Was ist Heimat, was bedeutet Fremde, wie wird etwas Vertrautes fremd und das Fremde vertraut?Davon erzählt dieser hinreißende Roman und davon, wie eine junge Frau zwischen den Kulturen die eigene Identität findet.Acht Jahre ist Vi, als sie mit der Mutter und den drei großen Brüdern aus Vietnam flieht, in einem Flüchtlingslager in Malaysia landet und schließlich in Kanada neu beginnt. Erst als erwachsene Frau kehrt sie eine Weile nach Vietnam zurück, in ein Land, das ihr nach so vielen Jahren fremd ist. Umso stärker ist die Gegenwart der Erinnerungen: an die abgöttische Liebe der Mutter zu ihrem Mann, den sie im entscheidenden Moment zurücklässt, um die Kinder zu retten. An Ha, deren kluge und elegante Freundin, die Vi ermunterte, sich aus der Tradition zu lösen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Und an der Geschmack der Sehnsucht, der in all den liebevoll zubereiteten Mahlzeiten der Mutter immer präsent war.Von dieser Sehnsucht erzählt Kim Thúy und den vielen Formen der Liebe, poetisch und anschaulich: "Mein Vorname Vi kündet von der Absicht meiner Eltern, 'die Kleinste zu beschützen'. Wörtlich übersetzt heiße ich 'winzige Kostbarkeit'" - und eine Kostbarkeit ist dieser Roman der Erinnerung an eine fremde Heimat, an Flucht und Ankunft, an Familie und Tradition. Und an die Freiheit, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2017In roten Kunstlederstiefeln
Kim Thúys vietnamesische Flüchtlingsgeschichten
Das vietnamesische Mädchen Bao Vi, was übersetzt "winzige Kostbarkeit" heißt, ist noch nicht lange im neuen Land, nach lebensgefährlicher Flucht mit Mutter und Geschwistern. In Kanada, heißt es, herrsche zwölf Monate lang Kälte. Die Mutter hat vorgebeugt, schon in Malaysia, einer Zwischenstation. Die dort erworbenen roten Kunstlederstiefel mit dem schiefen rechten Absatz tun ihren Dienst. Bao Vi denkt an das Mädchen, dem die Stiefel vorher gehört hatten. Es wird zur imaginären Freundin, die sie ermutigt, "in einer völlig neuen Welt, deren weite Horizonte mich erschreckten, einen Fuß vor den anderen zu setzen".
Solche sofort greifbaren und eindrücklichen Beschreibungen sind typisch für Kim Thúy, die selbst mit zehn Jahren Saigon verließ und heute im kanadischen Montreal lebt. Erstmals thematisierte sie Flucht- und Exilerfahrungen 2010 in ihrem erfolgreichen Debüt "Der Klang der Fremde", dem 2014 "Der Geschmack der Sehnsucht" folgte, beide auch deshalb lesenswert, weil sie in poetischen Vignetten die divergenten Bilder einzufangen versuchen, "die hinter geschlossenen Lidern weiter leuchten", oft irritierend verstörend, bisweilen sogar komisch, weil vieles einfach nicht einzuordnen ist. Kim Thúy erzählt davon, wie es ist, wenn einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird; wie die Fremde aber auch die Möglichkeit bietet (oder erzwingt), sich neu zu erfinden. Selbst hat sie als Übersetzerin und Rechtsanwältin gearbeitet. Sie war Gastronomin, Kritikerin, Moderatorin. Ihr neuer Roman heißt "Die vielen Namen der Liebe", mit Anklängen an bereits Erzähltes, aber mehr fokussiert auf die spätere Lebensphase.
Erzählt wird aus der Sicht von Bao Vi, die ihren Wurzeln in Vietnam nachspürt, wo die Familie einst Besitz hatte, wo der Vater die Mutter anbetete und eines Tages verschwand, weil er zu stolz war, um sich von ihr helfen zu lassen. Darüber verpasste er die Welle der "boat people". All das erfährt Bao Vi erst Jahre später, als sie selbst wieder in Hanoi arbeitet und einen Mann liebt, der seinerseits verschwand.
Der dritte Roman ist sprunghafter als die Vorgänger. Aber immer, wenn man den Verdacht hat, eine Geschichte werde nicht auserzählt, wird der Faden wieder aufgenommen. Nichts scheint vorhersehbar. Und genauso lässt auch Bao Vi sich auf die Wechsel ein. Ganz nebenbei erfährt man viel über ihre erste Zeit in Kanada. Die Mutter hat ein offenes Haus, für die sogenannten FBO, die "fresh off the boat", die gerade angekommen waren. Hier lernt Vi auch Tran kennen, mit dem sie zum Entsetzen der Familien fast wie in einer Wohngemeinschaft lebt und von dem sie sich trennt, als auch er sie zu selbstbestimmt findet.
Das Verlassen der Heimat geht einher mit der Loslösung von Traditionen. Sie glimmen auf wie Märchenstoff, wenn erzählt wird, wie der Vater die Mutter erstmals beim Zubereiten des Morgenkaffees sieht. Kim Thúy erzählt mit sinnlichem Gespür. Sie lässt Originale auferstehen wie den Großvater, der alle Bücher im Haus über Nacht verbrennen lässt, um einer Anzeige zuvorzukommen. Innerhalb dieser Kulturen und Schicksale entspinnt sich das abenteuerliche Leben ihrer Hauptfigur, und zwar nicht aufgrund irgendeines Lebensentwurfes, sondern vornehmlich durch die Art der Wahrnehmung feinster Zwischentöne und das Reagieren auf eine Welt, die alles sein kann. In knappen, prägnanten Bildern pulsierender Lebendigkeit wird sie erfasst.
ANJA HIRSCH
Kim Thúy: "Die vielen Namen der Liebe". Roman.
Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. Kunstmann Verlag,
München 2017. 139 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kim Thúys vietnamesische Flüchtlingsgeschichten
Das vietnamesische Mädchen Bao Vi, was übersetzt "winzige Kostbarkeit" heißt, ist noch nicht lange im neuen Land, nach lebensgefährlicher Flucht mit Mutter und Geschwistern. In Kanada, heißt es, herrsche zwölf Monate lang Kälte. Die Mutter hat vorgebeugt, schon in Malaysia, einer Zwischenstation. Die dort erworbenen roten Kunstlederstiefel mit dem schiefen rechten Absatz tun ihren Dienst. Bao Vi denkt an das Mädchen, dem die Stiefel vorher gehört hatten. Es wird zur imaginären Freundin, die sie ermutigt, "in einer völlig neuen Welt, deren weite Horizonte mich erschreckten, einen Fuß vor den anderen zu setzen".
Solche sofort greifbaren und eindrücklichen Beschreibungen sind typisch für Kim Thúy, die selbst mit zehn Jahren Saigon verließ und heute im kanadischen Montreal lebt. Erstmals thematisierte sie Flucht- und Exilerfahrungen 2010 in ihrem erfolgreichen Debüt "Der Klang der Fremde", dem 2014 "Der Geschmack der Sehnsucht" folgte, beide auch deshalb lesenswert, weil sie in poetischen Vignetten die divergenten Bilder einzufangen versuchen, "die hinter geschlossenen Lidern weiter leuchten", oft irritierend verstörend, bisweilen sogar komisch, weil vieles einfach nicht einzuordnen ist. Kim Thúy erzählt davon, wie es ist, wenn einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird; wie die Fremde aber auch die Möglichkeit bietet (oder erzwingt), sich neu zu erfinden. Selbst hat sie als Übersetzerin und Rechtsanwältin gearbeitet. Sie war Gastronomin, Kritikerin, Moderatorin. Ihr neuer Roman heißt "Die vielen Namen der Liebe", mit Anklängen an bereits Erzähltes, aber mehr fokussiert auf die spätere Lebensphase.
Erzählt wird aus der Sicht von Bao Vi, die ihren Wurzeln in Vietnam nachspürt, wo die Familie einst Besitz hatte, wo der Vater die Mutter anbetete und eines Tages verschwand, weil er zu stolz war, um sich von ihr helfen zu lassen. Darüber verpasste er die Welle der "boat people". All das erfährt Bao Vi erst Jahre später, als sie selbst wieder in Hanoi arbeitet und einen Mann liebt, der seinerseits verschwand.
Der dritte Roman ist sprunghafter als die Vorgänger. Aber immer, wenn man den Verdacht hat, eine Geschichte werde nicht auserzählt, wird der Faden wieder aufgenommen. Nichts scheint vorhersehbar. Und genauso lässt auch Bao Vi sich auf die Wechsel ein. Ganz nebenbei erfährt man viel über ihre erste Zeit in Kanada. Die Mutter hat ein offenes Haus, für die sogenannten FBO, die "fresh off the boat", die gerade angekommen waren. Hier lernt Vi auch Tran kennen, mit dem sie zum Entsetzen der Familien fast wie in einer Wohngemeinschaft lebt und von dem sie sich trennt, als auch er sie zu selbstbestimmt findet.
Das Verlassen der Heimat geht einher mit der Loslösung von Traditionen. Sie glimmen auf wie Märchenstoff, wenn erzählt wird, wie der Vater die Mutter erstmals beim Zubereiten des Morgenkaffees sieht. Kim Thúy erzählt mit sinnlichem Gespür. Sie lässt Originale auferstehen wie den Großvater, der alle Bücher im Haus über Nacht verbrennen lässt, um einer Anzeige zuvorzukommen. Innerhalb dieser Kulturen und Schicksale entspinnt sich das abenteuerliche Leben ihrer Hauptfigur, und zwar nicht aufgrund irgendeines Lebensentwurfes, sondern vornehmlich durch die Art der Wahrnehmung feinster Zwischentöne und das Reagieren auf eine Welt, die alles sein kann. In knappen, prägnanten Bildern pulsierender Lebendigkeit wird sie erfasst.
ANJA HIRSCH
Kim Thúy: "Die vielen Namen der Liebe". Roman.
Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. Kunstmann Verlag,
München 2017. 139 S., geb., 18,- [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2019NEUE TASCHENBÜCHER
Zwischen Welten
und Werten
Übersetzt heißt ihr Vorname „winzige Kostbarkeit“. Die Vietnamesin Bao Vi wird diesem Namen jedoch nicht gerecht: Sie wächst zu überdurchschnittlicher Größe heran. Auch sonst enttäuscht sie die Erwartungen ihrer Mutter und Brüder, mit denen sie in den Siebzigerjahren als Boat People geflüchtet und in Kanada gelandet war. Sie nimmt den westlichen Lebensstil an, lebt ohne Trauschein ihre Liebe zu einem Mann aus der vietnamesischen Exilgemeinde aus und wird schließlich auch ihm zu selbständig. Die kanadische Schriftstellerin Kim Thúy, 1968 in Saigon geboren, lässt sich in ihrem dritten Roman „Die vielen Namen der Liebe“ einmal mehr von ihrer Lebensgeschichte inspirieren. Sie hat einen eigenen Ton dafür gefunden, vom Fortgehen und Ankommen zu erzählen, springt in kurzen Abschnitten von einem Ereignis zum nächsten, in einer klaren und doch poetisch aufgeladenen Sprache. Die Leerstellen zwischen den teils schmerzvollen Erinnerungen können – ähnlich wie bei Marguerite Duras – die Leser nicht alle selbst füllen. Doch sie spüren die Zweifel, die Fragen einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst, zwischen Welten und Werten. ANTJE WEBER
Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. dtv, München 2019. 137 Seiten, 10,90 Euro.
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Zwischen Welten
und Werten
Übersetzt heißt ihr Vorname „winzige Kostbarkeit“. Die Vietnamesin Bao Vi wird diesem Namen jedoch nicht gerecht: Sie wächst zu überdurchschnittlicher Größe heran. Auch sonst enttäuscht sie die Erwartungen ihrer Mutter und Brüder, mit denen sie in den Siebzigerjahren als Boat People geflüchtet und in Kanada gelandet war. Sie nimmt den westlichen Lebensstil an, lebt ohne Trauschein ihre Liebe zu einem Mann aus der vietnamesischen Exilgemeinde aus und wird schließlich auch ihm zu selbständig. Die kanadische Schriftstellerin Kim Thúy, 1968 in Saigon geboren, lässt sich in ihrem dritten Roman „Die vielen Namen der Liebe“ einmal mehr von ihrer Lebensgeschichte inspirieren. Sie hat einen eigenen Ton dafür gefunden, vom Fortgehen und Ankommen zu erzählen, springt in kurzen Abschnitten von einem Ereignis zum nächsten, in einer klaren und doch poetisch aufgeladenen Sprache. Die Leerstellen zwischen den teils schmerzvollen Erinnerungen können – ähnlich wie bei Marguerite Duras – die Leser nicht alle selbst füllen. Doch sie spüren die Zweifel, die Fragen einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst, zwischen Welten und Werten. ANTJE WEBER
Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. dtv, München 2019. 137 Seiten, 10,90 Euro.
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