Der junge schwedische Historiker Peter Englund entwirft ein Bild des 17. Jahrhunderts, das Panorama einer Epoche, die von den Schrecken eines dreißig Jahre währenden Kriegs gezeichnet war. Städte und Dörfer, vor allem auf deutschem Boden, wurden zerstört, ganze Landstriche verwüstet. Gleichzeitig mit der Geschichte des Krieges erzählt der Autor die eines Menschen, der in "diese erbärmliche und elende Welt" hinein geboren wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.1998Wo aber sind die Fragen?
Peter Englund kennt alle Antworten zum Dreißigjährigen Krieg
Was für ein Buch! denkt der Leser nach fünfzig Seiten. Noch ein wenig ungläubig, aber schon voller Bewunderung und mit Herzklopfen ist er bereit, der Epiphanie der stets unerreichbaren "histoire totale" beizuwohnen, von der nicht nur die Schule der Annales träumte. Sechshundert Seiten später aber kann derselbe Leser nur noch tief seufzen: Was für ein Buch.
Und der Leser als Rezensent muß noch ein weiteres Mal seufzen. Denn es ist gar nicht so leicht zu erklären, wie diese Geschichte des Dreißigjährigen Krieges die Erwartungen so hoch spannen kann und warum sie am Ende nicht nur diese Erwartungen nicht erfüllt, was sehr verzeihlich wäre, sondern sie in Gleichgültigkeit umschlagen läßt. Das Buch ist mit mehr als siebenhundert Seiten nicht nur dick, sondern es steht tatsächlich sehr viel darin. Freilich nicht zuerst und nicht vor allem über die "Zerstörung Deutschlands", wie der deutsche Titel dem Publikum verheißt.
Sollte man sagen, wovon in dem Buch die Rede ist, fällt es leichter, die Ingredienzien aufzulisten, als die Frage zu benennen, die es zu beantworten sucht. Das Buch ist also erstens eine Biographie des schwedischen Festungsbaumeisters Eric Jönsson, des späteren Freiherrn Dahlberg, der von 1625 bis 1703 lebte und ein ebenso ausführliches wie aufschlußreiches Tagebuch hinterlassen hat. Dann ist es ein Buch über Festungsbau und Kriegswesen. Es enthält ferner Abhandlungen zu folgenden Themen: Geschlechterbeziehungen in der Frühen Neuzeit, Weltanschauung und Religion, Kleiderordnung, Verkehrs- und Postwesen, Mode und Medizin. Auch berücksichtigt wird die Sozial- und Verfassungsgeschichte Schwedens, eingeschlossen die frühe schwedische Kolonialisierung in Amerika. Damit ist die Themenliste längst noch nicht erschöpft. Es gibt in dem Buch wahrscheinlich alles, was es gab - oder doch alles, was einem Autor einfallen könnte.
Man erfährt, daß das Durchschnittsalter der Soldaten im Dreißigjährigen Krieg bei etwa fünfundzwanzig Jahren lag. Man sieht den Menschen des siebzehnten Jahrhunderts vor sich, der sich so stark in Leidenschaften verliert, daß ihm, so der Autor, die Vernunft abhanden zu kommen droht. Dann liest man mit Vergnügen und wirklichem Gewinn ein scharf gestochenes Porträt der jungen schwedischen Königin Christina. Man könnte so fortfahren und dürfte dabei nicht unterschlagen, daß der Autor sich sehr bemüht hat, auf jedem dieser Gebiete auf der Höhe der Forschung zu sein. Vor allem hätte man neben den grandiosen ersten fünfzig Seiten auch die Lust und Leidenschaft des Historikers und Journalisten Englund für die Erscheinungsformen des frühneuzeitlichen Krieges hervorzuheben: Hier findet sein erzählerisches Talent einen würdigen Gegenstand.
Woher also rührt die Unzufriedenheit des Lesers, woher die im Verlauf der Lektüre wachsende Mißstimmung? Das Buch weckt nicht nur die Erwartung, sondern erhebt durch seine Form auch den Anspruch, Erzählung im literarischen Sinn und historische Wissenschaft zu verschmelzen - und genau dies ist nicht gelungen. Wie bei einem Doppelwhopper ist hier Wissensschicht auf Biographiestückchen und Biographiestückchen auf Wissensschicht gelegt. Kaum freut man sich, daß der Autor nach langen Kriegsschilderungen und allerlei Exkursen den biographischen Faden Jönssons wiederaufnimmt, da fällt er sich selbst ins Wort und belehrt den Leser über einen neuen Gegenstand. Da er alles will, läßt Englund seinen Helden immer wieder im Stich.
Er will offenbar immer mehr sagen, als seine Hauptfigur sagen konnte, und zugleich doch ganz in deren Haut schlüpfen und das Selbstverständnis des Zeitgenossen nachbilden. Beides miteinander zu verbinden ist eine häufige Herausforderung an den Historiker. In diesem Fall wurde sie aber gar nicht erst angenommen, und es bleibt bei einer merkwürdigen Schizophrenie. Deutlicher Hinweis darauf sind bei diesem sehr flüssig geschriebenen Buch Stilbrüche und Plumpheiten, die immer dann auftauchen, wenn der Autor vom Enzyklopädischen zum Biographischen wechselt. Es färbt auch das eine häufig aufs andere ab, und so wird uns kaum ein Detail aus Jönssons Leben erspart und wahrscheinlich noch das eine oder andere dazu erfunden, ohne daß man davon etwas hätte. Dieser enzyklopädische Pointillismus trägt auch dazu bei, daß die Zusammenhänge des politischen Geschehens nicht immer transparent werden und von manchen großen Gestalten jener Zeit bloß eine Art Steckbrief geliefert wird.
Man erfährt also viel Wissenswertes und bleibt doch wissenshungrig. Niemand muß die intellektuelle Schärfe und die synthetische Kraft eines Friedrich Schiller als Maßstab akzeptieren, dessen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges nach dem überbordenden schwedischen Jubiläumsbankett zu lesen reines Labsal ist. Aber auch dem Vergleich mit Veronica Wedgwoods Geschichte dieser Epoche hält das Werk insgesamt nicht stand, selbst wenn man einrechnet, daß es von der Anlage, ja vom Genre her sich deutlich unterscheidet. Allerdings überbietet Englunds Darstellung in einigen sehr gelungenen Passagen das, was andere auch schon versucht haben.
Mit Wehmut blickt man auf die Lektüre zurück. Es fehlt der Geschichte Englunds das, was sie erst interessant machen könnte. Der Autor sucht nirgends, sondern findet ununterbrochen und steckt alles zwischen zwei Buchdeckel. Es ist ein Buch, das zuviel weiß. Im Kriminalroman geht das nicht gut aus - und hier leider auch nicht. MICHAEL JEISMANN
Peter Englund: "Die Verwüstung Deutschlands". Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 712 S., Abb., geb., 68,- DM.
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Peter Englund kennt alle Antworten zum Dreißigjährigen Krieg
Was für ein Buch! denkt der Leser nach fünfzig Seiten. Noch ein wenig ungläubig, aber schon voller Bewunderung und mit Herzklopfen ist er bereit, der Epiphanie der stets unerreichbaren "histoire totale" beizuwohnen, von der nicht nur die Schule der Annales träumte. Sechshundert Seiten später aber kann derselbe Leser nur noch tief seufzen: Was für ein Buch.
Und der Leser als Rezensent muß noch ein weiteres Mal seufzen. Denn es ist gar nicht so leicht zu erklären, wie diese Geschichte des Dreißigjährigen Krieges die Erwartungen so hoch spannen kann und warum sie am Ende nicht nur diese Erwartungen nicht erfüllt, was sehr verzeihlich wäre, sondern sie in Gleichgültigkeit umschlagen läßt. Das Buch ist mit mehr als siebenhundert Seiten nicht nur dick, sondern es steht tatsächlich sehr viel darin. Freilich nicht zuerst und nicht vor allem über die "Zerstörung Deutschlands", wie der deutsche Titel dem Publikum verheißt.
Sollte man sagen, wovon in dem Buch die Rede ist, fällt es leichter, die Ingredienzien aufzulisten, als die Frage zu benennen, die es zu beantworten sucht. Das Buch ist also erstens eine Biographie des schwedischen Festungsbaumeisters Eric Jönsson, des späteren Freiherrn Dahlberg, der von 1625 bis 1703 lebte und ein ebenso ausführliches wie aufschlußreiches Tagebuch hinterlassen hat. Dann ist es ein Buch über Festungsbau und Kriegswesen. Es enthält ferner Abhandlungen zu folgenden Themen: Geschlechterbeziehungen in der Frühen Neuzeit, Weltanschauung und Religion, Kleiderordnung, Verkehrs- und Postwesen, Mode und Medizin. Auch berücksichtigt wird die Sozial- und Verfassungsgeschichte Schwedens, eingeschlossen die frühe schwedische Kolonialisierung in Amerika. Damit ist die Themenliste längst noch nicht erschöpft. Es gibt in dem Buch wahrscheinlich alles, was es gab - oder doch alles, was einem Autor einfallen könnte.
Man erfährt, daß das Durchschnittsalter der Soldaten im Dreißigjährigen Krieg bei etwa fünfundzwanzig Jahren lag. Man sieht den Menschen des siebzehnten Jahrhunderts vor sich, der sich so stark in Leidenschaften verliert, daß ihm, so der Autor, die Vernunft abhanden zu kommen droht. Dann liest man mit Vergnügen und wirklichem Gewinn ein scharf gestochenes Porträt der jungen schwedischen Königin Christina. Man könnte so fortfahren und dürfte dabei nicht unterschlagen, daß der Autor sich sehr bemüht hat, auf jedem dieser Gebiete auf der Höhe der Forschung zu sein. Vor allem hätte man neben den grandiosen ersten fünfzig Seiten auch die Lust und Leidenschaft des Historikers und Journalisten Englund für die Erscheinungsformen des frühneuzeitlichen Krieges hervorzuheben: Hier findet sein erzählerisches Talent einen würdigen Gegenstand.
Woher also rührt die Unzufriedenheit des Lesers, woher die im Verlauf der Lektüre wachsende Mißstimmung? Das Buch weckt nicht nur die Erwartung, sondern erhebt durch seine Form auch den Anspruch, Erzählung im literarischen Sinn und historische Wissenschaft zu verschmelzen - und genau dies ist nicht gelungen. Wie bei einem Doppelwhopper ist hier Wissensschicht auf Biographiestückchen und Biographiestückchen auf Wissensschicht gelegt. Kaum freut man sich, daß der Autor nach langen Kriegsschilderungen und allerlei Exkursen den biographischen Faden Jönssons wiederaufnimmt, da fällt er sich selbst ins Wort und belehrt den Leser über einen neuen Gegenstand. Da er alles will, läßt Englund seinen Helden immer wieder im Stich.
Er will offenbar immer mehr sagen, als seine Hauptfigur sagen konnte, und zugleich doch ganz in deren Haut schlüpfen und das Selbstverständnis des Zeitgenossen nachbilden. Beides miteinander zu verbinden ist eine häufige Herausforderung an den Historiker. In diesem Fall wurde sie aber gar nicht erst angenommen, und es bleibt bei einer merkwürdigen Schizophrenie. Deutlicher Hinweis darauf sind bei diesem sehr flüssig geschriebenen Buch Stilbrüche und Plumpheiten, die immer dann auftauchen, wenn der Autor vom Enzyklopädischen zum Biographischen wechselt. Es färbt auch das eine häufig aufs andere ab, und so wird uns kaum ein Detail aus Jönssons Leben erspart und wahrscheinlich noch das eine oder andere dazu erfunden, ohne daß man davon etwas hätte. Dieser enzyklopädische Pointillismus trägt auch dazu bei, daß die Zusammenhänge des politischen Geschehens nicht immer transparent werden und von manchen großen Gestalten jener Zeit bloß eine Art Steckbrief geliefert wird.
Man erfährt also viel Wissenswertes und bleibt doch wissenshungrig. Niemand muß die intellektuelle Schärfe und die synthetische Kraft eines Friedrich Schiller als Maßstab akzeptieren, dessen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges nach dem überbordenden schwedischen Jubiläumsbankett zu lesen reines Labsal ist. Aber auch dem Vergleich mit Veronica Wedgwoods Geschichte dieser Epoche hält das Werk insgesamt nicht stand, selbst wenn man einrechnet, daß es von der Anlage, ja vom Genre her sich deutlich unterscheidet. Allerdings überbietet Englunds Darstellung in einigen sehr gelungenen Passagen das, was andere auch schon versucht haben.
Mit Wehmut blickt man auf die Lektüre zurück. Es fehlt der Geschichte Englunds das, was sie erst interessant machen könnte. Der Autor sucht nirgends, sondern findet ununterbrochen und steckt alles zwischen zwei Buchdeckel. Es ist ein Buch, das zuviel weiß. Im Kriminalroman geht das nicht gut aus - und hier leider auch nicht. MICHAEL JEISMANN
Peter Englund: "Die Verwüstung Deutschlands". Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 712 S., Abb., geb., 68,- DM.
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