs erwiesen. Soweit sich die Diskussion um aleatorische Elemente in der Demokratie auf das antike Griechenland bezieht, findet sie in Geblers Buch eine altertumswissenschaftlich solide Grundlage. Für ein theoretisch informiertes Weiterdenken und Durchspielen ist das Feld nach wie vor offen. UWE WALTER
Aaron Gebler: "Die Verwendung und Bedeutung von Losverfahren in Athen und im griechischen Raum vom 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr."
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2024.
310 S., Abb., br., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
"Eine willkommene Ergänzung der funktionalen Analyse [...] liefert nun Aaron Gebler. [...] Die breite Anlage der Studie führt zu einem überzeugenden Resultat. Indem Gebler die 'Verankerung und damit langzeitige Erprobung des Verfahrens' auf so vielen Feldern aufweist, erscheint nicht mehr so überraschend, wie rasch und problemlos die Athener es im Kernbereich der politischen Steuerung etablieren konnten. [...] Soweit sich die Diskussion um aleatorische Elemente in der Demokratie auf das antike Griechenland bezieht, findet sie in Geblers Buch eine altertumswissenschaftlich solide Grundlage."
Uwe Walter FAZ, 07.06.2024 20240607
Uwe Walter FAZ, 07.06.2024 20240607